71/72. Bernd-M. Beyer

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Название 71/72
Автор произведения Bernd-M. Beyer
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783730705483



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den ruhmreichen S04 wieder alles möglich macht.

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      Eine Randnotiz in den Zeitungen, am Wochenende des ersten Spieltags: Der Leverkusener Turner Hermann Höpfner, Mitglied der deutschen Mannschaft für die nahenden Olympischen Spiele in München, hat sich bei einem Lehrgang die Kopfhaare komplett abscheren lassen. Er will damit gegen einen Beschluss des Internationalen Turnerbundes protestieren. Denn der hat festgelegt, künftig bei Europameisterschaften Turnern mit allzu langen Haaren Punkte abzuziehen. Aus ästhetischen Gründen, wie es heißt.

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      Reinhard Libuda dagegen hat es in den vergangenen zwei Jahren wachsen lassen: vom konventionellen Streichholzmaß auf eine ohrenverdeckende Länge. Und an den Backen reichen die Koteletten fast bis zum Kinn. In der Bundesliga gibt es keine Punktabzüge dafür. Libudas neues Outfit wirkt noch milde im Vergleich zu den Mähnen, die einige seiner Mitspieler vorzeigen, allen voran die Kremers-Zwillinge, Aki Lütkebohmert und Teenie-Schwarm Norbert Nigbur. Dessen Haarpracht findet sogar der als liberal bekannte Bundestrainer Schön problematisch: Er könne keinen Torhüter brauchen, dem „die Mütze nicht mehr passt“. Nigbur lässt sich das Haupthaar gehorsam stutzen. Ein paar Zentimeter.

      Auf den Mannschaftsfotos jener Saison zählen die Schalker jedenfalls eindeutig zu den wildesten Hardrockern, zusammen mit ihren Nachbarn vom BVB. Weitgehend ohrfrei noch die biederen Stuttgarter und die Bremer mit ihrem gestrengen Trainer „Zapf“ Gebhardt. Denn der glaubt: „Zu lange Haare stören beim Köpfen. Außerdem hören Spieler dann schlecht.“ Auch Wilhelm Neudecker, autoritärer Präsident des FC Bayern, hat erst ein Jahr zuvor dekretiert: „Nacken und Gesicht eines deutschen Fußballers müssen frei bleiben!“ Doch in dieser Frage muss er kapitulieren; auch in München sind Kurzhaarschnitte inzwischen spießige Vergangenheit.

      Damit liegen die Kicker im Trend. Mit dem üppigen Haarwuchs haben antiautoritär gestimmte Jugendliche Mitte der sechziger Jahre für verständnisloses Kopfschütteln bei ihren Eltern gesorgt, inzwischen ist die einst rebellische Attitüde zur Modeerscheinung geworden. Doch noch immer verweist sie darauf, dass sich binnen kurzer Zeit vieles verändert hat.

      Was vom gesellschaftlichen Umbruch bei vielen Fußballern ankommt, manifestiert sich neben den langen Haaren äußerlich noch in schnellen Autos, engen Hosen und einer großen Klappe. Anders gesagt: Man pflegt einen gesunden Willen zur Individualität sowie einen etwas großmäuligen Hedonismus. Letzteres mag auch damit zusammenhängen, dass die Spieler zur ersten deutschen Fußballergeneration zählen, die am Geldsegen des Profitums ordentlich teilhaben kann. Zumindest die Spitzenspieler verdienen gut und dürfen ihr Gehalt durch Werbung aufbessern. Einer der Ersten ist 1966 Franz Beckenbauer, der für 12.000 Mark Tütensuppen löffelt; „Kraft in den Teller, Knorr auf den Tisch.“ Vor der Saison 1971/72 hat der Kaiser erfolgreich um eine Erhöhung seiner Apanage gepokert: „Ich bin mit dem FC Bayern nicht verheiratet. Wenn ich höre, was andere Spieler verdienen, werde ich ja fast mit einem Butterbrot abgespeist.“

      Wie dick die Butter auf sein neues Brot geschmiert wird und ob womöglich noch eine Scheibe Wurst obendrauf liegt, wird nicht bekannt. Monatsgagen von bis zu 30.000 Mark, die inzwischen in Spanien von Spitzenspielern verdient werden, gibt es in der Bundesliga noch nicht, auch wenn unter der Hand zuweilen Bargeld fließt, das in keiner Statistik auftaucht. Aki Lütkebohmert jedenfalls muss auf Schalke mit einem Grundgehalt von 1.200 Mark anfangen. Das ist nach dem offiziellen Lizenzspielerstatut sogar schon die oberste Grenze und entspricht ungefähr dem bundesrepublikanischen Durchschnittseinkommen. Bei einem wie Beckenbauer dürfte es deutlich mehr sein, doch allenfalls die Hälfte von dem, was er in Spanien kassieren könnte. Immerhin sind vor einiger Zeit die offiziellen Mindestgehälter der Profis angehoben worden: von 250 auf 400 Mark.

