Название | 71/72 |
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Автор произведения | Bernd-M. Beyer |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783730705483 |
Die jungen Bewohner pinseln in großen rosa Lettern an die Wohnzimmerwand: „Wer sich nicht in Gefahr begibt, kommt darin um.“
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Zu jener Zeit sehen große Teile der Linken die RAF noch als Teil der Subkultur; ihr militantes Gehabe wird zwar zumeist abgelehnt, von manchem aber klammheimlich auch bewundert. Zunächst ist es auch weitgehend bei großen Ankündigungen, wilden Theorien und kurzen Schießereien geblieben. Gudrun Ensslin, Andreas Baader und andere zünden im April 1968 Brandsätze in zwei Frankfurter Kaufhäusern, um gegen den Vietnamkrieg zu protestieren. Es gibt hohen Sachschaden, aber keine Verletzten. Baader wird verhaftet, kann aber im Mai 1970 unter Mithilfe von Ulrike Meinhof aus der Haft fliehen, wobei ein Beamter schwer verletzt wird.
Kurz darauf erscheinen in „Agit 883“ eine Erklärung und im „Spiegel“ ein Interview mit der Gruppe. Man habe „begriffen, dass Revolution bewaffneter Kampf heißt“, und daher die „Rote Armee Fraktion“ gegründet, kurz RAF. Noch nennt man die Gruppe in der Öffentlichkeit so nicht, sondern, je nach politischem Standpunkt, „Baader-Meinhof-Gruppe“ oder „Baader-Meinhof-Bande“. Das klingt ein bisschen nach Bonnie und Clyde, jenem legendären Gangsterpaar, das in den dreißiger Jahren, während der großen Wirtschaftskrise, raubend und mordend durch die USA zog und dem ein Kinofilm ein romantisierendes Denkmal setzte.
Es gibt ein berühmtes Foto, das Andreas Baader und Gudrun Ensslin beim Brandstifter-Prozess 1968 zeigt: sie mit beeindruckend langen Haaren und kultig geschminkten Augen, er mit runder Sonnenbrille und trendigen Haar-Koteletten, beide bestens gelaunt im lockeren Gespräch, als säßen sie in einer Szenebar oder in Günter Netzers Disko Lovers Lane, vorgefahren im coolen Porsche Targa, dem von Baader bevorzugten Gefährt, das dort neben Netzers Ferrari gestanden hätte. Modische Insignien und kulturelle Codes lassen die politischen Grenzen verschwimmen. Bei nicht wenigen Jugendlichen hängen die ikonischen Fotos von Che Guevara, Jimmy Hendrix und George Best in friedlicher Koexistenz an der Wand.
In einer repräsentativen Meinungsumfrage des Allensbacher Instituts für Demoskopie bekundet im Frühjahr 1971 ein Viertel aller Bundesbürger unter 30 Jahren eine „gewisse Sympathie“ mit der RAF; jeder Zwanzigste erklärt sich sogar bereit, solche Untergrundkämpfer für eine Nacht zu beherbergen. Kai Sichtermann, der Bassist, berichtet später, auch Ton Steine Scherben hätte die Anfänge der RAF wohlwollend verfolgt: Damals „verteilten die Scherben während ihrer Konzerte noch Flugblätter und andere Propagandaschriften der RAF und forderten sogar gezielt Leute auf, ihre Personalausweise zu ‚verlieren‘, um sie dann an Untergetauchte weiterzugeben“. Er selbst habe sich „sogar ernsthaft überlegt, meine Gitarre gegen eine Knarre einzutauschen und in den Untergrund zu gehen“.
In den folgenden Monaten, zeitlich parallel zur Ligasaison 1971/72, wird sich die Situation grundsätzlich ändern und schließlich eskalieren. Im Juni 1971 erklärt die RAF im Strategiepapier „Das Konzept Stadtguerilla“ der Staatsgewalt den Krieg; Festnahmen werde sie sich mit Waffengewalt widersetzen. Die Polizei antwortet mit einer bundesweiten Fahndung. Petra Schelm und Werner Hoppe, zwei RAF-Mitglieder, geraten am 15. Juli 1971 in Hamburg bei einer Großfahndung in eine Straßensperre, rasen mit ihrem BMW einfach durch. Als ein Polizeiauto sie stoppt, flüchten sie zu Fuß weiter. Es fallen Schüsse, zunächst können die beiden in Gärten verschwinden. Kurze Zeit später entdeckt ein Polizist Petra Schelm auf der Reineckestraße und tötet sie mit einem Schuss aus seiner Maschinenpistole, in Notwehr, wie er sagt.
