Название | Die Clique |
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Автор произведения | Mary McCarthy |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783869152363 |
Was Kay jedoch immer wieder vergaß, obwohl Harald es ihr unentwegt einhämmerte, war die Tatsache, dass sie und ihr Freundeskreis in der amerikanischen Gesellschaft, wie sie die beiden Frauen hier im Wartezimmer repräsentierten, keine Rolle mehr spielten. Gestern Abend, nach dem Theater, als alle drei auf ein Bier in ein Speakeasy gingen, hatte Harald das Dottie eingehend erklärt. Dass Roosevelt gerade jetzt vom Goldstandard abgegangen war, bedeute eine Unabhängigkeitserklärung vom alten Europa und die Ankündigung einer neuen dynamischen Epoche. Die N. R. A. und der Adler seien Symbole der Machtergreifung einer neuen Klasse. Ihre eigene Klasse, der gehobene Mittelstand, so sagte Harald, sei politisch und wirtschaftlich erledigt. Die besten von ihnen würden mit der aufsteigenden Klasse der Arbeiter, Bauern und Techniker verschmelzen, zu der er als Bühnentechniker gehörte. Man nehme zum Beispiel das Theater. Zu Belascos Zeiten sei der Regisseur König gewesen. Heute jedoch sei er nicht nur von seinen Geldgebern, unter Umständen einem ganzen Konsortium, abhängig, sondern fast noch mehr von seinem Chefbeleuchter, mit dessen Beleuchtungstechnik ein Stück stehe und falle. Hinter jedem Regisseur mit großem Namen, wie zum Beispiel Jed Harris, stehe ein genialer Beleuchter, wie hinter jedem Filmregisseur mit großem Namen ein genialer Kameramann. Für das Radio gelte das Gleiche: Wer zähle, seien die Ingenieure, die Männer im Senderaum. Ein Arzt hänge heutzutage von seinen Technikern ab, von den Männern im Laboratorium und im Röntgenzimmer. »Das sind die Jungens, die eine Diagnose bestätigen oder zerstören können.«
Gestern Abend hatte Kay sich an dem von ihm heraufbeschworenen Zukunftsbild vom Massenüberfluss durch die Maschinen begeistert. Es freute sie, dass er Dottie imponierte. Dottie hatte keine Ahnung gehabt, dass er sich so viel mit Soziologie beschäftigte, denn in seinen Briefen war davon nicht die Rede gewesen. »Als Individuen«, erklärte er, »habt ihr Mädels an die aufsteigende Klasse etwas weiterzugeben, genau wie das alte Europa an Amerika.« Kay genoss es, dass er den Arm um ihre Taille gelegt hatte, während Dottie mit großen Augen zuhörte, denn Kay wollte nicht hinter der Geschichte herhinken, zugleich war sie nicht vorbehaltlos für das Prinzip der Gleichheit. Sie sei, gestand sie, nun einmal gern die Überlegene. Harald hatte in der guten Stimmung von gestern Abend gemeint, dass das auch im neuen Zeitalter immer noch möglich wäre, auf andere Weise freilich.
Gestern Abend hatte er Dottie das Wesen der Technokratie erklärt, um ihr zu zeigen, dass man von der Zukunft nichts zu befürchten habe, wenn man ihr mit einem wissenschaftlich geschulten Intellekt begegne. In einer Wirtschaft der Fülle und der Muße, die die Maschine bereits ermöglicht habe, werde jeder nur ein paar Stunden am Tage arbeiten müssen. In einer solchen Wirtschaft werde seine Klasse, die Klasse der Künstler und Techniker, zwangsläufig nach oben kommen. Die Huldigung, die man heute dem Gelde darbringe, werde morgen den Ingenieuren und Freizeitgestaltern zuteilwerden. Mehr Muße bedeute mehr Zeit für Kunst und Kultur. Dottie wollte wissen, was mit den Kapitalisten geschehen würde (ihr Vater war im Importgeschäft), und Kay blickte fragend auf Harald. »Das Kapital wird in der Regierung aufgehen«, sagte Harald. »Nach kurzem Kampf. Das ist es, was wir zurzeit erleben. Der Administrator, der nichts anderes ist als ein Techniker im großen Stil, wird in der Industrie den Großkapitalisten ersetzen. Das Privateigentum wird sich immer mehr überleben und die Administratoren haben die Sache in die Hand genommen.« – »Robert Moses zum Beispiel«, warf Kay ein. »Mit seinen wunderbaren Parkanlagen und Spielplätzen hat er New York bereits ein völlig neues Gesicht gegeben.« Und dringendst empfahl sie Dottie, einmal nach Jones Beach zu fahren, das ihrer Meinung nach ein so faszinierendes Beispiel einer großzügigen Freizeitplanung sei. »Jeder Mensch in Oyster Bay«, ergänzte sie, »fährt jetzt zum Schwimmen dorthin. Man schwimmt nicht mehr im Club, man schwimmt in Jones Beach.