Im Schatten des Löwen. Linda Dielemans

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Название Im Schatten des Löwen
Автор произведения Linda Dielemans
Жанр Книги для детей: прочее
Серия
Издательство Книги для детей: прочее
Год выпуска 0
isbn 9783772546655



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Lämpchen waren ihnen noch geblieben, von denen eines schon ein wenig unstet flackerte.

      Junhi musste hinken, aber niemand half ihr. Es war nicht schlimm. Sie gingen langsam, betäubt wie in einem Traum. Ihr Fußknöchel pochte im Rhythmus ihres Herzens.

      Der schneidende Wind draußen ließ sie aufatmen. Im Licht des Mondes konnten sie sich jetzt wieder gut sehen, als ganze Menschen und nicht nur als Gesichter und Hände in einem orangegelben Schein. Ren war spurlos verschwunden.

      «Wo ist er?», fragte jemand.

      «Bestimmt unterwegs, um uns zu verraten», sagte ein anderer.

      «Lasst ihn in Ruhe!», sagte Junhi. «Sicher hatte er Angst. Er muss den Bären gehört haben.»

      «Wie auch immer, keiner erzählt irgendwem etwas hiervon», fuhr der letzte Junge fort. «Wir sind hier nie gewesen. Junhi, du siehst wüst aus. Du musst dich waschen und dir dann etwas wegen der Schürfwunden und deinem Knöchel ausdenken.»

      «Gut», sagte Junhi. Kein Problem. Es war ja nicht das erste Mal.

      Während die anderen zur Wohnhöhle zurückkehrten, kniete Junhi am Flussufer nieder, durchbrach die dünne Eisschicht auf dem Wasser und wusch sich Hände und Gesicht.

      «Geht’s?», klang plötzlich eine Stimme neben ihr. Junhi erschrak.

      Cramh hockte sich neben sie und berührte sie an der Schulter.

      «Cramh!»

      «Lässt du mich mal sehen?»

      «Was tust du hier?»

      «Was meinst du?», entgegnete er mit ernster Miene. «Dich wieder zusammenzuflicken ist mein Hobby geworden. Kopf in den Nacken!»

      Er schöpfte mit der Hand Wasser aus dem Fluss und goss es ihr übers Gesicht.

      «Ren hat dich geholt», sagte Junhi.

      «Er ist ein lieber Junge. Er hätte ebenso gut Dahs oder selbst Uma rufen können, aber er wollte niemanden in Schwierigkeiten bringen. Ich hoffe, deine Freunde machen sich das klar.»

      «Es tut mir leid. Ich hätte sie zurückhalten sollen.»

      «Das wäre vernünftig gewesen. Aber tja, so kenne ich dich nicht.»

      Junhi knurrte und Cramh lachte leise.

      «Ich kann durchaus vernünftig sein», sagte sie dann. «Ich werde dafür sorgen, dass sie Ren in Ruhe lassen.»

      «Sehr gut.»

      Während Cramh ihr die letzten Blutreste aus dem Gesicht wischte, fragte Junhi: «Was sollen wir Uma und Dahs sagen?»

      «Dass du einen hässlichen Sturz hattest, als du heute Nacht zum Austreten aus der Wohnhöhle gegangen bist», sagte er. «Du hast ziemliches Pech in letzter Zeit. Zum Glück war ich zufällig auch gerade aufgestanden.»

      «Danke, Cramh.»

      «Dein Vater war mein Freund. Und jemand muss doch auf dich aufpassen.»

      5

       D as hier war kein guter Traum, Junhi wusste es sofort. Es war Abend. Feuer brannten. In den Träumen der Mutter war es nie Abend. Abends schliefen die Tiere.

       Sie schaute um sich. Viele Menschen waren da. Sie standen totenstill, so still, dass sie kaum zu atmen schienen. Als Junhi einen von ihnen vorsichtig berührte, fühlte sich der Mann hart und kalt wie Stein an. Alle steinernen Menschen schauten auf die Stelle, wo das größte Feuer brannte. Alle hatten sie die Hände vor den Mund geschlagen, die Augen aufgerissen. Sie sahen alles, aber sie sagten nichts.

       Junhi erschauerte und zwängte sich zwischen ihnen hindurch bis zu der Stelle vor, auf die alle blickten.

       Ihr Herz überschlug sich, als sie Uma und Dahs erkannte, ebenso versteinert wie die anderen. Vor ihnen auf dem Boden lag ein Mann. Ein anderer Mann stand über ihn gebeugt wie ein Löwe über seiner Beute. Ein scharfes Messer blitzte in seiner steinernen Hand. Aber der Mann auf dem Boden war nicht aus Stein.

