»Was ist passiert?«, unterbrach ich ihn. »Gibt es ein Problem?«
»Nein. Eigentlich ... ja. Harry die Buchtel ist gestorben.«
»Was?!«, schrie ich und klammerte mich an den Hörer. »Was redest du da? Wer?«
»Harry. Die Buchtel. Gestern um die Mittagszeit. Auf der Vitinja-Chaussee. Ein Unfall mit dem Jaguar. Noch an Ort und Stelle.«
»Ist das sicher? Mein Gott ... Irrtum ausgeschlossen?«
»Ganz sicher. Benny und ich mussten ihn identifizieren. Du kannst dir nicht vorstellen, was für ein Anblick ...« Seine Stimme begann zu zittern. »Die Beerdigung ist morgen Nachmittag«, fuhr er fort, als er sich wieder im Griff hatte. »Heute Abend versammeln sich die Kollegen in der Piano Bar. Um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Ich werde ein Saxophon für dich auftreiben.« Er legte auf.
... Gegen zehn Uhr abends versammelten wir uns, alle alten Kollegen, ihre Frauen, Freundinnen und der engste Freundeskreis in der Piano Bar in der Rakovski-Straße.
Der Leberfleck hatte ein Foto von Harry gefunden, sie hatten es vergrößert und in einen Rahmen mit Trauerflor im linken unteren Eck gesteckt. Jetzt sah uns Harry vom Klavierschemel aus an, von wo aus er uns nur fünf Abende zuvor mit solch lebensfrohen Stücken und brillanten Passagen begeistert hatte.
Auf dem Bild war er ungefähr dreißig, grinsend, mit runden, schelmischen Augen und ohne den Kehlsack eines Pelikans. So wie ich mich immer an ihn erinnern würde.
Das Unglück war um ein Uhr mittags passiert.
(Genau zu dieser Zeit aßen Ina und ich zwischen den Laken Spaghetti Bolognese zu Mittag, wir verteilten sie mit Fingern auf unseren nackten Bäuchen und saugten sie von dort auf, wobei wir zwischendurch lange Schlucke aus der Flasche Merlot nahmen.)
Harry raste mit hundertsechzig Sachen in seinem geliebten Jaguar über die Vitinja-Chaussee in Sofia.
Der Jaguar war sein ganzer Stolz. Modell einundsiebzig, acht Zylinder, grau wie eine Katze, mit eleganten Ledersitzen und einem Armaturenbrett aus Mahagoni. Die Buchtel musste jahrelang zwanzig Stunden täglich in den Bars von Dänemark auf das Klavier einschlagen, um ihn sich leisten zu können.
Er war sternhagelvoll. In der Gerichtsmedizin stellten sie fest, dass er dreieinhalb Promille im Blut hatte. In der ersten Kurve nach dem Tunnel kam ihm ein LKW entgegen. In der Aussage des Fahrers steht, dass er mit den erlaubten fünfzig Kilometern in der Stunde unterwegs gewesen war. Die Polizei stellte dasselbe fest. Anfangs sah er, wie Harry mit enormer Geschwindigkeit im Zickzack auf ihn zufuhr, und als der unglückliche Mensch auf die Bremse des LKWs trat und anzuhalten versuchte, hielt Harry mit seinem herrlichen Oldtimer genau auf die riesige Maschine zu und bohrte sich frontal in sie hinein. »Als wäre es Absicht gewesen«, wiederholte der Fahrer, der noch mit zwei gebrochenen Rippen und Gehirnerschütterung im Krankenhaus »Pirogov« lag.
Als wäre es Absicht gewesen.
Was wussten wir denn schon über die Buchtel während dieser langen Wanderjahre, in denen er in Dänemark und ganz Europa von Stadt zu Stadt und von Bar zu Bar gezogen war?
Manchmal schickte er seinen Freunden Postkarten, immer mit demselben Motiv – dem Königsschloss in Kopenhagen – und immer mit demselben Text: »Mir geht es gut. Hier ist es super, aber es wird sehr früh dunkel. Ich habe ein neues Engagement, die Kohle stimmt auch. Wann kommst du mich besuchen?«
Ich schickte meinen Freunden ebenfalls solche Karten mit solchen Texten. Ich lud sie ebenfalls zu mir ein. Und trotzdem besuchte ich die Buchtel nicht in Kopenhagen, weil auch bei meinem Engagement die Kohle stimmte. Das verfluchte Geld, das auszugeben du in Deutschland und Dänemark keine Zeit hast, weil morgens die fünfstündige Probe beginnt, du am Nachmittag Soundcheck hast, von fünf bis sieben arrangierst und neue Stücke repetierst, bis zehn bei der Vorstellung bist und von elf bis fünf am Morgen wegen der verdammten Kohle in einer Bar spielst. Denn wenn du es nicht tust, sind hundert gierige schwarze, gelbe und weiße Musikerfratzen bereit, dich zu verdrängen, sich auf deinen Stuhl im Orchester zu setzen, dich von deinem Platz auf dem Podium zu schubsen, dir den Vertrag mit der Plattenfirma mitsamt der Hand abzubeißen, und dir bleibt nur die Unterführung der U-Bahn oder, wenn du besonders gut bist, der Eingang der Deutschen Bank.
