Название | Im Schatten des Löwen |
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Автор произведения | Linda Dielemans |
Жанр | Книги для детей: прочее |
Серия | |
Издательство | Книги для детей: прочее |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783772546655 |
Inzwischen beratschlagten Tukh, Uma und Dahs hinten in der Wohnhöhle. Der Träumer, die Stammesmutter und der Jäger, die Anführer des Stammes. Junhi wusste, dass Dahs sie beobachtete. Sie sah es, sie fühlte es. Er durchschaute, dass etwas nicht in Ordnung war. Aber er schwieg. Und der Einzige, von dem sie gewollt hätte, dass er nach ihr schauen und etwas zu ihr sagen würde, tat es nicht. Tukh ignorierte sie so vollkommen, dass es einfach auffallen musste, und auch Ren gab sich alle Mühe, sie zu meiden. Letzteres war vielleicht auch gut. Ren wusste, was geschehen war. Er wusste, dass sie nicht verletzt war und dass Tukh und sie Uma belogen hatten. Junhi hatte keine Ahnung, ob sie Ren noch gerade in die Augen blicken konnte. Wenn Uma und Dahs ihn nur nicht befragten, und wenn er dann nur nichts sagte!
«Junhi, dürfen wir noch eine Geschichte hören?»
Sie schaute auf von dem Vorhang, den sie gerade flickte, und lächelte. Die Einzigen, die sich über ihr Vorhandensein freuten, waren die kleinen Kinder. Sie rutschte zur Seite, um Platz für die vier Kleinen mit ihren vom Toben und Spielen im Freien geröteten Wangen zu machen. Eines von ihnen hatte eine Speerschleuder in der Hand. Sie war nachlässig geschnitzt, und das Loch am Ende war nicht ganz sauber durchbohrt. An ihr baumelte ein grobes Seil.
«Hast du die selbst gemacht?», fragte Junhi. «Wie gut! Soll ich sie für dich verzieren? Was möchtest du darauf haben? Ein Mammut? Oder ein schnelles Pferd? Das wirst du dann sicher fangen!»
«Ein Pferd! Ja, ein Pferd!», rief der Kleine.
Junhi suchte um sich herum nach einem scharfen Stein und nahm die Speerschleuder von dem Jungen entgegen. Sie betrachtete das Stück Geweih, die Linien und Unebenheiten, die es schon von Natur aus besaß. Hier der Beginn einer Schnauze, da ein wehender Schweif, ein starrendes Auge …
«Was tust du da?»
Tiras Stimme war eisig wie der Winterwind. Die Kinder waren sofort still und starrten mit großen Augen in die Höhe. Tira sah sie nicht an. Ihr Blick war auf Junhi gerichtet.
«Du darfst nicht zeichnen», sagte sie. «Das hat Uma gesagt.»
«Es sind doch nur Verzierungen. Alle tun das. Die ganze Höhle ist voll davon!»
«Aber du darfst es nicht. Wem gehört die Speerschleuder? Gib sie mir. Ich werde es tun.»
Tira streckte die Hand aus. Ihr dünner, sehniger Arm zitterte ein wenig. Junhi hob den Kopf. Tiras Wangen waren eingefallen, und sie hatte dunkle Ringe um die Augen. Der Kopf stand nicht richtig in Bezug zu ihrem Körper, zu viel zur Seite durch die Krümmung in ihrem Rücken, zu viel nach vorn durch ihren Buckel. Wie ein verwitterter alter Baum, der durch den Wind seitwärts gewachsen war anstatt in die Höhe. Nur war Tira noch jung.
Ganz kurz zögerte Junhi. Was war eigentlich so besonders an Tira, dass die ihr sagen konnte, was sie tun durfte und was nicht? Sie war ebenso alt wie sie. Sie war doch nicht Uma! Aber schon bald verschwand dieses Gefühl. Auch Tira wusste von dem Betrug. Sie war ohnehin schon böse auf sie. Da bräuchte es nicht mehr viel, um sie beschließen zu lassen, dass es Zeit wäre, Junhi mal wieder so richtig eine zu verpassen.
«Also gut, hier. Sie gehört Tiph.»
Tira schloss die Finger um die Speerschleuder und sah auf die Kinder herab.
«Morgen ist er fertig, Tiph. Komm dann einfach zu mir.»
Tiph nickte, schaute von Tira zu Junhi und wieder zurück und beschloss dann, sich aus dem Staub zu machen. Die anderen folgten so schnell sie konnten.
Junhi seufzte, zog den Vorhang wieder auf ihren Schoß und tastete um sich her nach der Nadel. Wo war die geblieben?
«Ich war noch nicht fertig.»
