1870/71. Tobias Arand

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Название 1870/71
Автор произведения Tobias Arand
Жанр Документальная литература
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Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783955101763



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rasante ökonomische Entwicklung auch politische Antworten braucht, in der Bismarcks Imperialismus, wie ein Historiker später urteilte, dem Zeitalter der kapitalistischen Expansion auf den Leib zugeschnitten ist, ein fast schon lächerlicher Anachronismus. Obendrein argumentieren andere Stimmen ähnlich. Auch sie zeigen, dass die in der Rückschau in Hunderten von prachtvollen Erinnerungsbüchern zur Reichseinigung suggerierte patriotische Zustimmung aller Deutschen zum Weg Bismarcks selbst für den ›Norddeutschen Bund‹ nur retrospektive Propaganda war. Doch am prägnantesten bleibt Gerlach. Er sieht in Bismarcks Tun nichts weniger als Gotteslästerung: »›Nationale Bedürfnisse und Forderungen‹ – ›welthistorische Momente und welthistorische Mission‹ – ›providentieller Beruf und providentielle Ziele‹ – diese und alle ähnlichen Ideen haben sich tief unterzuordnen unter die heilige Majestät der Gebote Gottes, derselben Gebote, die das Dorfkind in der Schule lernt, deren Tiefe und Höhe kein menschlicher Geist zu ermessen ausreicht.«37 Solche Kritik aus dem eigenen Lager, dem sich Bismarck in seinen Grundüberzeugungen zugehörig fühlt, dürften den durchaus religiösen ›Macher‹ der ganzen Entwicklung nicht unberührt gelassen haben. Gerlach, den radikalen Gegner seiner einigungstrunkenen Gegenwart, betrachtet Bismarck wohl gerade deswegen als seinen persönlichen Feind.

      Eine große Menge an Menschen in Süddeutschland fürchtet Preußens neue militärische Macht. Vermögende junge Männer aus Baden fliehen vor der durch die Militärkonvention vom März 1867 verfügte Wehrpflicht ins Ausland. In den Überseehäfen wächst ab 1867 die Zahl auswanderungswilliger Männer im wehrfähigen Alter.

      Neben diesen Misserfolgen müssen Preußen und Bismarck auch noch mit ansehen, wie das 1866 geschlagene Österreich und Frankreich gemeinsame Pläne schmieden, um einen Anschluss der Südländer an den Bund zu verhindern. Überlegungen zu französisch-österreichischen Handels- und Militärverträgen machen die Runde. Bei Kammerwahlen in Württemberg und Bayern siegen zudem ›großdeutsch‹ orientierte Politiker, und die allgemeine Stimmung in den Ländern ist wenig preußenfreundlich. Niemand will sich »borussoficieren«38 lassen. Trotz der durch die ›Schutz- und Trutzbündnisse‹ eingeleiteten militärischen Anbindung der Süddeutschen an den Norden und die fortschreitende wirtschaftliche Vereinheitlichung des deutschen Raums ist es am Ende der 60er-Jahre des 19. Jahrhunderts keineswegs ausgemacht, dass der ›Norddeutsche Bund‹ nur wenige Jahre nach seiner Gründung zugunsten des ›Deutschen Reichs‹ aufgelöst werden wird. Dennoch hat Bismarck aus seiner Sicht eine gute Ausgangslage für den letzten entscheidenden Schritt geschaffen. Was jetzt noch fehlt, ist ein Ereignis, das den patriotischen Elan der Süddeutschen in Schwung bringt und gleichzeitig die dort verantwortlichen Regierungen an die Seite Preußens zwingt. Es fehlt der Krieg, den die ›Schutz- und Trutzbündnisse‹ geradezu herbeibeschwören: der Krieg gegen Frankreich. Allerdings müssen Zeitpunkt und Anlass stimmen.

      In Frankreich fühlt man sich von den Ereignissen des Jahres 1866 betrogen. Sollten sich doch eigentlich die Deutschen gegenseitig bekriegen, damit Frankreich auf den Trümmern des Reichs seine ›Gloire‹ steigern und die Territorien am Rhein gewinnen konnte. Nun muss man aber sehen, dass Bismarck das Spiel nach seinen Regeln spielen will. Der Ruf nach ›Rache für Sadowa‹ wird in der nationalistischen Presse Frankreichs laut. Was ist das für ein Staat, dieses Second Empire – das Zweite Französische Kaiserreich?

      In einem anonymen polemischen Pamphlet, das unter dem Titel ›Napoleon ohne Schminke‹ kurz nach dem Tod des ehemaligen Kaisers erschienen ist, wird Widersprüchliches über den Neffen Napoleons I. mitgeteilt. Zugleich werden wichtige Stationen und Prinzipien seiner Herrschaft angesprochen, die Napoleon III. im Dezember 1851 nur durch einen nachträglich mittels einer Volksabstimmung scheinlegitimierten Staatsstreich erringen konnte: »Louis Napoleon wurde Kaiser und wenn wir bei der Abstimmung eine Million Stimmen als erschwindelt bezeichnen, so können doch alle Tadler nicht die Thatsache abstreiten, daß die überwiegende Mehrzahl der Franzosen mit diesem Resultat der Abstimmung zufrieden waren. […] Wodurch hatte Napoleon das Ziel seiner Wünsche erreicht? Dadurch, daß er Allen und Jedem schmeichelte, nach allen Seiten hin Alles versprach; die naturnothwendige Folge hiervon war, daß er – mochte er handeln wie er wollte, immer Unzufriedene erzeugte, die Fug und Recht hatten, ihn eines nichtgehaltenen Versprechens zu bezichtigen. […] Und nicht in Abrede zu stellen ist, daß er sich in jener Zeit einer enormen Beliebtheit in den unteren Schichten der Bevölkerung und in den Kreisen der Industrie sowohl, als auch der Armee zu erfreuen hatte […] Nachdem der Kaiser die […] Armee wieder auf die Höhe gebracht – welche ihm – einem Napoleoniden – nöthig erschien, war ein Krieg unvermeidlich, weil Bedingung der Selbsterhaltung für den Kaiser. […]. Was aber Napoleon III. zur Erhöhung des allgemeinen Wohlstandes gethan, ist enorm.«39

