Название | Die vorderen Hände |
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Автор произведения | Martin Zels |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783992002962 |
Und doch
Da wartete ein ganzes Heer,
so sehr, auf seinen Einsatz
Auf Jubeln, Trommeln, Pfeiferei
Und auf den zärtlich klaren Griff
der vorderen Hände …
Karla und der Klang der Nacht
„Kannst du mich nicht ein bissel öfter auch anschauen, wenn wir miteinander im Bett sind?“
Sie klappte seinen Arm unter ihren Kopf, legte sich rauchend neben ihn. Er sagte länger nichts, rauchte ihre Zigarette mit und vollführte dann einen seiner üblichen Rösselsprünge.
„Geh, Karla! Ich schau die Welt nicht an. Ich schmecke die Welt! Und du! Schmeckst wunderbar.“
Sie küsste seine Hand, legte sie beiseite, wie eine alte Zeitung, und schwang sich mit einem Satz aus dem Spiel. Und auf die Beine. Zuerst zog sie ihr Cordhemd an, das petrolfarbene. Dann beide Socken. Ging auf seine Seite des Bettes zu, und stand so, halbnackt, vor ihm. Sein Blick war lauernd ihrem Gang gefolgt.
„Anton, komm, küss mich auch!“
„Aber gern, Madame!“
Schwerfällig hob er seinen massigen Oberkörper, nur so weit wie nötig, fasste mit einer Hand den nackten, schmalen Hintern der jungen Frau und drückte sein Gesicht in ihren Schoß. So tief, wie er es eben vermochte, so fest, wie sie es gerade noch gernhatte. Ungelenk, wie er war. Und so müde auch.
Er schmatzte. Sie störte sich nicht daran, drehte sich aber bald kichernd aus seinem Griff. Er schnalzte mit der Zunge, tschlak, hustete, und ließ sich wieder fallen. Sie dachte an ein altes Schiff.
Ihr dunkler Pagenschnitt fiel ins Gesicht, als sie in die karierten Boxershorts stieg. Vielleicht ein wenig wie Jugendstil, hatte sie vor dem Schneiden zum Friseur gesagt.
„Sehen wir uns?“
Dann ihre weiten Jeans, die Knöpfe zu, er ließ sie nicht aus den Augen.
„Ich weiß nicht. Musst du sagen. Ist dir das nicht zu spät, immer erst nach meiner Küche?“
Nach meiner Küche. Vor meiner Küche. In meiner Küche. Durch meine Küche. Neben meiner Küche. Es ist aber nicht mehr seine Küche.
Dachte sie.
„Ist mir egal. Am Vormittag geh ich eh schon länger nimmer an die Hochschule.“
Sagte sie.
„Du kommst einfach wieder vorbei, wenn du Lust hast, oder?“
Sagte er. Und dachte nichts.
Sie ließ den halb wachen Mann liegen und die Tür halb offenstehen. Man musste sie ohnehin hinter ihr schließen. Sie klemmte. Karlas Schuhe waren nicht zu hören. Und das nächtliche Pfeifen im Treppenhaus, das war wohl jemand anderer.
Dam dam dam dam – Bumm bumm – Dam dam dam dam – Bumm bumm – Dam dam dam daaam daaam, tam tam! Bumm bumm …
Auf dem Weg nach Hause pulsierte in ihr nicht die beinahe vergangene, viel zu warme Nacht, schon gar nicht der längst wieder schnarchende Koch und sein schwerfälliges Fleisch. Nein, Anton, ich kann dir nicht sagen, was ich von dir will, ich kann ja nicht einmal sagen, was ich gerade brauche. In ihr pulsierte jetzt auch nicht ihre Hingezogenheit zu sehr verschiedenen Männern, Darius zum Beispiel, oder einer von den Sängern an der Hochschule, Paul, nein, ich glaube, er heißt gar nicht Paul. Ich will bloß nicht so allein sein, versteht ihr das? Doch, er heißt Paul.
Töne pulsierten in ihr. Wunderbare Töne.
Dam dam dam dam, da-da-da da-da-da, dam dam dam dam!
Und die so versöhnliche, gleichmäßige Ruhe der sonst taghellen, hochmütigen Wienerischkeit. Die alten Straßen und Gassen stimmten sie hinüber nach Moll. Langsam, und schwer, dieser Kontrapunkt. Hier, die ewig alte Traurigkeit dieser Stadt, verbannt in U-Bahnschächte, Tagträume und auf Stehbalkone. Und dort, der unstillbare Lebenshunger, der nachts aus jedem Haus sickerte und jeden halbtrunkenen Suchenden ansprang.
