71/72. Bernd-M. Beyer

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Название 71/72
Автор произведения Bernd-M. Beyer
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783730705483



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Fußballvolk, „vom Ruhrkumpel bis Beate Uhse“. Sauber gehe es im Kapitalismus schließlich nirgendwo zu, nichts anderes hätten Canellas’ Enthüllungen dem Volk klargemacht: „Was bisher nur für die hohe Politik galt, hatte fortan auch für unseren schönen und kameradschaftsfördernden Fußballsport Gültigkeit: Das ist ein schmutziges Geschäft.“ Der Redakteur sieht einen Ausweg, auf den fünf Jahrzehnte später kommerzkritische Fans noch immer verfallen werden: „Bei solcher Umweltverschmutzung bleibt nur die Flucht aufs Land. Denn dort, in der Kreis- und Bezirksklasse, wird für gezinkte Ergebnisse noch in Naturalien gezahlt. Mit einigen Kästen Bier und saftigen Schinken.“

      Dass „Konkret“ die Sexartikel-Händlerin Beate Uhse ins Spiel bringt, ist kein Zufall. Die sexuelle Enttabuisierung, die parallel zur Jugendbewegung der sechziger Jahre begann, hat der Dame gute Geschäfte und Prominenz eingebracht. Auch „Konkret“ will unter Herausgeber Klaus Rainer Röhl – ganz kapitalistisch – von der neuen Freizügigkeit profitieren und füllt die Titelseite sowie bunte Fotostrecken im Heft mit den blanken Busen ziemlich junger Frauen. Dieses nackte Umfeld und Bekenntnisse wie „Orgie frei Haus“, „Ekstase über den Wolken“ oder „Lolita für einen Sommer“ halten bekannte linke Publizisten nicht davon ab, für „Konkret“ zu arbeiten. Anfangs tat dies auch Ulrike Meinhof, einige Jahre Röhls Ehefrau, bevor sie sich mit ihm persönlich wie politisch überworfen hat. Ansonsten schreiben Sebastian Haffner, Günter Wallraff, Franz Xaver Kroetz und Bernt Engelmann ebenso regelmäßig wie die Gerichtsreporterin Peggy Parnass, die als Kind den Holocaust überlebt hat, oder Wibke Bruns, die vor kurzem erst, am 12. Mai 1971 um 22:15 Uhr, im ZDF aufgetreten ist. Worüber sich, wie sie erzählt, ziemlich viele „das Maul zerrissen“ haben. Denn mit ihr verliest an jenem Abend zum ersten Mal im deutschen Fernsehen eine Frau die Nachrichten.

      Auf die Idee, Pornografie als sexuelle Enttabuisierung zu veredeln, sind auch andere gekommen. Die „St. Pauli Nachrichten“, deren Name nicht auf den Fußballverein, sondern auf Hamburgs „sündige Meile“ zielt, verfügen über ein ähnliches Fotoarchiv wie Röhls „Konkret“. Das Blatt ist eine ziemlich gesprenkelte Blüte der 68er-Bewegung und wurde vom Szene-Fotografen Günter Zint gegründet. Auch hier wollen Autoren wie Stefan Aust und Henryk M. Broder linke Politik mittels freizügiger Erotik an den Mann bringen, wobei der sexuelle Voyeurismus eine deutlich größere Rolle spielt als bei „Konkret“. Vielleicht deshalb beträgt die Auflage zeitweise 800.000 Exemplare.

      Die Sammlung von 40.000 Sexfotos in der Redaktion der „St. Pauli Nachrichten“ ist auch das Ziel von Einbrechern, die in der Nacht zum 25. August dort einsteigen. Die 300 Mark in der Kasse lassen sie liegen, die Fotos wühlen sie aus den Schränken. Aber nicht, um sie mitzunehmen, sondern um sie zu vernichten. Per Brandstiftung wird ein Großteil der Bilder zerstört. Hinterher gibt es die telefonische Drohung, man werde die übrigen Fotos auch noch verbrennen. Wer dahinter steckt – ob konservative Sittenwächter oder empörte Feministinnen –, wird nie ermittelt.

      Im Hamburger Volksparkstadion beginnt der dritte Spieltag mit einer stolz angekündigten Neuerung: Vor dem Anpfiff sollen zwei Schlagerstars das Publikum „anheizen“. Ob das den wenig bekannten Sternchen Claudia Gordon und Jonny Hill gelungen ist, wird nirgendwo berichtet. Aber immerhin ist es mit 41.000 Zuschauern das weitaus am besten besuchte Spiel dieser Runde.

      Zu Gast ist Spitzenreiter FC Schalke 04, der erneut gewinnt, obwohl sein Goalgetter Klaus Fischer verletzt fehlt und Libuda von einer Grippe geplagt wird. Entscheidend ist dieses Mal die starke Defensive. Der Hamburger SV ist ebenfalls gut in die Saison gestartet, vor allem Uwe Seeler, der 35-jährige Fußball-Methusalem, beeindruckt mit drei Toren in den ersten beiden Spielen. Gegen Schalke verpasst er mit einem Pfostenschuss knapp den 1:1-Ausgleich. Es ist Uwes letzte Saison für den HSV.

