71/72. Bernd-M. Beyer

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Название 71/72
Автор произведения Bernd-M. Beyer
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783730705483



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auf dem Mariannenplatz in Kreuzberg, nahe der Mauer, wo sich Berlin in den siebziger Jahren ungeschminkt zeigt, ohne das Make-up geschönter Fassaden. Ein paar türkische Jungs kicken zum Spaß mit einem Ball. Das Fußballspielen auf dem Platz ist verboten, eine Polizeistreife schreitet ein. Die Jungs protestieren, ein schimpfender Passant stellt sich auf ihre Seite, es kommt zum Handgemenge, ein Kameramann eilt herbei, um das Geschehen zu filmen. Die Ordnungshüter rufen Verstärkung, und wenig später nähern sich Polizeisirenen. In ein paar Mannschaftswagen rast Bereitschaftspolizei heran, sperrt den Platz und die Eingänge der angrenzenden Häuser. Am Ende sind drei oder vier Beteiligte festgenommen und die Filmaufnahmen des Kameramannes unbrauchbar gemacht.

      Nebendran, in den Räumen einer besetzten Fabrik am Mariannenplatz 13, beobachten ein paar Leute die Szene vom Fenster aus. Einer von ihnen, ein schmaler junger Mann mit schulterlangen dunklen Haaren und nackten Füßen, nennt sich Rio Reiser und ist Frontmann der Agitrock-Gruppe Ton Steine Scherben.

      Rio wohnt noch nicht lange in Berlin und heißt auch noch nicht lange Rio Reiser. Vorher hat er als Ralph Christian Möbius mit seinen Eltern in Süddeutschland gelebt, zuletzt im südhessischen Nieder-Roden. Er lernt Klavier und Gitarre spielen, singt freiwillig im Schulchor mit, liest viel, besonders gerne Karl May und die Bibel. Mit dieser Lektüre moralisch gerüstet, rockt der Junge den Schulunterricht. Später schreibt er über seinen „ersten Zeck mit einem Religionslehrer“: „Wir waren bei den zehn Geboten und genauer gesagt bei: ‚Du sollst nicht töten.‘ Und ich habe ihn gefragt, was er denn zur Bundeswehr sagt, und er hat gesagt: Die muss sein. Da bin ich richtig aggressiv geworden (…). Ich habe ihn angeschrien, warum er uns so was beibringt, wenn er es selber nicht glaubt.“

      In Nieder-Roden lernt er Ralph Peter Steitz kennen: „Er kam immer zu spät und sah gut aus, hatte schwarze Locken und ein Harpo-Marx-Gesicht.“ Ralph Peter Steitz wird von seinen Kumpeln „Fifi“ gerufen, legt sich aber den Künstlernamen RPS Lanrue zu. Er spielt in einer Band namens Beat-Kinks und sucht einen Sänger. Sie spielen die aktuellen Rock-Hits und irgendwann die ersten selbstgebastelten Songs. So beginnt es.

      In der hessischen Provinz gibt es zeittypischen Ärger. Lanrue: „Wir kannten uns erst ein Jahr, da sind wir in einem Nachbarkaff von fünf oder sechs Dorfjugendlichen verfolgt worden, weil wir lange Haare hatten. Wir waren zusammen auf einer Kirmes, die Typen, so Kleinstadtpsychos, wollten uns die Haare abschneiden. ‚Ey Gammler‘, haben sie uns beschimpft. Wir sind abgehauen, es war knapp. So was verbindet.“ Manchmal bewahrt sie auch Gert Möbius, der große Bruder, davor, Kloppe zu beziehen.

      Ralph Möbius mag nicht mehr Ralph Möbius heißen; der Name, meint er, „erinnerte mich an Arztfilme aus den vierziger, fünfziger Jahren“. „Rio“ steht schnell fest, weil ihn seine Kumpels so rufen. Und den „Reiser“ entleiht er einem Roman des Sturm-und-Drang-Dichters Karl Philipp Moritz. Dessen jugendlicher Protagonist Anton Reiser strebt als Wanderschauspieler – meist vergebens – nach künstlerischer Anerkennung. Ein wenig wandert Rio ihm nach. Zunächst schreibt er Musikstücke für Theaterprojekte vor allem seiner älteren Brüder Gert und Peter, die mit „Hoffmanns Comic Theater“ einige Furore machen. In deren Windschatten gelangen Rio Reiser und sein Freund Lanrue schließlich nach Berlin.

       ***

      Das Westberlin jener Jahre bebt, hier kulminieren frühzeitig und besonders heftig die Veränderungen, die die westdeutsche Gesellschaft durchschütteln. Hier ist der Protest gegen miefige Autoritäten radikaler und die Reaktion der Staatsgewalt härter. Am 2. Juni 1967 stirbt der Student Benno Ohnesorg durch eine Polizeikugel, nachdem er an einer Demonstration gegen den Schah teilgenommen hat. Rio geht in dieser Nacht über den Kurfürstendamm, hört von erregten Passanten Wortfetzen wie „Krawallbruder“, „selber schuld“ und „Langhaaraffen“.

      Genau vier Wochen nach Ohnesorgs Tod feiert im Berliner Theater des Westens die angeblich erste, vor allem aber experimentelle Beat-Oper „Robinson 2000“ ihre Premiere, ein Projekt der Gebrüder Möbius incl. Rio. „Feiern“ ist allerdings das falsche Verb für das tatsächliche Desaster, das sich dort anbahnt. Das Premierenpublikum lacht an den falschen Stellen, und der Applaus am Ende klingt ironisch. Nicht alles geht, auch nicht in Berlin.