      Eine Niederlage und ein Unentschieden haben die „Kicker“-Experten den Youngstern von Schalke 04 für die ersten beiden Spiele prophezeit. Es werden zwei Siege. Beim 2:0 über den MSV Duisburg vor 30.000 euphorischen Zuschauern in der Glückauf-Kampfbahn spielt Stan Libuda groß auf. Dass die Mannschaft nun mit Erwin Kremers endlich einen starken Linksaußen besitzt, entlastet auch den Stan auf dem rechten Flügel. Zwei Sololäufe in der 40. und der 89. Minute schließt Libuda jeweils mit Traumtoren ab, der „Kicker“ verleiht ihm die Bestnote „1“. Beim 2:0 schnappt sich Libuda den Ball an der eigenen Strafraumgrenze, treibt ihn „wie die Windsbraut“ („WAZ“) über das gesamte Spielfeld, lässt ein, zwei Duisburger aussteigen, umspielt den Torhüter und schiebt das Leder ins leere Tor. Der Treffer wird in der ARD-„Sportschau“ zum „Tor des Monats“ gekürt.

      Auch am zweiten Spieltag bleibt Schalke 04 also Tabellenführer, und in Gelsenkirchen wachsen die Träume von einer großen Zukunft. Präsident Günter Siebert bekennt nach dem Spiel, er wolle spätestens „in der nächsten Spielzeit eine Mannschaft stehen haben, die Meister werden kann“. Auch für die laufende Saison mag er „eine freudige Überraschung“ nicht ausschließen. Hermann Kerl, Vorsitzender des Schalker Verwaltungsrates, tönt sogar: „Die Tabellenführung geben wir nicht mehr her!“ Die Schalker Bosse lieben starke Sprüche.

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      Libuda ist erst der sechste Schütze eines „Tores des Monats“, denn diese Abstimmung hat die ARD-„Sportschau“ im März 1971 neu eingeführt. Die Zuschauer müssen ihre Wahl per Postkarte einsenden. Auch sonst regiert das analoge Zeitalter. Die „Sportschau“ ist kurz – von 17:45 bis 18:30 Uhr, wobei bestenfalls eine halbe Stunde Fußball geboten wird. Meist sieht der Zuschauer nur Ausschnitte aus drei Spielen, mehr erlaubt der DFB nicht. Zudem ist der technische Weg beschwerlich: Vom Stadion werden die belichteten Filme per Motorrad nach Köln in die Filmkopieranstalt des WDR gebracht. Dort wählt ein Redakteur am Schneidetisch die Szenen aus, die gezeigt werden sollen; der Rest des Filmmaterials wandert in den Reißwolf. Aus naheliegenden Gründen beginnt die Berichterstattung recht oft mit einem Heimspiel des 1. FC Köln.

      Die Tabellen werden zunächst per Hand gesteckt, dann abgefilmt, und die Moderatoren – darunter Dieter Adler, Ernst Huberty, Hans-Joachim Rauschenbach und Werner Zimmer – sitzen ziemlich steif hinter einem Schreibtisch. Nüchternheit ist Reporterpflicht, emotionale Ausbrüche auch bei Direktübertragungen verpönt. Immerhin gibt’s 1971 bereits Farbe in der Sportschau. Für die Senderechte kassieren die Bundesligisten gemeinsam rund drei Millionen Mark von ARD und ZDF. Die Summe wird brüderlich durch 18 geteilt, der Tabellenplatz spielt keine Rolle , an die Bayern wird kein Pfennig mehr ausgeschüttet als an Rot-Weiß Oberhausen.

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      Fortuna Düsseldorf steht mit einem Bein noch in der guten alten Fußballzeit. Der Traditionsverein hat eine lange Durststrecke in der Zweitklassigkeit hinter sich, mit einigen vergeblichen Aufstiegsversuchen. Zur Saison 1970/71 schließlich fahndet man per Zeitungsanzeige nach einem Retter: „Renommierter Regionalligaverein sucht fähigen Trainer“. Unter den Bewerbern entscheidet man sich für Heinz Lucas, auch wenn der gerade dabei ist, mit Darmstadt 98 aus der Regionalliga Süd abzusteigen. Doch der Neue bewährt sich, bringt der Mannschaft bei, zielstrebiger und schneller zu spielen. In der Aufstiegsrunde überwindet man unter anderem den 1. FC Nürnberg und den FC St. Pauli und schafft (gemeinsam mit dem VfL Bochum) den Eintritt in die Bundesliga.

      Dort hält man sich mit finanziellen Abenteuern zurück: Die Spieler, darunter die späteren Nationalkicker Dieter Herzog und Reiner Geye, bleiben weiterhin Halbprofis, gehen also nach dem Training noch einer „regulären“ Beschäftigung nach. Und als Fußballer verdienen sie alle das gleiche Gehalt – Fortuna zahlt einen Einheitslohn. Und zwar denselben wie in der Regionalligasaison zuvor. „Fußball ist ein Mannschaftsspiel“, begründet Trainer Lucas die in der Bundesliga einmalige Maßnahme. „Da ist ein Mann so wichtig wie der andere.“ Auch das Verhältnis zwischen Trainer und Spieler definiert der 51-Jährige erstaunlich: „Die Kriegsgeneration war es gewohnt, dass der Trainer sich des Kasernenhoftons bediente. Heute sind die Spieler anders zu behandeln.“

      Schlecht fährt man damit nicht: Zwar geht der Auftakt bei den Bayern 1:3