      Erscheint Napoleon dem anonymen Pamphletisten als zwar durchaus intelligente, aber letztlich eher schwache, nicht wirklich böse Figur, findet er scharfe Worte für dessen Gattin Eugénie: »Die Devise der Bonaparte ist: Prostitution. Mit diesem Schandtreiben erzielte aber die Kaiserin nicht nur, daß sie die Frauen kirrte, sondern sie erreichte auch, daß durch den sardanapalischen40 Luxus, der getrieben wurde, die Industrie einen vorher nicht gekannten Aufschwung nahm. Dies söhnte sie aus mit Vielen. Der von ihr eingeführte Luxus, dem bald die ganze Welt, nicht blos Frankreich fröhnte, schaffte Brod, ja Wohlstand und damit Vergessenheit der früheren Aber gegen die Kaiserin.«41 Insgesamt ist das Urteil über die Regierung des Kaisers, den der Anonymus ›ohne Schminke‹ zeigen will, bei aller Anerkennung sozialpolitischer Verdienste, eindeutig negativ. Für den deutschen Sieg im Krieg von 1870/71 wird vor allem wieder Eugénie verantwortlich gemacht: »Hier rächte sich die Entsittlichung, die der Kaiser und die Kaiserin der Nation planmäßig eingeimpft. […] Die Liederlichkeit in der Verwaltung, die Unzuverlässigkeit der Intendanturen, die Unfähigkeit der Gewalthaber, – sie waren nur die Folgen des entsittlichenden Einflusses, den der wieder zum Throne gelangte Napoleonide und seine bonapartistisch denkende Gemahlin im Selbsterhaltungstrieb geltend gemacht. […] Freilich hat dieser Krieg haarsträubende Uebelstände blosgelegt, an denen Frankreich, bis dahin die erste europäische Nation, krank war bis in’s Mark […].«42

      Der übelwollende Zeitgenosse Napoleons verweist auf gleich mehrere wichtige Punkte in Napoleons Biografie und Politik: eine inkongruente Ideologie, die zu widersprüchlichem Handeln führt, Heischen um Beliebtheit bei den unteren Klassen, Hervorhebung der Rolle des Militärs, eine einflussreiche Ehefrau, die Förderung von Konsum und Luxus, Vernachlässigung der Verwaltung zugunsten einer wenig effektiven Günstlingswirtschaft, Inszenierung eines anachronistischen Kaiserkults.

      »Bonaparte als die verselbständigte Macht der Exekutivgewalt fühlt seinen Beruf, die ›bürgerliche‹ Ordnung sicherzustellen. Aber die Stärke dieser bürgerlichen Ordnung ist die Mittelklasse. Er weiß sich daher als Repräsentant der Mittelklasse und erläßt Dekrete in diesem Sinne.«43 So urteilt Karl Marx in seiner Schrift über den Staatsstreich Napoleons III. Tatsächlich ist es aber gerade nicht die Mittelklasse, die im neuen Kaiserreich profitiert. Durch eine Wirtschaftspolitik, die über öffentliche Aufträge und damit über Schulden sowie eine großzügige Kreditpolitik gesteuert werden soll, wird ein Finanzboom ausgelöst, der vor allem Spekulanten bei Insidergeschäften Gewinn bringt. Neben den alten Adel treten nun die ›Nouveau riches‹, die ›Zu-Geld-Gekommenen‹, und dominieren gemeinsam mit Politgewinnlern und Verwaltungskarrieristen, die im neuen Regime eine Aufstiegschance erblicken und ergreifen, die politische Kultur, den Hof und das gesellschaftliche Leben. Um dazuzugehören, schmücken sich viele der zu Kapital und Einfluss Gekommenen sogar mit falschen Adelstiteln. Der französische Romancier Guy de Maupassant hat in der Figur des ›Bel Ami‹ diese Sorte der Emporkömmlinge mit scharfem Spott beschrieben. Auch wenn der gleichnamige Roman erst einige Jahre nach dem Ende des 2. Kaiserreichs erschienen ist, karikiert er doch genau jenen Typus des Aufsteigers, wie er seit Napoleon III. in Frankreich anzutreffen ist. Der Journalist Georges Duroy, der durch Intrigen zu Einfluss gekommen ist und im Verlauf des Romans durch unsaubere Finanzgeschäfte reich wird, macht sich auf Druck seiner mondänen Verlobten ebenfalls zu einem erfundenen Edelmann: »Ja, mein Lieber, ich bin wie alle Frauen, ich