71/72. Bernd-M. Beyer

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Название 71/72
Автор произведения Bernd-M. Beyer
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783730705483



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Er weiß sich darin einig mit dem Kaiser, der „doch nicht für den Adler auf der Brust“ spielt und überhaupt meint: „Ich bin kein Deutscher, ich bin Bayer. Das ist ein ganz großer Unterschied.“ Der junge Wilde Breitner mag da nicht zurückstehen: „In der Nationalelf spiele ich nicht für die Nation, sondern für mich.“ (Allerdings: Hier geht es um eine Zeit, in der das amtierende Staatsoberhaupt, der kluge Bundespräsident Gustav Heinemann, auf die Frage, ob er die Bundesrepublik Deutschland liebe, antwortet: „Ach was, ich liebe keine Staaten, ich liebe meine Frau, fertig!“ Heutzutage würde er bei Pegida-Demos dafür an den Galgen gebracht.)

      Der querköpfige Breitner rührt noch an ganz anderen Tabus: „Diese Nationalhymne vor den Länderspielen stört mich.“ Allerdings hat Breitner zu diesem Zeitpunkt erst ein Länderspiel absolviert, im Juni gegen Norwegen. Bundestrainer Helmut Schön berichtet in seiner Autobiografie darüber, wie er mit dem Affront umgegangen ist. „Ich sprach ihn darauf an. Wir gingen in einem Park in der Nähe unseres Hotels zusammen spazieren. ‚Was stört dich denn nun an der Nationalhymne‘, fragte ich ihn. Er antwortete sinngemäß: ‚Ich habe nichts gegen die Nationalhymne als solche. Sie stört mich nur so kurz vor Beginn des Spieles.‘“

      Der Trainer lässt es dabei bewenden, gegen Mexiko allerdings bleibt Breitner auf der Bank. Dort sitzt beim Anpfiff auch Reinhard Libuda, obwohl die Medien nach seinen zuletzt guten Leistungen vehement seinen Einsatz fordern. Erst in der 64. Minute ersetzt er Jürgen Grabowski auf dem rechten Flügel.

      Gerd Müller dagegen steht in der Startelf, Helmut Schön beteuert: „Ein ‚Problem Müller‘ gibt es für mich nicht.“ Der vermeintliche „Bomber der Nation“ durchlebt derzeit in der Liga eine Leidenszeit. Zu den zwölf Toren, die seine Bayern in den ersten fünf Spielen erzielten, hat er nur ein einziges beigesteuert; dafür hat er sich vom eigenen Anhang Pfiffe und „Müller raus“-Rufe anhören müssen. Die Medien rätseln über seine „Ladehemmung“. Sein Präsident Neudecker glaubt zu wissen, woran es liegt: „Leute außerhalb des Vereins haben Müller erzählt, was Beckenbauer angeblich bei uns verdient. Gegenüber diesen Summen fühlt er sich benachteiligt, sie haben ihm den Kopf verdreht und auch seine Leistungen auf dem Spielfeld beeinträchtigt. Dabei sind die angeblichen Beträge für Beckenbauer völlig aus der Luft gegriffen, Beckenbauer hat nie so viel verdient.“

      Müller besitzt weder die Cleverness des Kaisers noch das Selbstbewusstsein eines Hoeneß oder Breitner, jedenfalls nicht außerhalb des Strafraums. Er stammt aus einfachen Verhältnissen, hat nach der Hauptschule in Nördlingen eine Weberlehre begonnen, als Vertragsspieler bei den Bayern zunächst nur 160 Mark verdient und daher halbtags noch bei einem Möbelhändler gejobbt. Klein und stämmig gebaut, manchmal ungelenk wirkend, braucht er eine Weile, um Trainer und Mitspieler zu überzeugen: von seiner verblüffenden Beweglichkeit im Strafraum, von seiner Doppelpass-Kompetenz, von seiner Fähigkeit, aus fast jeder Situation den Ball Richtung Tor zu bugsieren. Mit dem Fuß, mit dem Kopf, mit dem Knie, mit dem Oberschenkel, notfalls mit dem Po. Spätestens seit dem WM-Turnier 1970, bei dem er zehnmal trifft, weiß man, welche Weltklasse er besitzt.

      Insgeheim hat jetzt Hertha BSC mit dem 25-Jährigen verhandelt. An sich steht Müller bis 1973 noch bei den Bayern unter Vertrag, und Neudecker mag ihn nicht hergeben. Jedenfalls nicht für das Silbergeld, das Hertha zahlen könnte: „Nicht für 800.000 und nicht für eine Million. Erst bei einer Ablösesumme von zwei Millionen käme ein solcher Handel für uns in Frage.“ Die „Süddeutsche“ glaubt: „Angesichts dieser schwindelerregenden Summe greift sich der unbefangene Fußballfreund an den Kopf.“ Sieben Jahre zuvor haben die Bayern 4.400 Mark als Ablöse an Müllers Heimatverein TSV Nördlingen bezahlt.

