Die vorderen Hände. Martin Zels

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Название Die vorderen Hände
Автор произведения Martin Zels
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783992002962



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bellen. Selbstverständlich, jawoll!

      Karla zuckte zusammen, öffnete die Augen und ging sofort weiter. Erwischt, stumm, plötzlich fröstelnd.

      Der Alte sank in sich ein. Um ein Haar hätte er laut losgesungen.

      „Entschuldigen vielmals.“

      Er sagte es leise, mehr zu sich selber, warf den glimmenden Zigarettenstummel in die glitzernde Urinlache und zog ungnädig an der Leine. „Gemma!“

      Der Hund kläffte kurz. Das Herrchen nickte.

      Das Schloss klemmte. Jedes Mal wieder. Fast so wie das bei Anton. Erst mit diesem immer gleichen, kurzen Ruck zum Bauch hin ließ sich die Tür leise öffnen. Nichts in diesem kleinen Hinterhofpavillon war so gebaut, dass es genau das tat, was es sollte.

      Könnte noch aus der Kaiserzeit stammen, der kleine Bau. Ein einziger, doch recht großer Raum, verwinkelt, in dem alles Platz hatte, was eine junge Wiener Dirigierstudentin brauchte.

      Aber was war der früher einmal gewesen? Wirklich eine Art Depot für die Kutsche, mit kleinem Stall für zwei Pferde, wie sie immer dachte?

      Karla warf den Rucksack auf die alte Chaiselongue. Weinrot, dunkles Holz, die Beine wackelten, der dicke Koch hätte schon nicht mehr drauf gedurft. Es war zu warm hier, wie immer im Sommer. Aber sie traute sich nie, die Fenster zu kippen, wenn sie aus dem Haus ging. Und wenn sie sie jetzt aufmachte und Licht anknipste? Dann wäre das wegen der Gelsen verheerend. Ihre Nerven, später, das leise Surren! Ausgeschlossen.

      Ein letztes Glas Roten, Fenster auf, und Licht blieb aus.

      Im Dunkeln saß sie vor ihrem Klavier, auf Opas alter, grüner Holzkiste, müde die Elfenbeintasten anstarrend, die im fahlen Halbdunkel immerzu auf sie warteten. Den ganzen Tag, jeden Tag. In der linken Hand das Glas, in der rechten die Zigarette. Es machte nichts, dass jetzt ein paar Tränen kamen, sie machte auch keinerlei Anstalten, sie von der Wange zu wischen. Es war eben Sommer. Und es war eben Nacht. Und wenn man da so sitzt, und wenn alles dabeisitzt, was man immer wieder und wieder mit sich klären muss, und zu bedenken hat, jeden Tag – genau, dann sind ein paar Tränen vollkommen in Ordnung.

      „Komm, mach den Orff noch ein bissel an!“

      Es kam aus dem Klavier.

      Für Karla war es nichts Besonderes mehr, dass da jemand sprach, mit ihr, aus dem Klavier. Aber sie war dennoch jedes Mal zu Tode erschrocken. Natürlich war sie das. Nicht mit jedem Menschen sprach jemand aus einem Klavier! Einfach so.

      Bald war sie aber mit dieser angenehm tiefen Stimme übereingekommen, dass man hier auch gut zu zweit leben konnte. Wenn man unter sich war. Also war ihr Mann im Klavier entsprechend diskret. Er meldete sich nicht, wenn jemand zu Besuch war, und er achtete auch sonst sehr darauf, dass Karla in der richtigen Stimmung für ein paar Worte war.

      „Ja, vielleicht hast du recht. Ich geh lieber mit dir und dem Orff ins Bett.“

      „Als mit?“

      Seine Stimme ließ sie plötzlich hell lächeln.

      „Vergiss es.“

      „Gut. Ich habe es schon vergessen.“

      Er hatte Manieren. Schon seine Sprache. Zu Karlas großem Bedauern war er aber selten bereit, etwas von sich preiszugeben, schon gar nicht, wenn es um persönliche Dinge ging.

      „Du kannst einschalten, ich mache später aus, wenn du schläfst.“

      „Das ist lieb von dir. Danke.“

      „So gern, Karla.“

      Sie drückte die Zigarette aus, fuhr mit dem Finger ein paar Mal über den Rand des halbvollen Glases, bis es etwas müde einen hohen Streicherton von sich gab, ließ es dann auf dem Klavier stehen. Und ging ohne Zähneputzen hinüber zum Bett.

      Cis.

