Название | 71/72 |
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Автор произведения | Bernd-M. Beyer |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783730705483 |
Das Berufungsgericht jedoch gibt sich großzügig und verkürzt für die bisher verurteilten Spieler die Sperren, nur bei Manfred Manglitz bleibt es beim Lizenzentzug auf Lebenszeit. Das gilt auch für Canellas, obwohl mittlerweile bewiesen ist, dass er den DFB frühzeitig von seinen Recherchen unterrichtet hat. Das DFB-Bundesgericht räumt dies in seinem Urteil auch ein, hält diese Unterrichtung jedoch für formal unzureichend und nennt dafür absurde Kriterien. Die Absicht ist klar: den DFB aus der Schusslinie zu nehmen und Canellas als Nestbeschmutzer zu brandmarken. Der sieht sich auch vom eigenen Verein verraten, denn von seinen ehemaligen Vorstandskollegen ist niemand gekommen, um ihm vor Gericht beizustehen. „Nun bekomme ich auch noch Backpfeifen aus den eigenen Reihen. Man hat sich von mir distanzier t“, resümiert er düster.
Sein Rechtsanwalt Josef Augstein fährt schweres Geschütz auf: Sollte Canellas nicht vom DFB rehabilitiert werden, werde er die staatliche Justiz bemühen, und zwar quer durch alle Instanzen. „Ich werde Herrn Canellas empfehlen, in diesem Fall sein gesamtes Material der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Sie soll dann über ihn urteilen. Ich bin sicher, sie wird zu der Erkenntnis kommen, dass Canellas richtig gehandelt hat, dass er nur eine Eiterbeule aufstechen und den Beweis antreten wollte, wie der Meisterschaftsausgang der Bundesliga manipuliert worden ist.“
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Im Europapokal der Pokalsieger müssen die Bayern in der ersten Runde Richtung Ostblock reisen, zu Skoda Pilsen. Die Hürde wird mit zwei Siegen glatt genommen, aber auswärts bei Skoda blamieren sich die Bayern dennoch kräftig. Rund tausend DDR-Fans sind nach Pilsen gekommen, um ihre West-Helden zu sehen, doch was sie geboten bekommen, ist eine lustlose, schwache Darbietung, die sie mit lauten „Aufhören!“-Rufen quittieren. Der dürftige 1:0-Sieg der Bayern ist völlig unverdient.
Nachhaltiger als dieses Spiel bleibt der politische Disput in Erinnerung, den Bayerns erzkonservativer Vereinspräsident Wilhelm Neudecker und sein linker Verteidiger Breitner auf der Fahrt durch die realsozialistische Tschechoslowakei ausfechten. Er endet damit, dass ein erzürnter Neudecker Breitner vorwirft, er gebe sich zwar sozialistisch, verdiene aber „mehr wie zehn Arbeiter zusammen“. Und überhaupt solle er gefälligst aus dem Mannschaftsbus aussteigen und in den Sozialismus übersiedeln. Was Breitner dann lieber doch nicht tut.
Neudecker ist einer jener Selfmade-Männer, die es in der Nachkriegszeit nach oben schafften. Der gelernte Maurer war 1933 kurzzeitig SS-Anwärter, wurde bei der Entnazifizierung jedoch als Mitläufer eingestuft. Ehrgeizigen Menschen wie ihm, ausgestattet mit einem sturen Willen zum Erfolg, bot die kriegszerstörte Stadt München mannigfaltige Möglichkeiten. Er begann mit minimalem Kapital, kaufte Grundstück um Grundstück und setzte Häuser darauf. Als er 1962 Präsident der Bayern wird, ist er Millionär und besitzt Dutzende von Mietwohnungen. Sparsam bleibt er, als Vereinspräsident wie als Privatmann, doch Maßanzug und barocke Möbel künden von seinem Wohlstand. Sein gediegen ausgestattetes Büro am Goetheplatz avanciert zur geheimen Kommandozentrale des Vereins.
Neudecker, der „Alleinherrscher, der keinen Widerspruch duldet“ (Sepp Maier), regiert als konservativer und autoritärer Knochen. Dennoch verkörpert er in der Fußballbranche so etwas wie Modernität, weil er seinen Verein wirtschaftlich wie ein Unternehmen führt und dafür einen Manager einstellt – im deutschen Fußball ein Novum. Für sportliche Romantik fehlt ihm der Sinn, er schaut vor allem auf die Bilanzen.
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Zwei kulturelle Ereignisse im September bleiben von den Medien weitgehend unbeachtet. Im Eifelstädtchen Monschau lässt Verpackungskünstler Christo die Ruinen einer Burg aus dem zwölften Jahrhundert mithilfe von 6.000 Quadratmetern Polypropylen-Gewebe und 3.100 Metern Seil verhüllen. Der Maestro selbst ist beim „CHRISTOprojekt mon SCHAU“ nicht zugegen, weil er an einer Verpackung in Colorado bastelt. Vielleicht steckt ihm auch noch ein früherer Deutschlan dbesuch im Sakko, bei der Kasseler documenta drei Jahre zuvor. Da wurde er aus seinem Hotel verwiesen, weil sich andere Gäste über seine langen Haare beschwert hatten.