       ***

      „Nach dem Schnitzer des Ausputzers hob der Aufbauer den Abpraller über die Mauer in die Gasse, wo der Aufreißer mit dem Hammer am Drücker war und den Abklatscher in die Lücke gab, wo der Abstauber den Abtropfer nahm und als Aufsetzer in den Kasten des Aufsteigers setzte.“

      Der Schriftsteller Ror Wolf versucht sich an Wortspielereien zu einem Fußball-Alphabet, das allerdings über den Buchstaben A nicht hinauskommt. Der Text findet sich im Buch „Punkt ist Punkt – Fußballspiele“, das er im Sommer 1971 bei Suhrkamp veröffentlicht. Die literarische Annäherung, wohl die erste dieser Art, unternimmt Wolf mit einem recht wilden, aber kurzweiligen und zuweilen tiefgründigen Mix aus kurzen Prosatexten, Gedichten, Pressezitaten sowie Fotos.

      Dazu zählen auch Variationen über den Ball, kunstvoll gesetzt in Kleinbuchstaben und ohne Punkt und Komma: „der abgestaubte ball der abgetropfte ball der abgefälschte ball der abgeprallte ball der angeschnittene ball der angenommene ball der eingedrückte ball der abgegebene ball der unterschätzte ball der verlorene ball der geschleppte ball der geschobene ball der herein getriebene ball der direkt genommene ball“ Und so weiter.

      Vielleicht erstmals finden sich in Wolfs Buch die heute allgegenwärtigen Sprüche aus Fußballe rmündern, wobei der Schriftsteller mehr Wert auf Hintersinn als auf platte Komik legt. Kölns Trainer Gyula Lorant zitiert er mit einem Sinnspruch über Gladbachs Nationalverteidiger: „Wenn ich Vogts sein linkes Bein wegnehme, fällt er einfach um, weil kein rechtes Bein da ist.“ Von Gerd Müller liest man die Ansage: „Ich werde einen Torrekord aufstellen, der in die Geschichte eingeht.“ Und Reinhard Libuda kommt als Philosoph zu Wort: „Ich bin ein anderer.“

      Gerd Müller, vom Hannoveraner Publikum zunächst mit einem gellenden Pfeifkonzert empfangen (ebenso wie die übrigen Münchner Nationalspieler inklusive des Kaisers), schießt sich im Länderspiel gegen Mexiko frei. Bei der 5:0-Gala im Niedersachsenstadion erzielt er drei Tore. Erst verwandelt er einen verstolperten Ball von Netzer, dann nimmt er eine Grabowski-Flanke volley aus der Luft, schließlich gelingt ihm sogar ein Solo zum Torerfolg. Hinterher sagt er: „Diese drei Tore hatte ich dringend nötig, nachdem es bei mir in der Bundesliga bisher nicht lief.“ Er weiß auch, warum er in der Nationalelf besser trifft als im Verein: „Wenn ich von den richtigen Nebenleuten die richtigen Vorlagen bekomme, schieße ich auch meine Tore.“

      Netzer wetzt seinen peinlichen Stolperer mit einem grandios ins Toreck gezirkelten Freistoß aus 20 Metern wieder aus. Die derzeit heiß diskutierte Frage, ob im Mittelfeld Netzer oder Overath oder vielmehr Netzer und Overath die Fäden ziehen sollen, bleibt unbeantwortet: Der Kölner Regisseur hat verletzungsbedingt abgesagt. Bisher hat Bundestrainer Helmut Schön die Doppellösung favorisiert, so, wie er bei der WM 1970 bereits mit den beiden Sturmspitzen Müller und Seeler spielen ließ. Die Journalisten rätseln, ob geniale Taktik oder Entscheidungsschwäche dahinterstecken.

       ***

      Im Nachklang des Länderspiels verkündet Wolfgang Overath der Öffentlichkeit, er habe sein frisch erworbenes Auto neu lackieren lassen. Es handelt sich natürlich nicht um irgendeinen Gebrauchtwagen, dessen angerostete Karosserie zu übertünchen wäre. Es geht um einen Jaguar E-Type Roadster, sechs Zylinder, 269 PS, anno 1968 für 26.000 Mark erworben von Overaths Konkurrenten Günter Netzer. Als Netzer mit diesem Vehikel auf der Autobahn von einem Ferrari überholt wird, wechselt er die Marke und holt sich für 38.000 Mark einen der italienischen Edelflitzer, der gelb lackiert und 235 Stundenkilometer flink ist. Den lahmen Jaguar überlässt Netzer für 10.000 Mark dem Kollegen Franz Beckenbauer. Der wird nicht glücklich damit, denn durch das Faltdach regnet es durch, und er mosert Netzer an: „Du bist ein Betrüger!“ Flugs verhökert der Kaiser daher die löcherige Kiste an Overath, der sie von Anthrazit auf Lila umlackieren lässt, aber noch gar nicht bezahlt hat: „Ich weiß auch den Preis noch nicht. Der Franz sagte zu mir: Das eilt doch nicht.“ Und vermutlich ist der Kölner auch noch nicht im Regen damit gefahren.

      Später sieht der „Spiegel“ den inzwischen berühmten Personenkraftwagen, dessen Fahrzeugbrief mit Netzer, Beckenbauer und Overath drei Fußballgenies aufführt, als Symbol der neuen Zeit. Vorbei die Uwe-Seeler-Ära, da der deutsche Bundesligaprofi als braver Opel-Fahrer den Rasen seines Vorgartens genauso kurz hielt wie die Haare auf dem eigenen Schädel. „Netzers Jaguar markiert eine Zeitenwende im deutschen Profifußball.