Название | Die vorderen Hände |
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Автор произведения | Martin Zels |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783992002962 |
„In der Hauptstadt der Musik! Weltweit. Ja, das sage ich! Frei heraus, und gleich noch einmal! Weil Sie bitte nicht vergessen sollen, dass heut ein jeder junge Mensch, der auf ein Musikstudium zulebt, von nichts mehr träumt, als dass er in Wien studieren könnt!“
„Und trotzdem ist das für mich kein Vorteil, sondern im Alltag an der Hochschule eher der Geruch des Hängenbleibens! Die Karla, geh bitte! Die würd sich doch in einer anderen Stadt gar nicht bewerben, die würd halt dann was anderes machen, irgendwas, damit sie in Wien bleiben kann! Und weil wir einmal dabei sind: Wie oft ich mit Blicken ausgezogen werde, wie oft ich mich völlig nackt fühle, wenn ich da vor dem Hochschulorchester stehe, das bilde ich mir nicht ein. Und das können Sie als Mann sich gar nicht vorstellen!“
Der Herr Professor lächelte meistens noch kurz weiter. Und erklärte dann, abschließend, dass er fest davon überzeugt sei, dass sie ihren Weg schon machen werde. Schließlich hätten nicht wenige seiner Studenten einen erfolgreichen Weg eingeschlagen, auch international!
Dann ließ er sie etwas dirigieren, das ihr ohnehin besonders gut lag. Wobei er jeden Einsatz, den sie ihm gab, jeden Akzent, den sie forderte, mit strengster Genauigkeit und tiefer Hingabe ausführte. Beide vergaßen schnell, dass hier kein Orchester spielte, sondern ein älterer Herr, an einem mittelmäßig gestimmten Konzertflügel der Hochschule für Musik und darstellende Kunst, Wien.
Heute gab es so ein Gespräch nicht.
Sie wollte arbeiten. Hatte bald die Abschlussprüfung zu dirigieren. Viel zu bald. Und konnte es dennoch gar nicht erwarten. Proben mit dem Orchester. Die Pflicht. Und dann, am Ende, das große Konzert, im Wiener Konzerthaus, die Kür.
„Moment, bitte, Takt 256?“
„Ja, Herr Professor, Abschnitt –“
„K, ja. Hier, ich habs schon.“
Kurz ließ er das Notenbild in sich hinein.
Sie empfand Freude. Weil das alles dann vorbei sein würde. Vier Jahre Hauptstudium, zwei Jahre Meisterklasse. Genug der geringschätzigen Blicke, der ironischen Untertöne. Genug der Respektlosigkeit.
„Was kann denn an dieser Stelle für Sie schwierig sein, Karla? Das Mittel kommt doch in dem Satz laufend vor!“
„Ja, schon. Aber es ist hier das letzte Mal, und deshalb muss das mit einer anderen Energie kommen, das braucht einen eigenen, finalen Gestus, oder?“
„Ja, das mag sein. Da haben Sie vielleicht schon recht.“
„Wenn hier also die Celli mit ihrer Sololinie schon in den Achteln, also richtig mit Macht auf das neue Tempo zusteuern würden, richtig darauf drängen, auch deutlich schneller werden, und der Rest des Orchesters aber bis zum wirklichen Wechsel im Tempo stabil bleiben soll, müssten die Celli bis zum gemeinsamen Übergang nochmal etwas retardieren, oder? Das wär doch gescheit!“
„Eh klar. Wer davonläuft, muss am Ende auf die anderen warten.“
Er fand sich durchaus witzig. Ihr fehlte heute so ein Sinn.
„Und wie zeige ich den Celli das genau an? Das muss ja doch vollkommen homogen sein, damit es nicht wie Unsicherheit daherkommt, oder?“
„Also, das stimmt schon. Ja, ich weiß auch nicht. Das hat bisher keiner so gemacht. Ist aber eine gute Idee, ja, eigentlich könnte das da so sein!“
„Und wie schlage ich das?“
„Na, probieren!“
Karla richtete sich auf.
Der Einsatz, klar und autoritär. Sie ließ erst alles laufen, dann kam die Stelle in Sicht. Der Professor spielte, die Sololinie der Celli war immer klarer in seiner linken Hand zu hören, die rechte vertrat das Orchester. Karla ließ den Stock in der Linken ruhig pulsieren, stur zeichnete sie dem Orchester seinen Weg vor. Ihr rechter Arm hingegen kümmerte sich beschwörend um die Celli, die Hand forderte sie zum Alleingang, mehr und mehr – und bremste sie kurz vor dem schnell herankommenden Taktwechsel, und kurz auch vor dem gemeinsamen neuen Tempo, wieder herunter –
„Nein, so geht das nicht! Ich komm da ja völlig durcheinander! Das ist nicht klar geschlagen, Karla!“
Bernhard Kramer hatte jäh unterbrochen und schnaufte wie ein Gewichtheber.