       Er keuchte und stöhnte leise, beide Hände auf den Bauch gepresst. Seine Finger schimmerten dunkelrot. Er drehte den Kopf und schaute Junhi geradewegs an. Sie wollte zu ihm, ihm helfen, ihn trösten, denn sie kannte ihn, aber sie konnte sich nicht bewegen. Die steinerne Uma hielt Junhis Arm mit ihren dicken Fingern umklammert.

       «Lass los, lass mich los!»

       Die Augen des Mannes verdrehten sich in ihren Höhlen. Er wurde schlaff und sein Kopf schlug auf dem Boden auf.

       «Nein! Papa!»

      Sie waren schon lange fort jetzt, die Jäger. Viel zu lange. Junhi betrachtete die Wand ihrer geheimen Lufthöhle und wischte sich über die Stirn. In der Ferne rief ein Schneehuhn, hoch am Himmel schrie ein Raubvogel. Der Frühling hatte begonnen. Der letzte Schnee war vor zwei Tagen geschmolzen. Langsam wurden das Tal und die Ebene wieder grün. Aber der Wind blieb eisig wie immer. Erst im Sommer würde es etwas milder werden. Und wenn es dann endlich möglich war, gab es nichts Schöneres als die ganzen Fellschichten auszuziehen und eine Brise auf der Haut zu spüren.

      Nach Umas Ankündigung der Mammutjagd waren die Jäger nicht sofort losgezogen. Sie mussten neue Speere anfertigen, altes Gerät neu schärfen, Kleidung flicken. Zelthäute wurden gesammelt und gebündelt, sodass sie an Stöcken mitgetragen werden konnten. Am Ufer vor der Wohnhöhle übten die Jäger mit ihren Speeren. Ihre Schreie hatten jeden Tag durchs Tal geschallt, wenn sie ihr Ziel verfehlten. Und auch, wenn sie es trafen.

      Am Tag des Aufbruchs der Jäger war es ungewöhnlich dunkel gewesen. Eine graue Wolkendecke hatte die Sonne verborgen. Windstöße peitschten wirbelnde Schneeflocken auf und wehten sie jedem ins Gesicht.

      Der Schnee hatte Junhis Blick getrübt, während sie mit dem Rest des Stammes die Jäger auf dem Hang oberhalb der Wohnhöhle verabschiedete. Tukh hatte am Abend zuvor den Jagdtanz aufgeführt, um die Mutter um Hilfe zu bitten, und danach hatte eine der Frauen eine Flöte hervorgeholt und alle mit ihrem Spiel verzaubert. Aus dem Abend war Nacht geworden, aber alle tanzten weiter. Es machte nichts, dass die Jäger am nächsten Morgen in aller Frühe aufbrechen würden. Tanzen brachte Glück und ließ die Sorgen verschwinden.

      Aber als der Tag wiederkam, viel zu früh, viel zu schnell, waren die Sorgen auch wieder da. Junhi hatte sich zurückhalten müssen, den Jägern nicht zuzuschreien, dass sie nicht gehen sollten. Sie verstand nicht, warum – hatte sie doch von einer Mutterherde und blutenden Mammuts geträumt. Es würde gutgehen, sie würden mit genügend Fleisch für den Stamm zurückkehren. So konnten sie noch einen Winter hier in dieser Wohnhöhle bleiben. Dahs wusste, was er tat. Die meisten Männer waren erfahrene Jäger. Es gab keinen Grund zur Besorgnis. Ganz und gar nicht.

      Junhi legte die Hand auf den Felsen vor ihr. Ihre Wand, ihr Ort, ihre Zeichnungen, ihre Träume. Wenn Tukh wüsste, was er ihr damit geschenkt hatte, wie es alles besser machte! Aber solange Dahs fort war, konnte sie es ihm nicht sagen. Tira war immer in Tukhs Nähe, und Junhi wusste, dass Tukh ein Mann war, der zu seinem Wort stand. Sie musste sich mit den kleinen Präsenten begnügen, die er für sie bei seinem Farbenvorrat hinterließ, aus dem sie manchmal etwas entnahm, wenn niemand hinschaute. Ein Deckelkörbchen, geflochten aus festem Gras, in dem sie ihre Farbe aufbewahren konnte, oder so wie letztes Mal einen kleinen Bären aus gebranntem Ton. Sie hielt das Figürchen in der Hand und spürte, wie es ihre Körperwärme in sich aufnahm, als bräuchte es lediglich noch einen Hauch Atem, um zum Leben zu erwachen.

      Wusste Tukh von ihrem Abenteuer in der Mutterhöhle? Sie dachte noch oft an den Bären, der sie beinahe erwischt hätte. Hatte auch er auf die Mutter vertraut, als er die Höhle betrat? Hatte er sie