Für die Aktion in Monschau liefert Christo also die Skizzen, und die handwerkliche Umsetzung besorgt der örtliche Dachdecker. Der Regierungspräsident von Aachen will „unter allen Umständen verhüten“, dass die 30.000 Mark teure Aktion aus öffentlichen Mitteln gefördert wird: „Was Christo unternimmt, hat mit Kunst nichts zu tun.“ NRW-Ministerpräsident Heinz Kühn sorgt dafür, dass dann doch einige Gelder fließen, der Rest wird von einem Förderkreis durch den Verkauf signierter Postkarten und Plakate zusammengekratzt. Das Kunstwerk bleibt unvollständig, weil ein Schuhgeschäft sich weigert, miteinbezogen zu werden; man fürchtet, Kunden zu verlieren. Christos Idee, „Schönes durch Verpackung wieder sichtbar zu machen“, stößt bei vielen Monschauern auf keine Gegenliebe. „Wenn dat Kunst ist, bin ich jeck“, empört sich eine Bürgerin in den örtlichen Medien. Dafür verschwinden nächtens Hunderte Meter Seil, vermutlich für profane Gebrauchszwecke.
Ungefähr zur gleichen Zeit bringen Ton Steine Scherben ihre erste Langspielplatte heraus, „Warum geht es mir so dreckig“. Rios Bruder Gert entwirft das Cover: brauner Pappkarton, darauf in groben Lettern der Name der Gruppe, ihre Telefonnummer und der Titel. Die Rückseite bleibt leer. Produktion und Vertrieb organisieren sie selbst und gründen dafür die Firma „David Volksmund Produktion“; das Logo zeigt eine Hand mit einer Steinschleuder.
Eine Seite der Platte enthält Aufnahmen aus verschiedenen Studiosessions. Weil sie mit der Qualität der übrigen Studiostücke nicht zufrieden sind, verwenden die Scherben für die Rückseite Ausschnitte aus ihrem Auftritt in der TU-Mensa, bei dem sie im Juni zur Hausbesetzung aufgerufen haben.
Zum bekanntesten Song der Platte wird „Macht kapu tt, was euch kaputt macht“. In wildem Stakkato und kurzen Wortfetzen beschreibt Rio darin das Elend seiner kapitalistischen Umwelt: „Züge rollen / Dollars rollen / Maschinen laufen / Menschen schuften / Fabriken bauen / Motoren bauen / Kanonen bauen“, um dann zu fragen: „Für wen?“ Es folgt die eindeutige Aufforderung: „Macht kapu tt, was euch kaputt macht.“
Um Rios Sprech- oder vielmehr Schreigesang musikalisch einzubinden, unterlegen sie ihn mit einem rockigen Riff in Endlosschleife: a-e-es-h-d-c. Der hämmernde Sound wirkt mitreißend, aufrührerisch und potenziert den fordernden Klang des Gesangs. „Macht kaputt“, zunächst als Single veröffentlicht, bleibt bei Live-Auftritten einer der populärsten und wirkungsmächtigsten Songs der Scherben. Bei jedem zehnten der rund hundert Konzerte in den Jahren 1971/72 bildet er die Begleitmusik für anschließende Hausbesetzungen und andere militante Aktionen. „Wir waren Zauberlehrlinge und wussten es nicht“, schreibt Rio dazu in seiner Autobiografie. „Wir hatten, ohne danach zu suchen, eine Formel gefunden, um die Götter der Zerstörung herbeizurufen.“
Irgendwann werden die Scherben den Song aus ihrem Repertoire streichen, weil sein destruktives Potenzial ihnen zu bedrohlich erscheint.
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Von Christo oder den Scherben ist in den feingeistigen Feuilletons von „FAZ“ und „Zeit“ in diesen Tagen nicht viel zu lesen, dafür dies: Der Schriftsteller Heinrich Böll, seit 1970 Vorsitzender der westdeutschen Schriftstellervereinigung PEN-Zentrum, ist nun auch zum Präsidenten des internationalen PEN-Zentrums gewählt worden. Bei der Wahl wird seine Mittlerrolle zwischen Ost und West hervorgehoben.
Kürzlich ist Bölls neuer Roman erschienen, „Gruppenbild mit Dame“. Darin schildert er das Schicksal einer Frau in Zeiten von NS-Herrschaft, Krieg und Nachkriegswirren, einer Überlebenskämpferin also, „die die ganze Last dieser Geschichte zwischen 1922 und 1970 mit und auf sich genommen hat“ (Böll). Leni, die Protagonistin, heiratet als Teenager einen Soldaten, der kurz darauf an der Front stirbt; ein schöner, sportlicher Junge, in dessen Nachlass sich „eine Belobigung des Fußballclubs Lyssemich“ findet. Das ist es auch schon mit Fußball in dem Buch, viel mehr geht es um Lenis aufrechten Gang und um die Anfeindungen, die sie erleiden muss, als sie sich in einen russischen Kriegsgefangenen und viel später in einen türkischstämmigen Arbeiter verliebt.
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