„Es ist, ach, es fällt mir eh schon nicht leicht, Ihrem Stock zu folgen, wenn er in der linken Hand ist. Wieso wechseln Sie ihn denn auch noch, in letzter Zeit immer wieder? Oft sogar innerhalb eines Satzes!“
„Weil ich glaube, dass es einen großen Unterschied macht.“
„Das mag schon sein, aber glauben Sie nicht, dass Sie damit mehr Durcheinander anrichten als nötig? Was haben Sie denn davon?“
„Die Linke kann manches einfach klarer zeigen als die Rechte.“
„Ja, Ihre alte These. Aber hier verwirren Sie mich, und das mit beiden Händen! Also bitte, noch einmal.“
Der zweite Versuch misslang wieder, und auch der dritte.
Und weder konnte der Professor genau sagen, was an Karlas Dirigat nicht gut und klar genug gewesen wäre, noch, warum ihm die Stelle mit den Celli einfach so nicht gelingen wollte. Sie hingegen konnte nicht verstehen, warum er ihr diesmal einfach nicht folgte. Auch wurde sie zunehmend den Verdacht nicht los, dass er das pianistisch nicht bewältigte, es aber ihr in die Schuhe schob. Merkte er das vielleicht gar nicht?
Als es auch beim vierten Mal nicht ging, knallte Professor Bernhard Kramer den Deckel des Flügels so laut zu, dass Karla erstarrte. Er war puterrot angelaufen. Scham. Seine Augen aber waren angstgeweitet. Der Körper trieb ihn jäh vom Klavierhocker hoch.
„Nein, zum Teufel nochmal!“
Karla ließ endlich die Arme sinken, die sie ein paar Augenblicke lang aussehen hatten lassen wie eine Vogelscheuche. Langsam drehte sie sich weg. Gleichzeitig senkte ihr Professor den Kopf, und im selben Gestus setzte er sich wieder. Als ob er diese gemeinsame Choreographie unbedingt zu erfüllen hatte.
Stille besetzte den Raum. Nahm zwei hilflose Menschen in sich gefangen. Die jetzt auf unterschiedliche Weise, aber im gleichen Tempo, atmeten. Es sah aus, als ob sie beide einer sehr komplexen Musik folgten. Nur tief in ihrem Inneren zu hören.
Karla blieb ihm abgewandt, hob aber schon die Arme wieder, schloss die Augen, senkte leicht den Kopf. Die zitternden Hände ihres Lehrers lagen auf dem geschlossenen Deckel des Flügels. Zwei gestrandete Wale.
Sie wartete, wusste selbst nicht mehr wie lange. Bis eine fast sichtbare Konzentration aus der bleiernen Stille wuchs. Dann atmete sie ein, ließ den weißen Stock kurz und klar durch den Raum wandern, zusammen mit der anderen Hand stieg er hoch, genauso, wie es sein musste. Unweigerlich atmete auch der Mann hinter dem Flügel ein, hob den Kopf, und begann mit brüchiger Stimme die Solostelle der Celli zu singen, als der Stock mit sanfter Bestimmtheit zum Beginn des ersten Taktes hinabtauchte. Dort nahm er diese Töne an sich und überreichte sie der anderen, der freien Hand. Die packte sie und trieb sie beharrlich fordernd der vorher misslungenen Stelle entgegen. Der singende Bernhard Kramer stand auf, ging mit, und völlig mühelos schien er nun zu begreifen, was seine Studentin mit ihm vorhatte. Er überließ sich krächzend dem Höhepunkt ihrer Gesten, wurde dort gebremst, in einer Steilkurve hinübergeleitet in den Taktwechsel, in das neue Tempo, und wieder zurück in die alte Einheit, zurück zum Dirigierstock. In die linke Hand der jungen Frau. Endlich wieder zusammen mit dem Orchester, das sie nun beide hörten, klar und kraftvoll. In einer Schönheit, die sie noch eine kleine Weile still verharren ließ, nachdem Karla abgewunken hatte.
Der ältere Herr hinter dem Flügel setzte sich. Karla klappte leise die Partitur zu, nahm ihren Bleistift, den Rucksack auch, und verließ ohne ein weiteres Wort den Raum.
Bernhard Kramer blieb allein zurück. Still saß er da und stand doch noch immer in der anderen Welt! Lächelnd. Er war da so.
Am Abend war ihr nach Ruhe.
Sie