Petra Schelm ist nur 20 Jahre alt geworden. In der linken Szene wird sie als Opfer gesehen. Zumal ein Schüler, der die Schießerei beobachtet hat, aussagt, der Polizist habe ohne Vorwarnung zuerst geschossen. Ebenso sorgen Augenzeugenberichte für Empörung, mindestens zehn Minuten lang habe niemand der Sterbenden Erste Hilfe geleistet. Die RAF hat ihre Märtyrerin. Schelms Tod wird kein Anlass zum Innehalten, sondern verhärtet die Fronten weiter. Vergebens appelliert der renommierte „Spiegel“-Autor Gerhard Mauz an beide Seiten: „Die Saat der Gewalt ist aufgegangen, doch fragen wir uns einmal, wer alles Gewalt sät. (…) Das Mädchen hat geschossen, und so ist auf das Mädchen geschossen worden. Doch das ‚letzte Gefecht‘ wird nicht mit Waffen ausgetragen; mit Worten wird es zu führen sein.“
Elf Freunde wollen wir nicht sein
Bundesliga, 5. Spieltag +++ 3./4. September 1971
„Wer mit neun den Vater und mit 13 die Mutter verliert, muss kämpfen.“ Kein politisches Statement, sondern eine Laudatio auf Hans-Hubert „Berti“ Vogts. Der zuverlässige Abwehrmann ist soeben zum neuen Fußballer des Jahres gewählt worden, mit großem Vorsprung vor Franz Beckenbauer und Günter Netzer. Berti hat mehr als 200 Bundesligaspiele und 39 Länderspiele hintereinander absolviert, ohne ein einziges Mal zu fehlen. Der „Kicker“ veröffentlicht eine Biografie über Berti, in der die Wahl begründet wird: „Der Fußball erkor sich keinen glitzernde n, schillernden, sondern einen einfachen Star. An Stelle des Playboy-Typs den braven Burschen. Im rechten Augenblick, vielleicht im letzten Augenblick, wird ein junger Mann zur Idealfigur, der in einem eiskalten, rücksichtslosen Geschäft trotz seiner Erfolge ein braver Normalverbraucher geblieben ist, der sich dort wie ein Amateur bewegt, wo Geldgier und Gewinnsucht, Egoismus und Mitleidslosigkeit die Existenz der ganzen Branche bedrohen.“
Im Jahr darauf wird es mit Günter Netzer allerdings wieder schillernd. Die Auszeichnung als Fußballer des Jahres teilen sich momentan ausschließlich die Fohlen und die Bayern. Von den 16 Titeln zwischen 1966 und 1981 gehen 15 an Spieler dieser beiden Vereine; elfmal nach München, viermal nach Gladbach. Nur „uns Uwe“ kann 1970 die Reihe durchbrechen.
Passend dazu liefern sich Bayern und Gladbach am fünften Spieltag ihr „Gigantenduell“. Trainer Lattek hat Uli Hoeneß zuletzt als Außenverteidiger spielen lassen, gegen den Titelverteidiger darf er nun neben Gerd Müller als zweite Sturmspitze ran. Prompt bringt er Feuer ins Bayern-Spiel. Helmut Schön sitzt als Beobachter beeindruckt auf der Tribüne: „Das war die beste erste Halbzeit, die ich in der Bundesliga sah. Beide Mannschaften spielten rasend schnell aus dem Mittelfeld heraus. Die Bayern waren großartig und die Mönchengladbacher hielten mit, so gut sie konnten.“ Taktgeber der Darbietung sind Beckenbauer (96 Ballkontakte) und Netzer (98).
Hoeneß und Roth schießen die Tore zum klaren 2:0-Sieg. Endlich haben die Bayern aufblitzen lassen, dass sie in dieser Saison Historisches vorhaben. Noch bleiben sie Zweiter, doch sind sie jetzt punktgleich mit Schalke. Die Gelsenkirchener haben ihr Spiel bei Eintracht Frankfurt 0:2 verloren, vom neuen Goalgetter Scheer ist nichts zu sehen, und Libuda agiert, so eine Zeitung, „wie vor der Erfindung des Schießpulvers“. Noch immer warten sie in Schalke auf die Rückkehr ihres Torjägers Klaus Fischer.
Auch der HSV hat vergeigt, sein zweites Heimspiel in Folge: 1:2 gegen Hertha BSC. Von den Rängen hört man die ersten Denkmalschändungen: „Seeler raus!“
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Paul Breitner macht vor dem anstehenden Länderspiel gegen Mexiko von sich reden. Der Herberger’sche Leitsatz „Elf Freunde müsst ihr sein“, so verkündet er, sei ein „Hirngespinst, vollkommener Blödsinn“. Über den Spielerkreis vor Länderspielen mokiert er sich: Das sei „eine Zeremonie, die oft ins Lächerliche, ins Hirnrissige“ gehe. Mit solchen Ansichten steht er nicht alleine. Auch Beckenbauer verabschiedet sich von Herbergers Diktum: „Stimmt längst nicht mehr .“ Ebenso Günter Netzer, der bereits im Juli in einem Gespräch mit „Bild am Sonntag“ kundgetan hat: „Kameradschaft – im Profi-Fußball gibt es die nicht mehr.“ Bei anderer Gelegenheit nennt Netzer „das Getue mit den elf Freunden“ schlicht „Kokolores“. Vielmehr stünden, wie er in seinem Buch „Rebell am Ball“ erklärt, „elf Geschäftsleute auf dem Platz, von denen jeder seine eigenen Interessen vertritt