      In Köln sehen währenddessen nur 15.000 einen mühsamen 2:1-Sieg gegen eine schwache Borussia aus Dortmund. Der FC spielt in der Müngersdorfer Radrennbahn, weil nebenan das große Stadion für die Weltmeisterschaft 1974 umgebaut werden soll. Allerdings zeichnet sich schon ab, dass finanzielle Probleme das Projekt verzögern. Das neue Stadion wird am Ende zwar fertiggestellt – aber ein kleines bisschen zu spät, nämlich ein Jahr nach der WM.

      Die kleine Radrennbahn besitzt eine alte Holztribüne, auf der die Zuschauer durch gemeinsames Füßetrampeln mächtig Radau machen können. Durch eine ebenfalls lärmfördernde Stahlrohrtribüne wird das Fassungsvermögen auf 29.000 gesteigert. So entsteht eine dichte Atmosphäre, die manchen Gegner das Fürchten lehrt. Kölns Verteidiger Wolfgang Weber erzählt später: „Plötzlich merkte jeder, was für ein Hexenkessel diese Radrennbahn sein konnte.“

       ***

      Hinter den Schalkern belegen Bayern München und Borussia Mönchengladbach nun die Plätze zwei und drei. Vor der Saison sind sich alle Experten und sämtliche zu den diversen „Prominententipps“ geladene Laien einig gewesen: Die Meisterschaft wird zwischen den Bayern und den Borussen vom Niederrhein entschieden. Seit drei Jahren spielen die beiden Rivalen auf Augenhöhe: 1969 wurden die Bayern Meister, 1970 und 1971 die Gladbacher. Die „Fohlen“ sind also der aktuelle Titelträger, während die Münchner als amtierende DFB-Pokalsieger antreten.

      Überraschend viele Parallelen gibt es zwischen den beiden Vereinen: 1965 sind sie aufgestiegen, beide mit jungen Mannschaften aus regionalen Kickern. Die sechziger Jahre sind noch keine Zeit, in der ein deutscher Klub sich ein Starensemble zusammenkaufen kann. Er ist darauf angewiesen, Talente zu erkennen und früh an Land zu ziehen. Es mag ein historischer Zufall gewesen sein, der in Bayern wie am Niederrhein einige hochtalentierte Spieler zusammengeführt hat. In München sind es der Regent Franz Beckenbauer, der Torgarant Gerd Müller und der stets zuverlässige Sepp Maier; in Gladbach finden sich der geniale Regisseur Günter Netzer, der unverwüstliche „Terrier“ Berti Vogts und Goalgetter Jupp Heynckes.

      Doch um aus solchen Spielern Erfolgsteams zu schweißen, reicht schieres Glück nicht, dazu braucht es clevere Manager und kluge Trainer. In Gladbach heißen die Macher Helmut Grashoff und Hennes Weisweiler, in München Wilhelm Neudecker und, seit einem Jahr, Udo Lattek. Der ehemalige DFB-Assistenztrainer Lattek hat bei seinem Dienstantritt 1970 zwei Jugendnationalspieler mitgebracht, Paul Breitner und Uli Hoeneß; sie drücken den Altersschnitt des Bayern-Kaders auf frische 23 Jahre. Beide Youngster haben eine starke Saison gespielt, doch der Titel ist knapp am Niederrhein geblieben.

      Franz Beckenbauer steht mit 25 Jahren im Zenit seines Könnens. Sein Umgang mit dem Ball wirkt nicht wie antrainierte Technik, sondern wie spontane Kunst. Auf dem Platz hat sich Beckenbauer eine ganz eigene Position geschaffen, indem er den defensiven „Ausputzer“ alter Schule zum offensiven „Libero“ revolutioniert hat. In dieser Rolle gönnt er sich so viele Freiheiten nach vorne, dass er meist als der eigentliche Dirigent seiner Mannschaft erscheint. Als die Bayern am dritten Spieltag 4:1 gegen Eintracht Braunschweig gewinnen, steuert er zwei brillante Treffer zum Sieg bei, und Braunschweigs Trainer Otto Knefler schwärmt: „Franz ist Weltklasse, sein Bandenspiel im Strafraum mit Müller ist tödlich.“ Er, Knefler, werde beim DFB beantragen, dass eine Mannschaft, die gegen Beckenbauer spiele, künftig mit einem Mann mehr antreten dürfe: „Nur ein zwölfter Mann könnte ihn halten.“ Gibt es dafür kein anderes probates Mittel? „Ich weiß keines.“

      Doch beliebt in fremden Stadien sind weder der Kaiser noch seine Bayern. Allerorten will man ihnen die Lederhosen ausziehen, bevor sie überhaupt welche tragen müssen. Im „Kicker“ klagt zum dritten Spieltag eine junge Leserbriefschreiberin: „Ich heiße Elfriede Sedlmayer, bin 16 Jahre alt und seit Jahren Anhängerin des FC Bayern München. Vor allem gehört mein Herz Franz Beckenbauer, den ich für den besten Fußballer der Welt halte. Vielleicht können Sie sich deshalb vorstellen, wie sehr ich mich Samstag für Samstag ärgere, wenn dieser Weltklassespieler erbarmungslos und oft dazu noch ohne Grund ausgepfiffen wird.“

      Wie zum Beweis berichtet ein paar Tage später, nach einem Bayern-Auftritt in Oberhausen, Trainer Udo Lattek von Übergriffen einiger RWO-Fans: „Franz Roth quetschte sich den Ringfinger der rechten Hand in der Tür des Busses, als der Fahrer sie eilends schloss, weil ein Fanatiker mit dem Ende seiner