Die letzte Blüte Roms. Peter Heather

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Название Die letzte Blüte Roms
Автор произведения Peter Heather
Жанр История
Серия
Издательство История
Год выпуска 0
isbn 9783534746620



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unendlich viele individuelle Varianten, aber alles in allem lassen sich innerhalb der landbesitzenden Elite ganz grob drei verschiedene Wohlstandsniveaus ausmachen: Manche, darunter viele Senatoren der Stadt Rom, waren erstaunlich reich und verfügten über ein großes Portfolio aus weit gestreuten Liegenschaften und anderen Vermögenswerten, teils einmal quer durchs Imperium; alteingesessene römische Senatorenfamilien besaßen tendenziell Ländereien in Mittel- und Süditalien, Hispanien, Nordafrika und Italien, die ihre Vorfahren in den ersten Jahrhunderten der Kaiserzeit erworben hatten; hinzu kamen Besitztümer, die sie selbst im Laufe ihrer Karriere erworben oder durch Heirat hinzugewonnen hatten; so reich waren jedoch nur sehr wenige Angehörige der Aristokratie. Viel üblicher war der Wohlstand, den weniger bedeutende Adelsfamilien genossen: Sie verfügten zwar über einen beträchtlichen, aber eben nur lokalen Grundbesitz – er konzentrierte sich normalerweise auf das Territorium einer einzigen Stadt. Daneben gab es die etwas reicheren Regionalaristokraten, die in mehreren Städten Land besaßen, für gewöhnlich aber nur innerhalb einer Region. Mit den gewaltigen, weit gestreuten Vermögen der reichen Senatoren konnten auch sie es indes nicht aufnehmen.

      Bis ins 3. Jahrhundert spielte sich das politische Leben vor Ort für die meisten Adligen in den Stadträten ab, die – nach dem Vorbild der griechischen Polis – die einzelnen städtischen Gemeinden des Reiches leiteten. Um für die Mitgliedschaft in einem Stadtrat infrage zu kommen, musste man Land besitzen (wie viel Land, variierte nach Größe und Reichtum des jeweiligen Territoriums), und ein wesentliches Element des Mythos, mit dem diese lokalen Eliten ihre politische Rolle rechtfertigten, bestand darin, dass sie ihre Zeit und ihr Vermögen ganz selbstlos für das Wohl ihrer Mitbürger einsetzten. In Wirklichkeit wollten sie durch die aufgewendete Zeit und das investierte Geld in ihrer Stadt bekannter werden, wodurch sie sich diverse persönliche Vorteile erhofften. In der frühen Kaiserzeit, als es noch kaum römische Bürger außerhalb Italiens gab, wurde Inhabern eines leitenden Postens in der Verwaltung einer Stadt gemäß der einheitlichen Stadtverfassung, die im 1. und 2. Jahrhundert im gesamten Reich galt, das begehrte römische Bürgerrecht gewährt, das damals in einer Welt, die immer schneller romanisiert wurde, eine unerlässliche Voraussetzung für materiellen Wohlstand war. Eben jene Stadtverfassung gestattete es den Städten, lokale Steuern und Zölle zu erheben, und wer in einer Stadt politisch den Ton angab, konnte entscheiden, wofür diese Einnahmen verwendet wurden – ganz zu schweigen von den jährlichen Einnahmen aus den Stiftungen und Schenkungen, die eine Stadt erhielt (nicht zuletzt von konkurrierenden Landbesitzern, die sich mit solchen Geschenken beliebt machen wollten, um sich später wiederum selbst in eines der Ämter wählen zu lassen).32

      Dieses lokalpolitische Schema entwickelte sich nach und nach in den ersten zwei Jahrhunderten der Kaiserzeit, während immer mehr Menschen das römische Bürgerrecht erhielten, das Imperium immer mehr die Kontrolle über das Geld übernahm, das die Gemeinden vor Ort einnahmen und ausgaben, und der römischen Elite neben den Senatoren und Rittern aus der Stadt Rom auch immer mehr reiche Landbesitzer aus der Provinz angehörten. Aber der Truppenausbau des 3. Jahrhunderts und die Umstrukturierung des Steuersystems, die ihn finanzieren sollte, veränderten die Situation vollkommen, indem sie die Mechanismen, die in der von der Elite kontrollierten Lokalpolitik vorherrschten, geradezu auf den Kopf stellten. Die jährlichen Geldströme aus Steuern, Zöllen und Stiftungen, die bislang der größte Anreiz für lokale Grundbesitzer gewesen waren, sich in der Lokalpolitik zu engagieren, wurden nun von der kaiserlichen Regierung konfisziert. Das Geld war noch da und musste weiterhin eingetrieben werden, aber sämtliche Einnahmen gingen plötzlich an den Kaiser. Den lokalen Eliten blieb die Arbeit, ohne dass sie selbst etwas davon hatten.

      Im Zuge dessen erhöhte die zentrale Bürokratie des Reiches allmählich die Zahl der Beamten, die sich um die komplexeren administrativen Aufgaben kümmerten, die das neue Finanzregime mit sich brachte. Im Jahr 249 gab es im gesamten Kaiserreich gerade einmal 250 hochrangige Verwaltungsbeamte; da das neue Steuersystem sowohl das Eintreiben höherer Steuern als auch eine genauere Überwachung dieses Prozesses erforderte, kam man mit so wenigen Beamten nicht mehr aus. Dabei ist es nicht allzu überraschend, dass mit zunehmender Bedeutung und Anzahl der Beamten auch der Lohn und die Privilegien derer wuchsen, die in Diensten des Kaisers standen.

