Die letzte Blüte Roms. Peter Heather

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Название Die letzte Blüte Roms
Автор произведения Peter Heather
Жанр История
Серия
Издательство История
Год выпуска 0
isbn 9783534746620



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      3

      Regimewechsel in Konstantinopel

      Am 1. August 527 folgte Justinian seinem Onkel und Adoptivvater Justin I. auf den Thron und wurde Kaiser der römischen Welt. Eine Überraschung war das nicht, schließlich hatte Justin ihn bereits am 1. April zum Mit-Augustus erklärt und Justinian damit formell einen Teil der Herrschaft übertragen. Drei Tage später war Justinians Frau Theodora zur Augusta gekrönt worden. Es war das erste Mal, dass ein direkter Nachkomme des Kaisers den Thron von Konstantinopel übernahm, seit der junge Theodosius II. im Jahr 408 seinem Vater nachgefolgt war, vor nunmehr fast 120 Jahren.

      Um die schwierige politische Vorgeschichte zu verstehen, die Justinian zu einem direkten, aber dennoch höchst ungewöhnlichen Thronerben machte, und nachzuvollziehen, wie sehr diese Vorgeschichte die ersten politischen Entscheidungen seines Regimes diktierte, werfen wir zunächst einen Blick auf die Regierungszeit des unmittelbaren Vorgängers seines Onkels: Anastasios I.

      Anastasios, der glücklose Kaiser

      Ein ausführlicher Bericht über die Wahl von Anastasios zum Kaiser ist in einem Text aus dem 10. Jahrhundert, dem sogenannten Zeremonienbuch, überliefert. Nachdem im April 491 der isaurische Kaiser Zenon gestorben war, begab sich dessen Witwe Ariadne, die Tochter von Zenons Vorgänger Leo I., zum Hippodrom, das 100 000 Zuschauer fasste. Es war wahrscheinlich voll besetzt, wie bei einem Anlass wie diesem üblich, wenn die Kaiserin vor die versammelte Bevölkerung der Reichshauptstadt trat, um sie zu fragen, was sie von ihrem neuen Kaiser erwartete. Die Untertanen kommunizierten mit ihrer Kaiserin in Form von Zurufen. Es begann ganz konventionell:

      Ariadne Augusta, mögest du siegen!

      Heiliger Vater, gib ihr ein langes Leben!

      Herr, erbarme dich!

      Viele Jahre für die Augusta!

      Bis hierhin erinnerte das Ganze stark an die Akklamationen, mit denen die versammelten Senatoren Roms am Weihnachtstag 438 die Veröffentlichung eines neuen kaiserlichen Gesetzesbuches, des Codex Theodosianus, bejubelt hatten.1 Doch genau wie bei der Codex-Zeremonie wurden die Akklamationen bald spezifischer. Die Bevölkerung der Hauptstadt erwartete von ihrem neuen Kaiser zweierlei: Er sollte ein orthodoxer Christ sein, und er sollte ein Römer sein. Diese Wünsche nahm Ariadne mit in den nahe gelegenen Kaiserpalast; ein geschlossener Gang führte von der Königsloge des Hippodroms direkt in den Palastkomplex. Es folgte eine Diskussion mit den versammelten Senatoren, und am Ende wurde vereinbart, dass die Kaiserin die endgültige Entscheidung selbst treffen würde. Ihr Votum fiel schließlich auf den sechzigjährigen Anastasios, einen langjährigen Palastmitarbeiter, der als silentarius für die Überwachung des Personals im Palast zuständig war. Kurze Zeit später heiratete sie ihn, um dem neuen kaiserlichen Regime den Anschein der Kontinuität zu verleihen und es damit zu legitimieren.

      Wie bei den meisten öffentlichen Zeremonien der späten Kaiserzeit haben wir Grund zu der Annahme, dass der Austausch zwischen Ariadne und der konstantinopolitanischen Gruppe, der ihr Fokus galt, sorgfältig choreografiert war. Um bei einer solchen Versammlung die Antworten zu bekommen, die man hören wollte, musste man sich vorab an die Zirkusparteien wenden, die das Geschehen im Hippodrom kontrollierten. Diese (die Blauen, Grünen, Roten und Weißen) waren die Fanklubs der großen Wagenrennteams, zugleich aber Mafia-ähnliche Organisationen, die in »ihrem« Teil der Stadt eine ganze Reihe von Geschäften entweder selbst betrieben oder zumindest am Gewinn beteiligt waren. Im Gegenzug sorgten sie in der Stadt für Recht und Ordnung. Wenn man wollte, dass die Menschen im Hippodrom etwas Bestimmtes brüllten, musste man den Chefs der Zirkusparteien ein Angebot machen, das sie nicht ablehnen konnten. Meistens ging es um Geld, aber in diesem Fall deuten die Akklamationen auf etwas Spezifischeres hin.

