Название | Die Clique |
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Автор произведения | Mary McCarthy |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783869152363 |
Nachdem sie das Badezimmer von innen verriegelt hatte, zog Dottie in Gedanken Bilanz. »Wer hätte das gedacht?«, zitierte sie Pokey Prothero, als sie in den Spiegel starrte. Ihr Gesicht mit den kräftigen Farben, den starken Augenbrauen, der langen geraden Nase und den dunkelbraunen Augen sah immer noch so aus wie das eines Mädchens aus Boston. Eine aus der Clique hatte einmal gesagt, Dottie sehe aus, als sei sie mit dem Doktorhut auf die Welt gekommen. An ihrer äußeren Erscheinung war etwas Magistrales, wie sie jetzt selbst bemerkte. In dem weißen Pyjama, aus dessen Kragen das kantige neuenglische Kinn ragte, erinnerte sie an einen alten Richter oder an eine Amsel auf einem Zaun. Papa sagte manchmal scherzend, sie hätte Anwalt werden sollen. Und doch gab es da noch das Lachgrübchen, das in der Wange lauerte, und ihre Tanzlust und Sangesfreude – womöglich war sie eine gespaltene Persönlichkeit, ein regelrechter Doktor-Jekyll- und-Mister-Hyde! Nachdenklich spülte sich Dottie mit Dicks Mundwasser den Mund und warf zum Gurgeln den Kopf in den Nacken. Sie wischte den Lippenstift mit einem Stück Toilettenpapier ab und musterte in Gedanken an ihre empfindliche Haut ängstlich die Seife in Dicks Seifenschüssel. Sie musste schrecklich aufpassen, aber erleichtert stellte sie fest, dass das Badezimmer peinlich sauber und mit Gebrauchsanweisungen der Zimmerwirtin tapeziert war: »Bitte verlassen Sie diesen Raum, wie Sie ihn vorzufinden wünschen. Danke für Ihr Verständnis.« oder »Bitte benutzen Sie beim Duschen den Badeteppich. Danke.« Die Zimmerwirtin, dachte Dottie, war wohl sehr großzügig, wenn sie nichts gegen Damenbesuch hatte. Immerhin hatte Kay hier oft ein ganzes Wochenende mit Harald verbracht.
Sie dachte nur ungern an die weiblichen Gäste, die neben der bereits erwähnten Betty Dick besucht hatten. Wie, wenn er neulich Abend, nachdem die beiden sie abgesetzt hatten, Lakey hergebracht hätte? Schwer atmend stützte sie sich auf das Waschbecken und kratzte nervös ihr Kinn. Lakey, überlegte sie, hätte nicht zugelassen, was er mit ihr getan hatte. Bei Lakey hätte er das nicht gewagt. Dieser Gedanke war jedoch zu beunruhigend, um weiter ausgesponnen zu werden. Woher wusste er eigentlich, dass sie es zulassen würde? Etwas war merkwürdig – sie hatte die ganze Zeit den Gedanken daran verdrängt –, er hatte sie überhaupt nicht geküsst, nicht ein einziges Mal. Dafür gab es natürlich Erklärungen: Vielleicht sollte sie seine Alkoholfahne nicht bemerken oder vielleicht roch sie selbst aus dem Mund …? Nein, sagte sich Dottie, so darfst du nicht weiterdenken. Eines jedoch war sonnenklar: Dick war einmal sehr verletzt worden, von Frauen oder von einer bestimmten Frau. Das verschaffte ihm eine Sonderstellung; jedenfalls gestand sie ihm diese zu. Wenn er nun einmal keine Lust hatte, sie zu küssen, so war das seine Sache. Sie kämmte sich mit dem Taschenkamm das Haar und summte dazu mit ihrer warmen Altstimme: »Er ist der Mann, der eine Frau wie mi-ich braucht.« Dann tat sie einen munteren Tanzschritt und stolperte, von dem langen Pyjama etwas behindert, zur Tür. Sie schnippte mit den Fingern, als sie das Deckenlicht an der langen Schnur ausmachte.