      Wie man in den relevanten Kapiteln der Erstausgaben der Cambridge Ancient History und der Cambridge Medieval History nachlesen kann, herrschte früher die Meinung vor, die aufstrebende kaiserliche Bürokratie sei ein ganz neues Phänomen der Spätantike gewesen, das die bestehenden Strukturen der römischen Elite zerstörte. Es ist kein Zufall, dass die betreffenden Kapitel größtenteils in den 1920er- und 1930er-Jahren verfasst wurden, als in weiten Teilen Mittel- und Osteuropas totalitäre Regime an die Macht kamen und die alte politische Ordnung ablösten. Bei näherer Betrachtung der umfangreichen Quellen des 4. Jahrhunderts zeigt sich allerdings ein anderes Bild: Die große Mehrheit der neuen Bürokraten wurde aus den Reihen der Adligen rekrutiert, die früher bereits die Stadträte gestellt hatten. Unter den Briefen des Libanios aus dem 4. Jahrhundert – die eine so unglaubliche Masse darstellen, dass ihre Empfänger ungefähr ein Drittel (!) aller Menschen ausmachen, die wir überhaupt aus dem 4. Jahrhundert kennen – finden sich diverse Empfehlungsschreiben für Posten in der wachsenden Bürokratie und im neuen Senat von Konstantinopel, und überwiegend geht es dabei um Angehörige der alten römischen Aristokratie. Dasselbe Phänomen zeigen ägyptische Papyri, die noch spezifischer sind: Hier erfahren wir, dass Angehörige der ägyptischen Familie Apion, die Liegenschaften im Gau Oxyrhynchos (und vielleicht auch anderswo) besaß, zu Beginn des 6. Jahrhunderts hohe Ämter bei Hofe bekleideten.33

      Der Ausbau der Bürokratie erfolgte zunehmend auch aufgrund des steigenden Drucks seitens der Beamten selbst. Von den 330er-Jahren an versuchten die Kaiser immer wieder einmal, den Prozess zu kontrollieren, doch sie scheiterten regelmäßig und sahen sich infolgedessen gezwungen, die Anzahl der Bürokraten zu erhöhen und ihnen weitere Privilegien zu gewähren; im Zuge dessen wurden ganz neue Arten der Entlohnung eingeführt – auch dadurch stieg die Zahl der Personen mit einem direkten Anteil am kaiserlichen System weiter. Amtsanwärter wurden schon im Kindesalter auf Wartelisten gesetzt, als Ehrenbekundung verlieh man bestimmte Ämter pro forma, später wurde sogar der Status des ehemaligen Amtsinhabers verliehen (ein solcher galt als ebenso wichtig wie jemand, der das betreffende Amt tatsächlich versah, so erstaunlich das auch erscheint), und im Gegenzug wurden die Dienstzeiten deutlich verkürzt und längere Abwesenheiten immer öfter toleriert.34

      All das bedeutete letztlich, dass das Ausmaß der Teilhabe der lokalen Eliten am kaiserlichen Verwaltungssystem insgesamt massiv stieg. Aus den 250 leitenden Verwaltungsbeamten, die es Mitte des 3. Jahrhunderts gegeben hatte, waren um das Jahr 400 herum 6000 geworden – je 3000 in West- und in Ostrom. Diese 3000 Beamten dienten lediglich für zehn Jahre, sodass innerhalb einer politischen Generation jede Stelle von mehr als einer Person besetzt wurde. Und diese Zahl beinhaltet nicht einmal all die ehrenhalber verliehenen Ämter. Die Leute, die in irgendeiner Form in die kaiserliche Bürokratie involviert waren, waren die, die in den Gemeinden vor Ort Einfluss hatten, und für die Ehrgeizigeren unter ihnen war dies der neue Weg zu Reichtum und Einfluss. Zu den besonders interessanten Arbeitsplätzen, die ehemalige Bürokraten und sogar Beamte ehrenhalber Ende des 4. Jahrhunderts zugewiesen bekamen, zählten die Stelle des Beisitzers des örtlichen Provinzstatthalters (der Beisitzer half dem Statthalter, bei Gerichtsverfahren das korrekte Urteil zu fällen) und die Aufgabe, auf städtischer Ebene eine periodische Neubeurteilung der reichsweiten Besteuerung durchzuführen, was theoretisch alle fünfzehn Jahre erfolgte. Zudem hatte man bei einigen Jahren Dienst im Beamtenapparat zahlreiche Gelegenheiten, neue Bekanntschaften zu machen und Menschen gezielt zu beeinflussen, mit allen daraus resultierenden Gefälligkeiten. Rechnet man noch die Tatsache hinzu, dass die meisten Städte keine unabhängigen Einnahmen mehr zu kontrollieren hatten, kann man leicht nachvollziehen, warum die Stellen als kaiserlicher Beamter im 4. Jahrhundert so begehrt waren.

      Insofern scheint die Steuerreform dem alten Adel und den regionalen Aristokraten nicht, wie man früher dachte, den Einfluss genommen zu haben, sondern sie veränderte lediglich die Anreize, die die vorherrschenden Lebensmuster der Elite bestimmten. Die neuen fiskalischen Strukturen des Imperiums, die ursprünglich zur Finanzierung der Expansion des Militärapparats dienten, wurden schnell zum neuen Organisationsprinzip der Karriereentscheidungen der lokalen und regionalen politischen Eliten des Römischen