Darius. Du tust mir leid. Was für ein niederschmetterndes Gefühl für mich, dass du mir leidtust. Ich weiß nicht einmal, warum. Und noch viel niederschmetternder muss es doch für dich sein; ich hoffe, du bemerkst es gar nicht. Ich mag einfach nicht aufhören mit dir. Deine Monologe, diese rätselhaften Ausflüge. Dich dabei anschauen, ja, ich höre oft gar nicht hin. Auch deine Gedichte! Die feine Art, wie du sie liest. Egal, ob sie gut sind oder nicht. Sie sprudeln immer so lebhaft aus dir heraus, Darius, sie lassen uns alle leben. Das allein ist wunderbar!
Und doch. Und doch. Und doch.
Keiner dieser Bildersätze, keiner dieser munter fließenden Gedanken konnte Karla in eine so sprühende Lebendigkeit versetzen, wie die Musik das konnte. Auch die herrliche Unruhe und der unerklärliche Übermut, die nachts in den Gassen Wiens herumlungerten, vermochten nicht, was die Musik vermochte.
Heute waren es ausgerechnet ihre zwei Lieblingssätze aus Carl Orffs „Carmina Burana“.
Erst Moll. Der Anfang. O Fortuna!
Dann Dur. Uf dem anger!
Unermüdlich jubelte und polterte die altmodische, zutiefst bayerische Orchestergewalt in ihr dahin, O Fortuna! Daran angepasst, ihr rascher Gang. Rhythmisch tummelten die Beine sich zwischen den stampfenden Pauken, wie ein Hund, der ungeduldig auf sein Stöckchen wartet.
Sie liebte ihren Stock.
Sie liebte ihn viel mehr als ihre eigenen Hände, langsam erhoben sie sich schon, und mitten hinein in die Nacht wollten sie. Ihre Hände. Die bald vor ihr tanzten, elegisch erst, dann zunehmend forscher. Die ein ganzes Orchester herumkommandierten. Ihres. Das sofort reagierte, links und rechts, das in ihr drin gierig umsetzte, was die junge Dirigentin forderte, und sei es noch so kühn oder ungewöhnlich. Auch da hinten, das Blech: O Fortuna! Kleinste Bewegungen im Zeigefinger konnten in einem Handumdrehen ganze Klangwolken zersetzen oder neu entstehen lassen, ganz wie sie wollte, einfach nur, weil sie es wollte.
Wenn das nur in echt auch so ginge!
All diese Orchesterleichen an der Hochschule, dachte sie, obwohl sie noch so jung sind, schon tot. Und ihr entfuhr ein leises „Oida!“ Wenn nur diese eine Wendung hier je so funktionieren würde, wie ich sie jetzt höre!
Sie war längst stehengeblieben, hatte die Augen zu. Auch ihre Beine waren geschlossen, ihr Körper, in Spannung, ganz aufrecht, der Schwerpunkt leicht nach vorn, so wie es sein musste. Im Geist führte sie ihren weißen Stock in der linken Hand. Daumen und Zeigefinger hielten ihn, ruhig, aber doch mit etwas Druck.
O Fortuna! Velut Luna statu variabilis, semper crescis aut decrescis – Schicksal! Wie der Mond dort oben, so veränderlich bist Du, wächst Du immer oder schwindest …
Mit ihrem rechten Arm hielt sie den Raum. Lächelnd. Wie eine alte Hirtin. Vorne an der Straße bimmelte die erste Tram des Tages. Auf der anderen Seite der Gasse stand ein alter, rauchender Mann und schüttelte unaufhörlich den müden Kopf. Sein verträumt vor sich hin urinierender Rauhaardackel zwang ihn schon seit einer gefühlten Ewigkeit dazu, Karlas nächtliches Publikum zu verkörpern.
Oder zog ihn noch etwas anderes magisch an?
Er war sich auf einmal nicht mehr sicher.
Diese wild atmende, junge Frau, die da mit hoch erhobenem, witterndem Kopf unter einer Laterne auf dem Trottoir stand. Sie dirigierte doch etwas offensichtlich Großes – und es war dem müden Alten plötzlich nicht mehr klar, ob er einfach nur zuhören sollte oder bereits im nächsten Augenblick diensteifrig einsetzen? Fortissimo!
Schon atmete er rhythmisch mit, schon erhellte sich sein Blick, richtete sein gebeugter Körper sich auf, und –
Schließlich war es der Hund, der jäh den unmittelbar bevorstehenden Einsatz des Chores verhinderte.