      Die wichtigste Schnittstelle zwischen den Zirkusparteien und der kaiserlichen Regierung war der Stadtpräfekt, so etwas wie Konstantinopels (ernannter, nicht gewählter) Bürgermeister. Die Art und Weise, wie der Präfekt die Stadt regierte, berührte stets die grundlegenden Interessen der Zirkusparteien. Bevor sie das Volk fragte, was es vom neuen Kaiser erwarte, hatte Ariadne es gefragt, was es von ihr erwarte. Die Leute riefen, sie wollten einen neuen Präfekten, und Ariadne – so war es mit Sicherheit vorher abgesprochen – stimmte zu.2

      Die Forderung, der neue Amtsinhaber solle »Römer« sein, hatte in diesem Kontext eine ganz besondere Bedeutung. Sie bedeutete nämlich im Umkehrschluss, der Kaiser solle nicht wie Ariadnes verstorbener Mann Zenon ein Außenseiter aus Isaurien sein. Vor allem einen ganz prominenten Thronanwärter sollte diese Formulierung ausschließen: Longinus, Zenons Bruder. Longinus war mit Zenon durch dick und dünn gegangen – er hatte praktisch dessen gesamte Regierungszeit lang verzweifelt dafür gekämpft, seinem Bruder die Macht zu sichern; er verbrachte sogar zehn Jahre als Geisel in den Händen von Zenons Widersacher, dem isaurischen Kriegsherrn Illus. Als Longinus 485 endlich seine Freiheit wiedererlangte, wurde er von Zenon großzügig belohnt: Er wurde zum kommandierenden Feldherrn der höherrangigen der beiden Praesentalis-Armeen ernannt, bekleidete also nun den höchsten militärischen Rang im Reich, und zum Konsul für das Jahr 486. Zwischen 485 und 491 war er eine prominente Figur im öffentlichen Leben und eines der führenden Mitglieder des kaiserlichen inner circle aus Isaurern. Zu diesem gehörte noch ein weiterer Isaurer namens Longinus; dieser kontrollierte in der zweiten Hälfte von Zenons Regierungszeit (484–491) als oberster Verwaltungsbeamter (magister officiorum) einen Großteil der kaiserlichen Bürokratie. Die übliche Amtszeit für eine solche Stelle betrug tendenziell eher ein, zwei Jahre, nicht sechs oder sieben.

      Wenn man also im Hippodrom 100 000 Menschen brüllen ließ, sie wollten einen »echten« Römer als nächsten Kaiser, dann bedeutete das nichts anderes, als dass Longinus aus dem Rennen war.3 Mit anderen Worten: Die Versammlung im Hippodrom war Teil eines sorgfältig inszenierten Staatsstreichs, den Ariadne und ihre Verbündeten in einem ganz entscheidenden Moment des Thronfolgeprozesses initiierten.

      Trotzdem war die Strategie der Kaiserin keine sichere Bank: Denn es war immer möglich, dass jemand anderes den Zirkusparteien ein noch besseres Angebot machte; daher konnte man vorher nie genau wissen, was geschehen würde (wie Hypatius im Jahr 532 feststellen musste). Angesichts dieser brisanten Vorgänge ist es fast ein wenig ungerecht, Anastasios als »erfolglosen Kaiser« zu bezeichnen. Im Grunde war es allein schon eine große Leistung, dass er im hohen Alter von 87 Jahren friedlich in seinem eigenen Bett starb.

      Dass in der Politik in Konstantinopel so viele Isaurer mitmischten, verdankte sich militärischer Notwendigkeit. Angesichts der massiven Übergriffe der Hunnen im 5. Jahrhundert brauchte Konstantinopel neue Truppen, und zwar schnell. Die Isaurer halfen, dieses unmittelbare militärische Problem zu lösen, aber ihre Rekrutierung in die Feldarmeen und die Beförderung ihrer Offiziere hatten enorme politische Konsequenzen. Ab dem Zeitpunkt, als mehrere Isaurer zu Feldarmeekommandanten (magistri militum) aufgestiegen waren, übten sie beträchtlichen Einfluss auf das Kaiserhaus aus. In den 460er-Jahren gab es unter Leo I., Ariadnes Vater, bereits sehr viele Isaurer bei Hofe, und sie waren so tief in die konstantinopolitanische Politik verstrickt, dass der Kaiser sogar seine Tochter mit einem Isaurer verheiratete – um ein Gegengewicht zu einem übermächtigen Feldherrn namens Aspar zu schaffen, der eine besondere Bindung zu der großen Gruppe der thrakisch-gotischen foederati hatte. Am Ende ließ Leo Aspar ermorden (daher Leos Beiname »der Schlächter«). Die thrakischen Goten wandten sich daraufhin von Rom ab, und die meisten von ihnen schlossen sich in den 480er-Jahren der neuen Koalition an, die der Ostgote Theoderich in den 470er- und 480er-Jahren auf dem römischen Balkan ins Leben rief und mit der er 488/489 kurz vor Zenons Tod in Italien einmarschierte. Um 491 waren die Isaurer nicht nur ein stabiles Element in der Politik von Konstantinopel, sie hatten auch jede Menge extreme Kampferfahrung, und sie nutzten ihre langjährigen Beziehungen zu einzelnen Gruppen isaurischer Soldaten dazu, ihre Macht zu sichern.4

      Zenons Aufstieg zur Macht hatte in den 460er-Jahren begonnen, als er sich gegen rivalisierende Feldherren aus den Reihen der thrakischen Goten durchsetzte, um schließlich ins Kaiserhaus einzuheiraten. 474 wurde er alleiniger Kaiser, nachdem