Als Dottie sich dann auf dem schmalen Lager neben dem fast schlafenden Dick ausstreckte, schweiften ihre Gedanken wie Zugvögel zärtlich zu Mama. Zwar wünschte sie sich einen erquickenden Schlaf nach diesem sehr anstrengenden Tag, aber es drängte sie auch, die Erfahrung der Nacht dem Menschen mitzuteilen, der ihr das Liebste auf der Welt war, der nie verurteilte, nie kritisierte, und der sich immer so sehr für das Tun und Lassen der jungen Leute interessierte. Brennend gern hätte sie ihrer Mutter den Schauplatz ihrer Einweihung beschrieben: das kahle Zimmer weit draußen in Greenwich Village, den Mondstrahl auf der braunen Wolldecke, den Zeichentisch, den Ohrensessel mit seinem adretten Bezug aus Markisenstoff – und dann natürlich Dick selbst, ein so origineller Mensch, mit seinem nervösen, fein gemeißelten Gesicht und seinem unglaublichen Wortschatz. Die letzten drei Tage waren angefüllt mit so vielen Einzelheiten, die Mama interessieren würden: die Hochzeit und wie sie hinterher mit ihm und Lakey das Whitney Museum besuchten und dann zu dritt in einem ulkigen italienischen Restaurant hinter einem Billardtisch aßen und Wein aus weißen Bechern tranken. Wie er und Lakey über Kunst diskutierten und wie sie dann am nächsten Tag, wieder zu dritt, in das Modern Museum gingen und in eine Ausstellung moderner Plastik, und wie Dottie nie im Leben darauf gekommen wäre, dass er überhaupt Augen für sie hatte, denn sie sah ja, wie fasziniert er von Lakey war (wer nicht?), und wie sie es noch immer fest glaubte, als er sich tags darauf zu Lakeys Abreise am Schiff einfand, unter dem Vorwand, ihr einige Adressen von Malern in Paris geben zu wollen. Und sogar, als er sie noch am Pier, nachdem das Schiff abgefahren war und eine gewisse Trübseligkeit sich eingestellt hatte, in dasselbe Lokal wie gestern zum Abendessen einlud (wie schwierig, es vom New Weston mit einem Taxi zu finden!), glaubte sie, sie verdanke das lediglich ihrer Freundschaft zu Lakey. Sie hatte eine Heidenangst davor gehabt, mit ihm allein zu essen, weil sie fürchtete, ihn zu langweilen. Und er war auch ziemlich schweigsam und abwesend gewesen, bis er ihr unvermittelt in die Augen gesehen und sie gefragt hatte: »Willst du mit mir nach Hause kommen?« Könnte sie jemals seinen beiläufigen Ton vergessen?
Aber wirklich staunen würde Mama darüber, dass keiner von beiden in den anderen verliebt war. Sie konnte sich förmlich hören, wie sie ihrer hübschen, strahlenden Mutter mit leiser Stimme zu erklären versuchte, dass sie und Dick auf einer völlig anderen Grundlage zusammenlebten. Der arme Dick, verkündete sie sachlich, liebe noch immer seine geschiedene Frau, und außerdem (an dieser Stelle holte Dottie tief Luft und wappnete sich) sei er von Lakey mächtig angetan – ihrer derzeit besten Freundin. In Dotties Vorstellung riss ihre Mutter die blauen Augen auf. Ihre Goldlocken zitterten, während sie verständnislos den Kopf schüttelte, und Dottie wiederholte mit allem Nachdruck: »Jawohl, Mama, ich kann es beschwören. Mächtig angetan von Lakey. Damit habe ich mich an jenem Abend abgefunden.« Diese Szene, die sie im Geiste probte, spielte sich im kleinem Boudoir ihrer Mutter in der Chestnut Street ab, obwohl sie in Wirklichkeit bereits in ihr Landhaus nach Gloucester gefahren war, wo Dottie morgen oder übermorgen erwartet wurde. Die zierliche Mrs. Renfrew hatte ihr mattblaues Kostüm aus irischem Leinen an, die nackten Arme waren vom Golfspielen gebräunt. Dottie trug ihr weißes Sportkleid und dazu braunweiße Schuhe. Sie beendete ihren Vortrag, starrte auf ihre Zehen, spielte mit den Falten ihres Rocks und wartete gelassen darauf, was ihre Mutter nun zu sagen hätte. »Ja, Dottie, ich verstehe. Ich glaube, ich verstehe.« Beide sprachen weiter, mit leiser, gleichmäßiger, wohltönender Stimme, ihre Mutter etwas mehr staccato und Dottie etwas rauer. Die Stimmung war ernst und nachdenklich. »Du bist sicher, Kind, dass eine Perforation des Hymen stattgefunden hat?« Dottie nickte nachdrücklich. Mrs. Renfrew, Tochter eines Missionsarztes, war in ihrer Jugend sehr kränklich gewesen, darum sorgte sie sich um die physische Seite einer Sache stets besonders.
Dottie wälzte sich unruhig im Bett. »Du fändest Mutter himmlisch«, sagte sie im Geiste zu Dick. »Sie ist eine schrecklich vitale Person und weitaus attraktiver als ich. Sehr klein, mit einer fantastischen Figur, blauen Augen und hellem Haar, das gerade erst grau wird. Ihre Krankheit wurde sie durch schiere Willenskraft los, als sie nämlich in der letzten Klasse im College Papa kennenlernte, gerade nachdem die Ärzte verlangt hatten, dass sie die Schule verließ. Weil sie der Meinung war, dass Kranke nicht heiraten dürften, wurde sie gesund. Sie hält sehr viel von der Liebe. Das tun wir alle.« Hier errötete Dottie und strich im Geiste die letzten Worte aus. Dick durfte nicht denken, dass sie ihr Verhältnis zerstöre, indem sie sich in ihn verliebte. Eine einzige derartige Bemerkung würde alles verderben. Um ihm zu zeigen, dass er hier nichts zu befürchten hatte, wäre es wohl das Beste, wenn sie ihren Standpunkt ein für allemal klarstellte. »Auch ich bin sehr religiös, Dick«, probierte sie und lächelte, wie um sich zu entschuldigen. »Jedoch halte ich mich für pantheistischer als die meisten Kirchgänger. Ich gehe zwar gern in Gotteshäuser, glaube aber, dass Gott überall ist. Meine Generation ist ein bisschen anders als die meiner Mutter. Wir alle empfinden, dass Liebe und Sex zweierlei sein kann. Das muss nicht so sein, es ist aber möglich. Man darf vom Sex nicht verlangen, dass er die Rolle der Liebe, und von der Liebe nicht, dass