« Das Privatunternehmen werde noch immer eine Rolle spielen, sofern es über genügend Weitblick verfüge. Radio City, wo er eine Zeitlang als Regieassistent gearbeitet habe, sei beispielhaft für eine Städteplanung vonseiten aufgeklärter Kapitalisten, den Rockefellers. Kay führte das Modern Museum an, das ebenfalls von den Rockefellers gefördert werde. Sie sei wirklich überzeugt, dass New York zurzeit eine neue Renaissance erlebe, bei der neue Medicis mit der öffentlichen Hand wetteiferten, um ein modernes Florenz zu schaffen. Man könne das sogar bei Macy’s sehen, wo aufgeklärte jüdische Kaufleute wie die Strausens eine Armee von Technikern aus der oberen Mittelklasse, Kay zum Beispiel, ausbilde, um aus dem Warenhaus mehr als ein Geschäft zu machen, etwas wie ein zivilisatorisches Zentrum, einen ständigen Basar mit Ausstellungsgegenständen von kulturellem Interesse, wie der alte Crystal Palace. Dann sprach Kay von den eleganten neuen Wohnblocks am Ufer des East River, schwarz, mit weißem Stuck und weißen Jalousien, sie seien ein weiteres Beispiel für intelligente Planung durch das Kapital. Vincent Astor hatte sie erstellt. Natürlich seien die Mieten ziemlich hoch, aber was bekam man nicht alles dafür! Einen Blick auf den Fluss, nicht weniger gut als der Blick von den Sutton-Place-Appartements, manchmal einen Garten, wie gesagt, die Jalousien, genau wie die alten, nur modernisiert, und eine ultramoderne Küche. Und wenn man bedachte, dass diese Blocks vor ihrer Renovierung durch die Astors mit ihrem Ungeziefer und den unhygienischen Aborten nur die Gegend verschandelt hatten. Andere Hausbesitzer seien bereits diesem Beispiel gefolgt, wandelten alte Mietskasernen in vier- und fünfstöckige Wohnblocks um, mit grün bewachsenen Innenhöfen und Zwei- und Drei-Zimmer-Wohnungen für junge Leute, manche davon mit offenen Kaminen, eingebauten Bücherregalen, nagelneuer Installation, Badezimmern, Toiletten sowie Kühlschrank und Herd. Da entfiel jede Raumverschwendung – es gab weder Dielen noch Speisezimmer, das seien überholte Einrichtungen. Harald, erklärte Kay, sei ein fanatischer Gegner jeder Raumverschwendung. Für ihn müsse ein Haus eine Wohnmaschine sein. Wenn sie erst eine eigene Wohnung fänden, würden sie sich alles einbauen lassen: Bücherregale, Schreibsekretäre, Kommoden. Die Betten wären Sprungfedermatratzen auf vier niedrigen Klötzen, und als Esstisch dächten sie an eine in die Wand versenkbare Platte in der Art eines Bügelbretts, nur breiter.
Kay war selten so glücklich gewesen wie gerade jetzt, da sie Dottie ihre Pläne für die Zukunft schilderte, während Harald mit kritisch hochgezogener Braue zuhörte und bei jedem Fehler korrigierend dazwischenfuhr. Dottie brachte dann einen Misston in die Unterhaltung, indem sie mit ihrer sanft rollenden Stimme fragte, was denn aus den Armen würde, die vorher in den Häusern gewohnt hatten. Wo zögen die hin? Mit dieser Frage hatte Kay sich nie beschäftigt, und auch Harald wusste keine Antwort, was ihn sofort merklich verstimmte. »Cui bono?«, sagte er. »Wer profitiert davon? He?«, und machte dem Kellner ein Zeichen, noch ein zweites Bier zu bringen. Darüber erschrak Kay, die wusste, dass er morgen früh um zehn mit einer zweiten Besetzung zu proben hatte. »Diese Frage ist ebenso simpel wie tief erschütternd«, fuhr er, zu Dottie gewandt, fort. »Was geschieht mit den Armen?« Er starrte düster vor sich hin, wie in ein Vakuum. »Fahren die Armen an den großen, weißen, keimfreien Strand von Mr. Moses, den Kay so faszinierend und gemeinnützig findet? Natürlich nicht, meine Damen! Sie haben weder das nötige Eintrittsgeld noch den Wagen, der sie hinbringen könnte. Der wird stattdessen zum Privatstrand der Oyster-Bay-Clique – einer Bande von Schiebern und deren Frauen, die mit ihren hübschen gepuderten Näschen an dem öffentlichen Trog schnuppern.« Kay sah, dass er immer mehr in Trübsinn versank (er bekam häufig solche skandinavischen Anfälle bitterer Verzweiflung), doch es gelang ihr, dem Gespräch eine harmlosere Wendung zu geben, indem sie die Rede auf Kochkunst und Kochrezepte brachte, eines seiner Lieblingsthemen, über das er sich dann auch Dottie gegenüber des Längeren ausbreitete, sodass sie um halb zwei Uhr zu Hause und im Bett waren.
Harald war eine sehr paradoxe Natur. Er griff oft aus heiterem Himmel gerade die Dinge an, die ihm am meisten am Herzen lagen. Als sie im Wartezimmer der Ärztin saß und verstohlen die anderen Patientinnen beobachtete, konnte sie sich sehr wohl vorstellen, dass er behaupten würde, sie und Dottie profitierten von dem Kreuzzug für die Geburtenregelung, der eine zahlenmäßige Begrenzung der Familien der Armen zum Ziel hatte. Im Geiste begann sie, sich zu verteidigen. Geburtenregelung, wandte sie ein, sei für diejenigen gedacht, die sie entsprechend anzuwenden und zu schätzen wussten – für die Gebildeten. Genau wie jene renovierten Wohnhäuser. Würde man den