Die vorderen Hände. Martin Zels

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Название Die vorderen Hände
Автор произведения Martin Zels
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783992002962



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Pettrich war zutiefst davon überzeugt, dass jeder Schaffensprozess etwas zutiefst Kollektives in sich trug. Er glaubte fest daran, dass nicht Einzelne etwas aus sich heraus schöpften, sondern, dass große, entscheidende Gedanken einem bestimmten Menschen immer nur „zugedacht“ wurden, der just in diesem Moment anderen voranging. Der gerade aus irgendeinem guten Grund ganz vorne stand. Und was für eine Gnade, wenn dieser Mensch dann ein Bewusstsein dafür hatte, dass er nicht alleine war!

      „Du musst dir das vorstellen wie einen Eimer Löschwasser, der durch viele Hände gereicht wird, bis ganz vorne jemand damit das Feuer löscht. Da kannst du auch nicht sagen, dieser eine Mensch hat das gelöscht, oder?“

      „Und das soll jetzt heißen, dass der Beethoven seine Sinfonien gar nicht selber gelöscht hat?“

      „Doch, ich glaube schon. Aber eben nicht alleine.“

      Darius hatte gerade dem Kaiser Franz Joseph ans Bein gepinkelt, als er den anderen, unverhofft, nach nur dreizehnstündiger Diskussion, mitteilte, dass er nun müde im Kopf sei und jetzt ein wenig allein sein müsse. Wenn auch allein unter vielen anderen, in den Gassen, in der Innenstadt. Dort wollte er sich ein wenig die Beine vertreten, „ein paar frische Momente sammeln“.

      Er liebte sich für solche Ausdrücke. Über alles.

      Im grünen Dickicht kommen sie zusammen

      Erst verhalten und Einzeln

      Einzig schon in ihrer Art

      Dann ein Raunen von immer mehr

      Und da:Zischen von Lauten und Worten

      Keines je gehört

      Zum dritten Mal schon der Ruf

      Kein Vernehmen, kein Ton in der Welt

      Nur Signal und Aufbruch

      Tore und Weiten stehen auf

      Für den großen Tross der Eilenden

      Die nehmen uns mit, uns mit,uns

      So gehen viele und kommen wohl an

      Kein Halten und Verharren mehr

      Der Zeitenritt in vollem Gange

      Karla, Anton und ein später Gast

      Es war inzwischen schon ein Ritual: Sie kam spät, gegen zehn, gerade noch vor Küchenschluss, und bestellte Rehravioli mit einer Idee Blau. Die Gitti fragte nur noch der Form halber nach, wenn sie an ihren Tisch kam, vielleicht etwas widerwillig, aber immer höflich. Und Karla nickte. Lächelte. Auf diese Art, die viele bei ihr als hochnäsig erlebten. Oder undurchschaubar? Manche fanden sie auch einfach freundlich.

      Dass der Wein erst dann kommen konnte, wenn sie wusste, was Anton ihr zubereitet hatte, war der Kellnerin klar. Aber das Seiterl vom Fass, das kleine Bier, das brachte sie inzwischen unaufgefordert, jedes Mal. Genauso wie das große Glas Leitungswasser. Karla trank es dazu, während sie geduldig auf das Essen wartete, ein wenig vor sich hinschaute, gelegentlich aber auch in Zeitungen oder Taschenpartituren blätterte. Gedankenverloren. Ohne etwas darin zu finden. Außer, vielleicht, eine Idee Karla.

      Sie ließ sich stets Zeit beim Essen und blieb dabei am liebsten allein, meistens heilfroh, dass dieser eitle Koch sie nicht Beifall heischend beim Essen beobachtete. Üblicherweise hatte der nämlich erst die Küche aufzuräumen und picobello zu putzen, bevor er sich mit seinem Roten an Karlas Tisch setzen konnte.

      Ab und an konnte sie freilich nicht verhindern, dass sich irgendein streunender Genießer näherte. Männlich, älter, vom Wein zu grotesker Selbstüberschätzung verführt. Sie blieb dann höflich, trotz ihres Ekels; im Moment wirklich keine Gesellschaft, tut mir leid, nein, später wird sich noch jemand einfinden, ein Herr, mit dem sie verabredet – natürlich. Schönen Abend. Und genoss weiter ihr kulinarisches Unikat.

      Natürlich stimmte Anton die lästige Küchenputzerei an Karla-Abenden noch missmutiger als sonst, so sehr, dass er sich meist schon in der Küche einen eingoss, oder zwei. Und sich Aschenputtel oder Zwerg Nase nannte, während er Armaturen, Spülbecken, Arbeitsflächen und Gasherde schrubbte. Früher, als das alles hier noch ihm gehörte, hatte natürlich Bert sauber gemacht! Heutzutage geruhte der Parteichef am Nachmittag nur noch seine eigenen Arbeitsflächen zu reinigen und mit gnädigem Lächeln eine kleine Fuhre Gemüseabfall hinauszutragen. Fertig.

