71/72. Bernd-M. Beyer

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Название 71/72
Автор произведения Bernd-M. Beyer
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783730705483



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zur Begegnung 1. FC Kaiserslautern gegen FC Bayern am 6. Spieltag. Die Fans am Betzenberg empfangen ihn daraufhin mit einem lauten Pfeifkonzert. Die Bayern gewinnen 2:0.

      „Wenn die Funktionäre schon nicht genau Bescheid wissen, dann sollen ausgerechnet wir Fußballer uns in den Paragraphen auskennen.

      Skandalsünder LOTHAR ULSASS über die umstrittene Frage, ob Spieler von dritten Vereinen Siegprämien kassieren dürfen

      „Der DFB sollte zugeben, dass seine Rechtsorgane überfordert sind.

      DR. JOSEF AUGSTEIN, Rechtsanwalt von Horst-Gregorio Canellas

      „Tausend Feuer in der Nacht / haben uns das große Glück gebracht. / Tausend Freunde, die zusammenstehn / dann wird der FC Schalke niemals untergehn.“ So heißt es in dem Schalker Vereinslied, das Jahre später für Kontroversen sorgen wird, weil es darin auch die Zeile gibt: „Mohammed war ein Prophet / der vom Fußballspielen nichts versteht.“ Doch an diesem 1. September wird es in der völlig ausverkauften Glückauf-Kampfbahn unbefangen und inbrünstig gesungen. Und vor allem laut.

      Im „größten Siegestaumel seit vielen Jahren“ („SZ“) schreien sich 38.000 Zuschauer die Kehle aus dem Leib, denn Unfassbares geschieht vor ihren Augen: Klaus Scheer, Ersatzstürmer für den noch immer verletzten Klaus Fischer, schlägt in der ersten Halbzeit gegen den 1. FC Köln gleich viermal zu: in der 2., 6., 33. und 42. Minute. Und das, obwohl ihm mit Wolfgang Weber ein starker und erfahrener Verteidiger gegenübersteht. Nach der Halbzeit trifft er sogar noch ein fünftes Mal, 6:2 lautet der Endstand. „Super! Sagenhaft!“, schlagzeilt „Bild“. Die Kölner versuchen sich mit Trainer Gyula Lorant gerade an der Raumdeckung, ein Novum, das gegen Schalke überhaupt nicht funktioniert und anschließend von nicht wenigen Experten für erledigt erklärt wird. Das sei nichts „für Spieler in unseren Breitengraden“, schimpft Wolfgang Overath, denn die „brauchen Aufgaben, die sie zu erfüllen haben“. Der hitzköpfige Mannschaftskapitän ist im Mittelfeld das Herz der Kölner, zugleich ein gestandener Nationalspieler und wie sein Kollege Weber ein Vizeweltmeister.

      Inzwischen haben die Medien statt des Zweikampfs Bayern/Gladbach einen Dreikampf um die Meisterschaft ausgerufen. Zumal beide Favoriten an diesem Spieltag nur ein Unentschieden holen: die Bayern ein 1:1 in Oberhausen, das wie erwähnt einige RWO-Fans übergriffig werden lässt. Und die Fohlen ein elendes 0:0 zu Hause gegen Stuttgart. Nach der seinerzeit gültigen Zwei-Punkte-Regel glänzt Schalke also mit 8:0 Punkten weiter an der Tabellenspitze, und Libuda, so bescheinigt es ihm die „WAZ“, „wirbelte wie in seinen besten Tagen“. Stan selbst sagt: „Ich habe mich noch nie besser gefühlt.“

      An schöne Gefühle, an Ruhm, Ehre und die Meisterschale denkt sein Mitspieler, Abwehrrecke Klaus Fichtel, allerdings nicht, als er nach den Qualitäten seines Trainers Horvat gefragt wird. Die ehrliche Antwort lautet: „Ich glaube, er ist für unsere Mannschaft genau der richtige Mann. Mit ihm können wir noch viel Geld verdienen.“

      Der überglückliche Torjäger Klaus Scheer lässt sich von einem „Bild“-Reporter am Morgen nach dem Spiel zu einem Fototermin überreden. Der Journalist kutschiert den erst 20-jährigen Scheer zu einer Essener Bank, wo auf dem Tisch eines Nebenzimmers Tausendmark-Scheine gestapelt sind. Am nächsten Tag erscheint die „Bild“ mit Fotos eines Schalker Stürmers, der fröhlich mit braunen Geldscheinen um sich wirft.

       ***

      Mittlerweile hat auch in der höchsten ostdeutschen Spielklasse, der DDR-Oberliga, die neue Saison begonnen. Scheine regnet es dort nicht, aber richtig fair geht es auch nicht zu. Denn in der Tabelle taucht unvermittelt ein neuer Name auf: FC Vorwärts Frankfurt. Kein Aufsteiger, sondern die Kreation realsozialistischer Sportpolitik. Gleichzeitig fehlt in der Tabelle ein alter Bekannter: der FC Vorwärts Berlin. Kein Absteiger, sondern das Opfer ebendieser Politik, die einen kompletten Fußballklub per Funktionärsbeschluss aus der Hauptstadt an die Oder verfrachtet hat.

