Название | Autopsie |
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Автор произведения | Viktor Paskow |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783943941555 |
Ich trommle mit den Fäusten gegen die Tür. Ich trete eine Zeit lang dagegen.
Am Ende macht mir Christoph schwungvoll auf. Sein langes, blondes Haar liegt unordentlich auf Schultern und Stirn verstreut. Seine blauen, glasigen Augen glänzen darunter wie Meißner Porzellan. Altmodische Hosenträger, die sich über seinen dicken, nackten Bauch spannen, der an eine sächsische Bierkuh erinnert, hindern diesen daran, zu platzen und sich auf den schmutzigen Boden zu ergießen.
»Hilfe«, artikuliert er monoton. »Die Bulgaren kommen.«
Ich schiebe ihn beiseite und betrete die Wohnung durch den langen Korridor, der mit Haufen von Noten, alten Schallplatten, staubigen Plakaten und abgewetzten Schuhen aus den Dreißigern vollgestellt ist.
Christoph schlurft mir hinterher und murmelt etwas in Richtung der unzivilisierten Kakerlaken aus Südeuropa, die das Deutsche Reich überschwemmt haben und die fleißigen arischen Musiker um ihr Brot bringen, die nie Wort halten und nicht wissen, wie man die elementarsten Errungenschaften des Fortschritts nutzt, zu denen übrigens auch das Telefon gehöre.
Ich betrete das Wohnzimmer mit dem krachenden Grammophon und setze mich auf den Holzstuhl neben dem Bücherregal. Eigentlich sind es grobe Regalbretter, die sich auf mittelalterliche Nägel stützen, auf denen pedantisch ungefähr zweitausend Bücher angeordnet sind, die chronologisch die geistige Entwicklung Christophs nachzeichnen: Ganz unten Fenimore Cooper und Karl May. Darüber Krimis und Thriller von Conan Doyle bis Forsyth. Noch weiter oben deutsche Literatur aus der Epoche der Romantik. Hauptsächlich Lyrik und viel Goethe. Es folgen Fichte, Kant, Hegel. Schopenhauer. Nietzsche. Heidegger, Jaspers, die Frankfurter Schule, die Manns, Hesse, der ganze Böll, der ganze Grass, alle möglichen, Beckett, Genet, Sartre, Miller, Bukowski, ein Haufen abgedrehter Amerikaner, und auf den letzten zwei Regalbrettern – Christophs Tagebücher, die er seit zehn Jahren führt.
Von dem Tag an, an dem Sieglinde seine Seele zur Explosion brachte und sich mit seinem besten Freund Kim aus dem Staub machte.
Christoph holt unter dem Tisch eine halbleere Flasche »Jim Beam« hervor, knallt sie vor mich hin und geht in die Küche, um noch größere Unordnung zu stiften, während er Ordnung macht.
... Die Spannung lässt allmählich nach. Mein Körper wird leicht, und ich fühle mich geborgen in diesem finsteren und chaotischen Zimmer, in dem sich nichts verändert hat, seit Christoph vor Jahren nach der Geschichte mit Sieglinde eingezogen ist.
Die Wände sind immer noch so schmutzig und abgeblättert, mit großen, gelben Flecken von der Feuchtigkeit an der Decke. Das Sofa – ein vorsintflutliches, aus Plüsch bestehendes und ausgeweidetes Ungeheuer – lehnt nach Altherrenmanier an der gegenüberliegenden Wand. Davor kauern ein altmodisches Tischchen mit Löwenfüßen und zwei Sessel vom Trödel, deren Federn sich einen Weg durch die abgewetzten Sitzflächen gebahnt haben. Der Teppich, von irgendeinem Dachboden geklaut, ist bis auf die Kettfäden ausgedünnt, seine Farbe kann man nicht mehr identifizieren. Der rötliche Rumpf von Christophs Kontrabass lehnt in der Ecke und ist der einzig wertvolle Gegenstand in diesem nach Blut, Schweiß und Tränen riechenden Zimmer. Davor der Notenständer mit Etüden und Übungen. Das Grammophon, die Stereoanlage, ein Haufen Schallplatten und ein Telefon. Ein kleiner Balkon hinter meinem Rücken, durch dessen Geländer eine traurige Berliner Birke ihre Zweige steckt. Ein Dutzend leerer Bierflaschen wälzt sich im jahrzehntealten Staub neben dem Sofa.
Die Höhle meines genialen Freundes Christoph.
... Es gab Jahre, in denen sein Gesicht permanent auf den Titelseiten der renommiertesten europäischen und amerikanischen Jazzmagazine prangte. Ich kann mich nicht erinnern, wie viele Male er die Charts von »Down Beat« anführte. Während seiner endlosen Tourneen rund um den Erdball bekam ich ihn monatelang nicht zu Gesicht. Er spielte mit den größten Musikern der Welt: Albert Mangelsdorff, John Coltrane, Charlie Mariano, Charles Mingus, Miles Davis ...