      Heute war alles ein wenig anders. Die letzte Nacht hing dem Koch schwer in den Gliedern. Und er war auf so seltsame Art – nicht allein? Sein ganzer Tag war von dieser letzten Nacht gemacht worden, von ihren Bildern und Gerüchen. Viele unbekannte Gefühle. Oder nur unerwünschte? Es lag nicht am Alkohol, gar nicht. Am gestrigen Abend hatte er doch nur ein Glas beim Küchenputzen getrunken, war dann früh nach Hause und sofort ins Bett gegangen.

      Und hatte wirklich geträumt!

      Er träume nie, hätte er sonst gesagt. Aber natürlich träumte jeder Mensch. Jede Nacht, und das andauernd. Die Frage war nur: Was blieb? Was war so geträumt, dass es seinen Weg fand, zum Tages-Anton? So gesehen hatten ja die allermeisten Träumer keine großen Aussichten. Aber Anton hatte bisher gar keine gehabt.

      Und doch. Er hatte geträumt! Und er erinnerte sich.

      Wasser. Ganz viel Wasser. Und viel Geschrei. Ein Krieg, ein Kampf. Eine Schlacht war da im Gange gewesen. Eisige Kälte. Und das Wasser, in das seine Leute getrieben worden waren, sogar noch kälter – immer mehr von ihnen waren darin ersoffen und verblutet. Man hatte ihm im Kampf einen Finger abgehackt, wahrscheinlich schon einen Tag zuvor, den Schmerz spürte er aber gar nicht. Und dann, als er nur noch mit neun Fingern gekämpft hatte, da sah es nicht gut aus für ihn und seine Leute.

      Centurio!

      Er hörte jemanden hinter sich ganz laut schreien.

      Centurio!

      Dass man sich auch in Unterzahl mit seinen Feinden schlug, war ihm vertraut. Aber dass dieser Feind tatsächlich den Sieg erringen sollte? Mit einer ganz einfachen Finte? Diese Klippen! Ein kleiner, verschlagener Hinterhalt nur. Vor ihnen und rechts und überall. Klippen, wie Hochhäuser! Und links der einzige Ausgang aus diesem Irrweg: das kalte, salzige Nordmeer.

      Dieses Meer war kein Ort des Lebens, war nicht umfangend, nicht zärtelnd wie zu Hause, im Süden. Sondern grausam und klar.

      Er sah die rotgefärbten, kleinen Wellen, die gleichgültig seine Kameraden gefressen hatten, einen nach dem anderen. Mit dem Lederharnisch, dem weinroten Umhang und den Eisenbeschlägen viel zu schwer, um über Wasser zu bleiben. Jeder Einzelne. Hier war nichts zu machen gewesen, und er war verantwortlich. Schuld. Das würde bestraft werden. Er wusste, wie so etwas endete. Am Kreuz, ganz sicher, Centurio. Am Kreuz.

      Dann die Schlussrunde. Es war stets der gleiche Tanz.

      Der letzte Tisch zahlte, Gitti machte die Abrechnung, Anton übernahm gütig nickend den Sperrdienst, und endlich saßen er und Karla allein im roxane & freunde. Im Fenster hing „Geschlossen“.

      Wie kindisch er es in diesen Augenblicken immer genoss, allein Hof zu halten! Seine Küche. Seine Eroberung. Alles seins. Weil absolut kein Zweifel daran bestehen konnte, wer hier die Fäden zusammenhielt, wer hier die Attraktion war. Anton. König der Köche in Wien!

      Kerzenlicht reichte. Das Wesen des Raumes und seine beiden nächtlichen Genossen leuchteten dann, ganz leise, jeder für sich. Ob rot oder weiß, immer war es der gleiche Wein, den sie tranken. Anton liebte die beiden Sorten eben, fertig. Alles natürlich nicht zu knapp, und in letzter Zeit beinahe einmal die Woche! Karla hatte nicht genug Geld für sowas. Aber das war ja auch gar nicht nötig.

      Anton war heute nicht ganz da. Die vergangene Nacht sendete einen Funkspruch nach dem anderen.

      Centurio!

      Hatte er denn fliegen können, im Traum? Oder sich einfach zweiteilen? Das war doch alles kaum zu begreifen! Und doch. Einer war er dort unten gewesen, am Rande des Meeres wie ein wilder Eber kämpfend, zusammen mit all seinen krepierenden, ersaufenden Männern. Aber dort oben, noch weit