Als wäre es Absicht gewesen ...
Wie soll man unter diesen Voraussetzungen eine Frau finden, die verrückt genug ist, dieses höllische Tempo mitzugehen? Kinder mit dir zu haben? Sich mit dir in die prestigeträchtige Liste der Mittelklasse einzutragen?
Die Buchtel hatte keine Klasse, keine Frau, keine Kinder. Er besaß nur diesen Jaguar, der ihn umgebracht hatte, plus einen Haufen Anlagen, Mikrophone, Synthesizer und alle mögliche Technik in Dänemark, mit der jetzt weiß Gott was geschehen würde.
Vielleicht hätte er auf alles pfeifen, nach Sofia zurückkehren und Taxi fahren sollen wie Benny der Flötist?
Oder ein Tonstudio aufmachen wie der Leberfleck, um Turbofolk zu produzieren?
Oder den Jaguar und die Anlagen verkaufen, sich einen Pick-up zulegen, eine Kneipe im Viertel aufmachen und durch die Dörfer fahren, um Fleisch, Eier und Gemüse einzukaufen wie Sergi das Skelett, dieser phänomenale Flügelhornist?
Vielleicht hätte er zurückkommen und Verkäufer bei einer Firma für Pfannen und Töpfe werden sollen, ungefähr so wie Ina?
Oder – am wahrscheinlichsten – sich in den Kneipen mit Bier und Ouzo volllaufen lassen und darauf warten, dass ihn irgendeine Missgeburt mit dickem Hals einlädt, auf dem Geburtstag seiner Mätresse zu spielen, so wie Josi?
Was sind das für perverse Zeiten, zum Teufel, die solche Wahnsinnstalente zu Verfall, Demütigung und im Endeffekt zum Tode verurteilen, während allerlei minderwertige Typen – Könige, Prinzen, Außenminister, Schurken, Diebe, Mörder, selbstherrliche Taugenichtse und vollgefressene Analphabeten, die dem vor Müdigkeit abgestumpften Volk ihre Parolen für ein nichtexistentes Europa vorkrähen – das Sahnehäubchen der Gesellschaft sind?
Als wäre es Absicht gewesen?
Soll die Nacht kommen. Soll sie sich diese Welt holen.
Ina saß in der Ecke des Séparées neben mir, rauchte nervös und nahm viele kleine Schlucke aus ihrem Glas Whisky, der zumindest an diesem Abend keine Fälschung war, weil wir die Getränke selbst mitgebracht hatten.
Sie trug ein strenges, dunkelrotes Kostüm, eine schwarze Seidenbluse mit schlichtem Kragen und schwarze Seidenstrümpfe. Alle warteten darauf, dass der Doyen Stefan aufstand und einige Worte über Harry sagte. Er saß neben seiner Frau, nahm finster einen Schluck von seinem Getränk, und sein Adamsapfel bewegte sich gequält auf und ab. Irgendwann griff er nach den Zigaretten von Dančo dem Posaunisten, aber seine Frau – eine ergraute Heilige, die stoisch vier Jahrzehnte extremen Lebens mit einem Musiker ausgehalten hatte – legte taktisch klug eine Hand auf die Schachtel. Stefan hatte zwei Jahre zuvor einen schweren Infarkt gehabt, und die Ärzte hatten ihm das Trinken, Rauchen und Spielen verboten, was er mit höchster Verachtung und null Aufmerksamkeit aufnahm.
Er seufzte, stand auf und klopfte mit dem Löffel gegen sein Glas. Das Getuschel und die Gespräche hörten auf.
»Jungs, ihr alle seid meine Kinder«, begann er müde. »Bei jedem Typen war ich bei seinem ersten Konzert dabei, weil ich wusste, dass eines Tages aus euch Musiker schlüpfen würden, dass wir Kollegen werden und gemeinsam dort hinaufsteigen würden.« Er nickte in Richtung Podium und dachte nach. Es trat eine Pause ein. »... auf dieses verfluchte Podium«, fuhr Stefan fort, schüttelte den Kopf und eine weiße Locke fiel ihm in die Stirn, »das zum Guten wie zum Bösen nur für uns bestimmt ist. Und weil ihr mich ›Papst‹ nennt, will ich euch sagen, dass es für jeden Vater das Schrecklichste ist ... das Schrecklichste, verdammt noch mal, wenn sein Kind vor ihm diese Welt verlässt. Harry war gut. Als mich die Pumpe im Stich ließ, schickte er mir