Vor vielen, vielen Jahren, während einer Session – ich denke, es war in Amsterdam – trafen wir uns auf der Bühne und fanden sofort aneinander Gefallen. Ich war begeistert von seiner Art, wie er dem erschütterten Instrument mit seinen groben, kurzen Metzgerfingern rasende Akkorde und berauschende Passagen entriss, den Kopf in den Nacken geworfen, mit langen Haaren, aus denen der Schweiß in Strömen floss, geschlossenen Augen und exaltiertem Gesichtsausdruck. Ich hatte bis dahin noch nie einen Bassisten mit so einem satanischen harmonischen Denken gesehen und gehört. Christoph schlängelte sich zwischen den Harmonien hindurch und fand den richtigen Ausgang mit der Schnelligkeit und Genauigkeit einer blinden Natter, die sich zwischen dichtem Dornengestrüpp auf ihrer wahnsinnigen Flucht vor ihren Verfolgern pfeilschnell fortbewegt. Seine Finger sausten über das ganze dicke und riesige Griffbrett wie paranoide Tausendfüßler, und um mit seinem Tempo und seinen Einfällen mithalten zu können, musste ich das Atemvolumen einer Schiffssirene und auch deren Schalldruck haben.
Nach dem Gig landeten wir in der Bar irgendeines Hotels, die wir mit Wodka abgefüllt und den Nasen voller Koks in Begleitung zweier Huren verließen. Unterwegs kamen uns, Gott sei Dank, die Huren abhanden. Wir verliefen uns, hingen bis zum Morgen auf einer Brücke über eine der Grachten herum und spuckten ins trübe Wasser.
»Bulgare!«, lallte Christoph mit geschwollener Zunge. »Wir müssen ein Duo aufziehen. Hingehen und deutsche Weihnachtslieder auf dem Friedhof der sibirischen Schamanen spielen. Wo ist der Friedhof der sibirischen Schamanen?«
»Geradeaus und dann rechts«, erwiderte ich. »Hinter dem räudigen Haus mit den pickligen Säulen da drüben.«
Hinter dem räudigen Haus jedoch war kein Friedhof sibirischer Schamanen. Da war eine weitere Brücke und eine weitere Gracht.
»Die Schamanen sind verklungen«, konstatierte Christoph. »Sie sind verhallt. Sibirien existiert nicht. Fuck it!«
»Sibirien ist kein geographischer Begriff«, stimmte ich zu, während ich schwankend neben ihm stand. »Sibirien ist ein Geisteszustand.«
»Ganz genau! Sein Geist bibbert vor Kälte. Wir müssen ein Iglu für ihn finden. Ein Iglu mit heißen sibirischen Frauen, sibirischem Bourbon und sibirischem Cool Jazz. Der Jazz in Sibirien ist doch kalt?«
»Kälter als der Hintern eines Cherubs. Werden wir wieder miteinander spielen?«
Christoph blieb stehen, legte seine Hände auf meine Schultern, starrte mir mit seinem scharfen, blauen Blick in die Augen und erklärte feierlich:
»Das ganze Leben werden wir miteinander spielen, Bulgare. Bis wir für immer ausgespielt haben. Wie die sibirischen Schamanen.«
Christoph hielt sein Versprechen.
Nach jener weit zurückliegenden Amsterdamer Nacht spielten wir noch unzählige Male miteinander. In Jazzkellern, Pianobars, Clubs, bei Matineen und auf großen Bühnen – immer, wenn ich keine Vorstellung und Proben im Theater und er ein Engagement für mich hatte. Wir passten ideal zueinander. Sehr schnell gewöhnte ich mich an sein musikalisches Denken oder eher an das Vorhandensein eines phantastischen musikalischen Instinkts und die Absenz jeglichen Denkens.
Das waren glückliche Zeiten ... Es regnete Engagements vom Himmel, und alle Musiker waren Brüder. Es gab Tourneen durch Europa, die Staaten und Japan. Die Berliner Mauer war soeben gefallen, und in Prenzlauer Berg, dem Künstlerviertel Ostberlins, brodelte in allen Kneipen und an allen Ecken und Enden ein stürmisches Nachtleben. Die Invasion von Künstlern aus dem Westen und aus Amerika hatte noch nicht begonnen. Gelder wurden aufgetrieben. Der Jazz triumphierte in allen Sektoren der riesigen Stadt.
Dann tauchte Sieglinde wie ein Rassepferd aus der persischen Mythologie auf.
Sieglinde war großgewachsen, mit langem, glattem, kastanienbraunem Haar bis zur Taille, grauen baltischen Augen, slawischen Wangenknochen und Alabasterhaut. Ihre Nase war klassisch gerade, die Lippen voll, sinnlich und fein gezeichnet, das Kinn lief sanft spitz zu wie das einer Fee in einer Märchen-illustration. Von ihrem runden Hintern, der straff war wie die Membran einer kleinen Trommel, ergossen sich die beiden schlanken Ströme ihrer herrlichen Schenkel, die so verführerisch waren, dass auch ihre weiten,