      War heute nichts los

      Nur ein kätzchen ging baden

      Stand bis zu den Waden schon imSee

      Und drehte um

      Frag nicht warum

      Hier weiß es auch keiner.

      Darius, seine Maschine und die Bobo Jager

      Es war erstaunlich. Darius fand das heutige Gedicht selber schön! Dabei war es an Seichtheit kaum zu überbieten.

      Nichts, was er sich herzuzeigen getraut hätte.

      Lag es an der Hitze, die allmählich geeignet war, Wien zur erweiterten ungarischen Tiefebene zu machen? Oder waren es die vielen tief- oder schwachsinnigen Nachtgespräche mit den „Bobo Jagern“, die in letzter Zeit fast ein wenig überhandnahmen?

      „Darius, Süßer, wenn du zu lange in der Theorie verweilst, geht die Praxis leise scheißen.“

      Irgendwann einmal hatten sie gefunden, zu fünft – sie waren sonst wohl insgesamt zehn, manchmal dreizehn, auch schon mal sechzehn, je nachdem –, es mag wohl um halb drei Uhr morgens vor dem Café Alt Wien gewesen sein, vielleicht aber auch an einem verregneten Samstagvormittag im Café Jelinek, da hatten sie also gefunden, „Bobo Jager“, das sei doch ein guter Name für sie! Eine herrlich doppeldeutige Umschreibung für echte Künstler sei das! Und auch für echte Möchtegernkünstler, kühne Dönerstandphilosophen, Hexen, täglich betrunkene Rationalisten, Endzeitspirituelle. Kurz: ein guter Name für Leute, die sich ständig wegen Sachen stritten, die normale Menschen in der Regel nicht interessierten. Und auch gar nicht verstanden.

      Vielleicht doch einfach wegschmeißen, das heutige Gedicht?

      Oder wenigstens in den Stapel ganz unten?

      Darius betrachtete das eingespannte Papier mit einer Mischung aus übermütigem Trotz und sehr kindlicher, echter Freude. Und gleich darauf kam sie wieder hoch. Schon wieder. Er hasste sie. Er wollte nicht mehr damit leben müssen! Und war aber dann doch ein wenig zu ehrlich, immer schon, um sie einfach vor sich selber zu verstecken: seine Scham. Und die Angst auch. Seine übergroße Angst.

      Die Bobo Jager.

      Schätzten und überschätzten sich mit Hingabe. Jüngere bis mittelalte Zeitgenossen, meist männlich, die sich im Laufe ihrer zusammen durchwachten Jahre ganz langsam zu so etwas wie Scheinexistenzen entwickelt hatten, unbrauchbar für den großen Rest. Der freie Markt duldete sie ja noch, am Rand, als Kleinkonsumenten. Und doch: Dem alles beherrschenden, weltbürgerlichen Zeitgeist, diesem Kraken, der inzwischen auch Studenten, Geringverdiener und Existenzgründer mit sich riss, wollten sie sich einfach nicht überlassen. Besonders, wie sie waren.

      Natürlich konnte es sein, dass es jemand von den anderen aus dem Stapel zog, das heutige Gedicht. So wie sie es oft taten, und dann lasen sie laut vor, viel zu laut, was sie in ihren Händen hielten, nachts, wenn sie mal wieder in seinem Zimmer gelandet waren. Was ihn manchmal ehrte, meistens aber heillos überforderte. Weil er nicht so weit war, einfach klar und deutlich „Nein“ zu sagen.

      Mit lautem Ratschen zog er das Blatt aus der Maschine. Und legte es hinten im Regal ganz oben auf den Stapel.

      Die Bobo Jager.

      Man brauchte solche Leute in der heutigen Zeit nicht. Leute, die sich in Unterschieden wohl fühlten. Leute, die selten waren, störten nun. Mehr als sie wirken konnten.

      Nur, wie wurde man die los?

      Man konnte sie ja schlecht aus der Stadt jagen. Schon gar nicht aus einer Stadt wie Wien! Früher hatte es sogar zum guten Ton gehört, den einen oder anderen Künstler, die eine oder andere Zeitgeistabtrünnige persönlich zu kennen! Und sei es nur, um sich abgrenzen zu können, genüsslich, von denen. Wenn man vom Nachbartisch her auf ihre palavernden Runden schielte. Im Kaffeehaus. Beim Wirt. Im Foyer.

      Seine Maschine.

      Er schrieb schon seit Jahren die verschiedensten Formate. Gedichte. Kurzgeschichten. Kleine Erzählungen. Auch ein Theaterstück gab es inzwischen. Aber noch nicht: