Название | Tod im Bankenviertel |
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Автор произведения | Detlef Fechtner |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783955423957 |
Sturz vom Dach des Hypo-Union-Towers gibt Rätsel auf, lautete die Schlagzeile über dem Korrespondentenbericht von afx. Noch sei die Identität des Toten ungeklärt, hieß es in dem Bericht, der allerlei Sprecher von Staatsanwaltschaft und Banken zitierte, die aber allesamt nichts Erwähnenswertes zu berichten hatten. Trotzdem war sich der Schatzmeister sicher, dass die Warnung von allen verstanden wurde, die wieder auf Spur gebracht werden mussten, um das Projekt nicht zu gefährden.
Ihn selbst ließ die ganze Sache übrigens längst nicht so kalt, wie er es nach außen zu demonstrieren versuchte. Auch für den Schatzmeister war es die erste direkte Erfahrung mit einem Kapitalverbrechen. Bisher kannte er echte und brutale Gewalt allenfalls aus Spielfilmen. Er selbst war nicht einmal im Knast gewesen. Und er entstammte einem Zuhause, das viel zu geordnet war, als dass sich in ihm jene Verachtung gegenüber bürgerlichen Karrieren und jene Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid anderer hätte aufstauen können, die im Volksmund recht zutreffend als kriminelle Energie beschrieben wird. Nein, der Schatzmeister war eben nur Schatzmeister und kein Pate. Dazu fehlte ihm die nötige Abgeschmacktheit.
Vor allem heute war der Schatzmeister sichtbar nervös. Immerhin war in den vergangenen Tagen viel schiefgelaufen. Dass einer der eigenen Leute ausscheren könnte, darüber hatten sie zwar immer mal wieder gesprochen. Aber eigentlich waren sie sich sicher gewesen, dass das nie geschehen würde. Nun war es doch passiert – und hatte so schnell für Irritationen bei allen Beteiligten gesorgt, dass das gesamte Projekt in Gefahr geraten war. Der Aufsichtsrat war deshalb zu einer Sondersitzung einberufen worden, drei der vier Anwälte hatten letztlich im Auftrag ihrer Hintermänner für eine schnelle und unmissverständliche Reaktion votiert. Daraufhin hatten sie Mikail verständigt, der die Angelegenheit innerhalb von 72 Stunden erledigte.
So allein in der Schaltzentrale erforderte das Warten noch mehr Geduld. Der Schatzmeister versuchte sich deshalb abzulenken. Er zündete sich eine neue Zigarette an und betrachtete sein Spiegelbild in einem abgeschalteten Computer-Bildschirm. Es war kein schöner Anblick – und der Schatzmeister wusste das nur zu gut. Er musterte die vielen pockigen Narben, die sich von den Schläfen über die Wangen bis zu den Lippen hinzogen und sein Gesicht entstellten. Schon in der Schule hatten sie ihn verspottet, weil er wie kaum ein anderer mit Ausschlägen zu kämpfen hatte. Hautärzte hatten ihm alle möglichen Salben und Tinkturen verschrieben, aber die halfen wenig gegen die Pickel und Bläschen in seinem Gesicht, auf den Schultern und quer über den Rücken. Jahrelang war er von seinen Kumpeln aufgezogen worden, was in ihm wiederum zunächst Abwehr provozierte, später sogar Abkehr – er isolierte sich zusehends von den Menschen um ihn herum. Beides sorgte dafür, dass die Mädchen einen Bogen um ihn machten – sein entstellter Körper und sein eigenbrötlerisches Wesen. Erst mit 22 Jahren, als die Pein der Ausschläge nachließ, hatte er eine erste Freundin. Denn auf einmal drehte sich nicht mehr alles um süße Grübchen. Plötzlich wurden die Jungs von den Mädchen danach taxiert, wie sie sich in einer erwachsenen Welt zurechtfanden. Und auf einmal spielte sogar Geld eine Rolle. Ja, Geld entfaltete eine geradezu magnetische Wirkung. Eine schicke Altbauwohnung in Bornheim, mit dem offenen Auto über die Berger oder die Schweizer Straße und nachts in die Lounges auf der Hanauer: Wer sich das aus eigener Tasche finanzieren konnte, musste das Spiel begriffen haben – und stand deshalb plötzlich hoch im Kurs.
Der Schatzmeister war direkt den Weg des Geldes gegangen. Nach dem Abitur hatte er bei einer Wertpapierhandelsfirma angeheuert und dafür auf ein Studium verzichtet. Es war die Zeit der großen Illusion, der vielversprechende Begriff der New Economy machte die Runde – und mit ihm der naive Glaube, eine Ära des dauerhaften Aufschwungs sei angebrochen. Der Neue Markt stand in voller Blüte, jede Woche kamen drei neue Firmen auf den Börsenzettel und ein Kurssprung von 20, 30 oder sogar 50 Prozent über Ausgabepreis am ersten Handelstag gehörte fast schon zum guten Ton für Neuemissionen. Mit etwas Mut und einem glücklichen Händchen konnte man ein kleines Vermögen machen. Für ein großes Vermögen indes brauchte es etwas mehr: Man musste in einer Bank oder bei einem Broker arbeiten, die richtigen Leute kennen, brauchte Zugang zu reichlich fremdem Kapital und durfte keine Gewissensbisse haben, schmutzige Tricks anzuwenden. Hier eine geschickte Kursmanipulation in einem Nebenwert, dort eine erkaufte Insider-Information, da eine bevorzugte Zuteilung als Gegengeschäft für eine positive Aktienanalyse. Das Risiko, damit aufzufliegen, war über einige Jahre hinweg gering. Erst als die Blase platzte, die Kurse sanken und viele Anleger merkten, dass sie echtes Geld verloren, begann die Jagd auf all jene Profiteure, Trittbrettfahrer und Betrüger, die sich behaglich eingerichtet hatten in den Nischen des Börsengeschäfts, und die zuvor in der Zeit der großen Party niemand wirklich gestört hatten.
Gregor Corvinius, der Kronberger Investmentbanker, war noch rechtzeitig der Absprung gelungen, er brachte sein Geld in Sicherheit und wechselte den Job, aus dem Handelsraum einer Großbank zu einem renommierten Vermögensverwalter. Seine vielen unerlaubten Geschäfte konnten Monate später von Controllern, Betriebsprüfern und schließlich sogar der Wertpapieraufsicht nicht mehr präzise zugeordnet werden. Die Verfahren gegen seine ehemalige Abteilung wurden deshalb eingestellt.
Den Schatzmeister hingegen erwischte es seinerzeit volle Kante. Zwei seiner damaligen Partner bekamen es mit der Angst zu tun, als die Wertpapieraufsicht auf ihre Firma aufmerksam wurde. Sie stellten sich den Behörden und lieferten ihnen umfangreiches belastendes Material, darunter E-Mails des Schatzmeisters, die ihn eindeutig als einen der Drahtzieher manipulierter Aktien- und Termingeschäfte überführten. Die Ermittler konnten ihm daraufhin die persönliche Beteiligung an einer in Internet-Anlegerforen lancierten Kampagne nachweisen, mit dem der Kurs ausgewählter MDAX-Unternehmen künstlich in die Höhe getrieben worden war. Da er sich zudem an Kundengeld vergriffen hatte, um damit eine Brückenfinanzierung für eigene Aktienkäufe zu organisieren, verlor er binnen weniger Tage nicht nur seinen Job und sein Vermögen. Als nunmehr vorbestrafter und nur durch die Bewährung vor einer Haft verschonter Endzwanziger hatte er zudem wenig Aussicht, auf legalem und rechtschaffenem Weg noch einmal einen schnellen Aufstieg zu schaffen. Er war wieder ganz unten gelandet, zurück auf Los. Und ohne die Bärbeißigkeit, die er sich in Reaktion auf den Spott, die Verachtung und die Boshaftigkeiten der Menschen um ihn herum angeeignet hatte, hätte er gewiss nicht die Ausdauer und Geduld für einen erneuten Anlauf gehabt, an das große Geld zu gelangen – an genug Geld, um selbst als Mensch mit einem derart unansehnlichen Gesicht ein seiner Vorstellung nach entsprechend attraktives Leben führen zu können.
Der Schatzmeister blickte sich selbst tief in die Augen, die sich auf dem Bildschirm des Computers vor ihm spiegelten. Dieses Mal, das schwor er sich, werde er sich von nichts und niemandem aufhalten lassen – vor allem nicht von irgendwem, der plötzlich Fracksausen bekommt und aussteigen will. Wenn es nicht anders ginge, würden die Wackelkandidaten noch brutaler eingeschüchtert. Und wenn es sein müsste, würde Mikail eben weitere Aufträge erhalten. „Nur noch gottverdammte acht Tage lang müssen alle durchhalten“, sagte er sich selbst in beschwörendem Ton – bevor er im nächsten Augenblick jäh aus seinem Selbstgespräch gerissen wurde. Es klingelte, Nowitzki und Vito waren endlich da.
9
Oskar war viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, sich bei seiner Verfolgung nicht erwischen zu lassen, als dass er sich auch noch Gedanken darüber hätte machen können, wie er denn nun weiter zu Werke gehen sollte. Er war den beiden ominösen Computerdieben mit einigem Abstand gefolgt – zunächst in die Taunusanlage, dann mit der S-Bahn zum Südbahnhof und von dort aus weiter zu Fuß ins Malerviertel, wo das Duo in der Rubensstraße in einem schicken dreistöckigen Bürohaus verschwand. Nun stand Oskar unentschlossen wenige Meter davon entfernt auf dem Nachbargrundstück und hatte nicht die geringste Idee, was er als nächstes tun sollte. Die Polizei konnte er nicht einschalten, ohne sich lächerlich zu machen. Was hatte er denn zu melden außer einen ziemlich dubiosen Austausch von Computern?
Zudem gab es einen weiteren Grund, der Oskar davon abhielt, die Polizei einzuschalten.