      Der FC Vorwärts Berlin, für den Armeeangehörige kicken, ist nicht irgendein mittelmäßiger Klub, sondern bis dato DDR-Rekordmeister. Allein in den sechziger Jahren holt er fünf von zehn Meisterschaften. Diese Erfolge gefallen einem SED-Genossen allerdings gar nicht: Erich Mielke, allgewaltiger Minister für Staatssicherheit, erst Vorsitzender und dann Ehrenvorsitzender von Dynamo Berlin. Das ist der Klub der Stasi und der Volkspolizei, und er steht klar im Schatten seiner lokalen Konkurrenten. Sportlich überflügelt ihn der FC Vorwärts, in der Zuschauergunst der 1. FC Union. Mielke gedenkt, das zu ändern.

      Da trifft es sich gut, dass in Frankfurt an der Oder ein ehrgeiziger SED-Bezirksparteichef namens Erich Mückenberger sitzt, den es schon lange wurmt, dass seine Stadt nicht in der Oberliga vertreten ist. Verteidigungsminister Heinz Hoffmann, Jagdfreund von Mückenberger und letztlich der höchste Chef aller Armeefußballer, ist in den Deal eingeweiht. Wer letztlich als treibende Kraft dabei fungiert, den Klub umzusiedeln, ist umstritten, doch ist sich die Geschichtsschreibung einig, dass die Herren Mielke, Mückenberger und Hoffmann hinter dem unsportlichen Transfer stehen. Die offizielle Begründung jedenfalls ist reine Bürokratenpoesie. Sie findet sich in der „Berliner Zeitung“ kurz vor der Saison 1971/72: „Zur Begründung des Umzugs erklärte Admiral Verner [stellv. Verteidigungsminister, Anm. d. A.], dass dieser Schritt im Interesse der weiteren Stärkung des Oberliga-Kollektivs erfolge und die Erhöhung des Ansehens der Nationalen Volksarmee und der sozialistischen Sportbewegung zum Ziel habe.“

      Nicht gefragt werden Anhänger und Spieler. Jürgen Nölder, der auch „Puskás der DDR“ genannt wird, muss als Mannschaftskapitän offiziell die Entscheidung begrüßen, doch in Wahrheit hält er sie für „hirnlos“. Dem Buchautor Hanns Leske erzählt er: „Die Spieler wurden nicht konsultiert, sondern von dem Beschluss selbst überrascht.“ Vorerst müssen sie nun täglich zum Training nach Frankfurt pendeln, morgens hin, abends zurück, lockere drei Stunden Busfahrt pro Tag. Der 30-jährige Nölder verabschiedet sich noch in der laufenden Saison aufs Altenteil, andere gestandene „Berliner“ haben ähnliche Gedanken. Das erste Pflichtspiel in der ungeliebten neuen Heimat, am 1. September vor 8.000 Zuschauern im halbleeren Stadion der Freundschaft, gewinnt man noch 3:1 gegen Stahl Riesa, und am Saisonende wird man immerhin Fünfter.

      (Danach zerfällt die Mannschaft und endet als Fahrstuhlelf, ohne je wieder einen Titel zu gewinnen. Die will sich fortan Mielkes hochgepäppelter FC Dynamo greifen. 1972 wird der Stasi-Klub bereits Vizemeister, danach sammelt man sich eine Weile hinter Dynamo Dresden und dem 1. FC Magdeburg, die Anfang der siebziger Jahre die spielerische beste Zeit des DDR-Fußballs einleiten. Doch dann schlägt Mielkes Stunde. Sein Dynamo wird zehnmal hintereinander DDR-Meister.)

       ***

      Wieder in Berlin, jetzt West: Rio Reiser, der einige Zeit in Kommunen und in der alten Wohnung seiner Großeltern gelebt hat und ziemlich abgebrannt ist, kann in eine leerstehende Acht-Zimmer-Altbau-Etage ziehen, Tempelhofer Ufer 32. Mit ihm wohnen dort noch sein Kumpel aus Nieder-Roden, Lanrue, der bei den Scherben Gitarre spielt und gemeinsam mit Rio die Songs schreibt, dazu Scherben-Bassist Kai Sichtermann und mal der eine, mal die andere. Außerdem ein älteres Ehepaar, die Billings, die schon immer dort zur Untermiete wohnten und lieber die neuen, unruhigen Mitbewohner ertragen wollen als den Umzug ins Altersheim.

      Ans „T-Ufer“, wie es die Szene nennt, hat Jörg Schlotterer die Scherben geholt, ein gutaussehender sportlicher junger Mann mit heller Afrofrisur und bunter SDS-Vergangenheit. Zusammen mit seiner Begleiterin Christine, einer Malerin und Ehefrau des Rechtsanwalts Otto Schily, hat er Rio in einer Berliner Diskothek angesprochen. Man unterhält sich angeregt. Rio glaubt aus ihren Äußerungen herauszuhören, „dass die beiden zum Sympathisantenkreis der RAF gehörten“. Christine Schily wiederum glaubt, aus Rios Äußerungen herauszuhören, dass er homosexuell ist. Das Gespräch, so Rio später, „endet damit, dass Christine ihr Bedauern darüber äußerte, dass es ihres Wissens keinen schwulen Genossen in der RAF gäbe. Sie versprach, Bescheid zu sagen, wenn es so weit wäre.“

      Eigentlich hat Schlotterer Nachmieter gesucht, weil