Tira nahm ihren Stock in die andere Hand, wodurch sie ihr Gewicht verlagern musste. Ihr Gesicht verzerrte sich für einen so kurzen Moment, dass es fast nicht zu sehen war. Sie war gut darin, ihre Schmerzen zu verbergen. Junhi wartete ab.
«Ich will nicht, dass du nochmals mit Tukh sprichst.»
«Aha?»
Was gab Tira das Recht, ihr etwas zu verbieten? Junhi fühlte, wie ihr eine böse Wärme ins Gesicht stieg, und auch Tiras Wangen hatten plötzlich Farbe bekommen.
«Tukh hat geträumt, einen sehr wichtigen Traum, das weiß ich genau, aber er will mir nichts erzählen. Er spricht nur mit Uma und meinem Vater darüber. Ich kannte immer alle seine Träume!» Ihre Stimme bebte. «Und das kommt durch dich. Ich weiß nicht, was du getan hast, aber es ist deine Schuld. Wenn du noch ein Mal mit ihm sprichst, erzähle ich meinem Vater alles über dein angeblich verletztes Bein. Was dann passiert, darfst du dir selbst ausdenken.»
«Tukh hat sich diese List ausgedacht, nicht ich!»
«Als ob jemand Tukh etwas verübeln würde. Tukh ist viel wichtiger als du. Auf dich können wir verzichten. Genau wie auf deinen Vater.»
«Wie kannst du es wagen!»
Junhi sprang auf und wollte sich auf sie stürzen. Aber Tira stieß ihren Stock nach vorn, schneller als Junhi es für möglich gehalten hätte. Er landete hart in ihrem Magen, und mit einem Knurren fiel Junhi zu Boden, sich den Bauch mit beiden Armen haltend.
«Sei bloß vorsichtig mit deinem Bein», sagte Tira. «Es ist eindeutig noch nicht verheilt.»
Dann drehte sie sich um und entfernte sich. Aber sie kam kaum vorwärts und ihr Rücken wirkte krummer denn je. Junhis Wut erlosch sofort. Zurück blieb nur Leere.
Sie schaute sich um. Falls jemand gesehen hatte, was geschehen war, gab dieser sich alle Mühe, so zu tun, als wäre dem nicht so. Die meisten Stammesmitglieder waren unterwegs, und die Kleinen würden es nicht verstehen. Vorläufig war sie sicher.
Der Löwenmann saß auf der Klippe, seine Löwenschnauze in die Luft gereckt und seine Männerbeine über dem Rand baumelnd. Junhi drückte sich mit dem Bauch gegen die Felswand unter ihm und sah auf seine Fußsohlen. Ihre Finger griffen Halt suchend nach Rissen, ihre Zehen suchten Vorsprünge, auf denen sie stehen konnte, während der Wind versuchte, sie wegzupusten. Ihre Hände taten weh, ihre Beine zitterten. Aber sie musste klettern! Sie musste den Löwenmann fragen, ob die Mammuts echt waren, ob sie dem Riesenhirsch auch hatte folgen dürfen. Er schaute herunter, seine Miene unleserlich wie immer.
«Hatte ich recht?», schrie Junhi gegen den Wind an. «Habe ich es richtig gemacht?»
Er hörte sie schon. Er neigte den Kopf, als verstünde er nicht recht, was sie fragte. Dann schwenkte er seine Beine nach oben und stand auf.
«Nicht weggehen!», rief Junhi. «Nicht weggehen!»
Er schaute noch einmal herab und entfernte sich dann von der Klippe. Schon bald konnte Junhi ihn nicht mehr sehen.
«Nicht weggehen», flüsterte sie.
Ganz kurz schaute sie auf den Fluss unter sich. Der war klein, unten im Talboden, tiefer als sie ihn je gesehen hatte. Sie hielt sich noch etwas kräftiger fest. Ein neuer, wilder Windstoß umtoste sie, zerrte an ihren Armen und Beinen. Sie versuchte sich festzuhalten, aber ihre Finger konnten nicht mehr, ihre Füße fanden nichts als Luft. Sie schrie und fiel rückwärts ins Leere.
Junhi zog sich die Kapuze ihres Mantels über den Kopf und wickelte sich in das Wisentfell, das sie irgendwo aufgehoben und mitgenommen hatte. Sie schmiegte sich in einen Winkel möglichst weit vom Feuer entfernt. Uma hatte angekündigt, dass sie diesen Abend etwas zu berichten hätte. Und für Junhi war es leicht zu erraten, worum es ging.
Jetzt braucht Tira nicht mehr böse zu sein. Gleich erfährt sie von dem Mammuttraum. Alle werden es erfahren.