      Die subkulturelle Szene in der Stadt vergrößert sich rasant: durch Studenten und Akademiker, die den Marxismus oder zumindest die linke Pose entdecken; durch Jugendliche, die keinen Bock auf eine bürgerliche Karriere haben; durch Schüler, die vor autoritären Lehrern oder Eltern fliehen; durch Wehrdienstverweigerer, die in Scharen nach Westberlin strömen, weil die Stadt völkerrechtlich nicht zur Bundesrepublik zählt und daher keine Wehrpflicht kennt. Und die Szene zersplittert: in DDR-orientierte Kommunisten, Maoisten unterschiedlicher Couleur, Trotzkisten, Radikalsozialisten, Pazifisten und Anarchisten; in Hippies, Träumer, Bohemiens, Künstler, Lesben, Schwule und Transvestiten, Spinner, Esoteriker, Faulenzer, Erotomanen, Dealer und Konsumenten von Drogen jeder Art. Allenthalben hört man Bekenntnisse, die vor Kurzem kaum jemand gewagt hätte.

      Mitten drin hängt Rio Reiser mit seinen Musikprojekten, der Lehrlingstheatertruppe Rote Steine und vagen Plänen. Schließlich tut er sich mit seinem alten Freund Lanrue und dem Bassisten Kai Sichtermann zusammen, die beide noch bei Hoffmanns Comic Theater aktiv sind, und gründet mit ihnen Ton Steine Scherben. Die Rolling Stones stehen Pate bei der Namensgebung, aber Rio behauptet: auch Heinrich Schliemann. Der soll, als er Troja ausbuddelte, gesagt haben: „Alles, was ich fand, waren Ton, Steine und Scherben.“

      Mit marxistischer Theorie und ideologischen Grabenkämpfen kann Rio Reiser nichts anfangen; wie er später schreibt, „be herrschte ich weder das notwendige Soziologen-Deutsch, noch hatte ich Lust, im Berliner Anarcho-Polit-Dialekt zu schreiben“. Eher diffus träumt er von radikalen Freiheiten und „der besten aller möglichen Welten“, will Teil einer Gegenkultur sein gegen Verhältnisse, mit denen er sich nicht identifizieren mag. Deutsch singen die Scherben, um besser verstanden zu werden, denn im Kreuzberg jener Jahre finden sie ihr Publikum nicht gerade im Bildungsbürgertum. Das Manifest der Gruppe, unter dem Titel „Musik ist eine Waffe“ abgedruckt in der Szene-Zeitung „Agit 883“, fordert schlicht und eindeutig „Lieder für das Volk“: „Unsere Musik soll ein Gefühl der Stärke vermitteln. Unser Publikum sind Leute unserer Generation: Lehrlinge, Rocker, Jungarbeiter, ‚Kriminelle‘, Leute in und aus Heimen. Von ihrer Situation handeln unsere Songs. Lieder sind zum Mitsingen da. Ein Lied hat Schlagkraft, wenn es viele Leute singen können. (…) Wir sind in keiner Partei und in keiner Fraktion. Wir unterstützen jede Aktion, die dem Klassenkampf dient. Egal, von welcher Gruppe sie geplant ist.“

      Eine solcher Aktionen heißt: Räume für ein selbstverwaltetes Jugendzentrum in Kreuzberg zu schaffen. Unter den vielen leer stehenden, zum Abriss freigegebenen Häusern wird ein Fabrikgebäude ausgesucht, direkt am Mariannenplatz. Peter-Paul Zahl, Schriftsteller, Druckereibesitzer und einer der Macher von „Agit 883“, organisiert am 3. Juni 1971 in der TU-Mensa eine Fete, auf der auch die Scherben auftreten. Am Ende ruft Rio die Besucher auf, zum Mariannenplatz zu ziehen und das Haus zu besetzen. Die Polizei ist überrumpelt, taucht erst am nächsten Morgen auf und komplimentiert die Besetzer hinaus. Am nächsten Abend sind sie wieder da, in größerer Zahl als zuvor. Der Westberliner Senat hält es nun für klüger zu verhandeln. Die Besetzer dürfen bleiben.

      Das Gebäude wird renoviert, für musikalische Untermalung sorgen die Scherben, die dort ihre Songs proben. Mittlerweile sind sie bekannt genug, dass der Süddeutsche Rundfunk ein Fernsehteam für das Jugendmagazin „Jour fixe“ hinschickt. Die TV-Leute filmen in der alten Fabrik just an jenem Augusttag, als die Polizei am Mariannenplatz die fußballspielenden Türken festnehmen will. Nikel, der Manager der Scherben, ist der zufällige Passant, der den Jungs zu Hilfe eilt. Der Kameramann, der die Rangeleien aufnehmen will, gehört zum Fernsehteam. Nikel wandert aufs Polizeirevier, der Film in den Reißwolf. So gibt’s von diesem Ereignis nur die Berichte der Scherben und TV-Aufnahmen lediglich von ihrem Song „Allein machen sie dich ein“.

       SEPTEMBER 71

      „Wenn die Schalker so weiterspielen, dann werden sie Deutscher Meister.

      Trainer GUYLA LORANT nach der Niederlage seines 1. FC Köln am 4. Spieltag in der Glückauf-Kampfbahn