1870/71. Tobias Arand

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Название 1870/71
Автор произведения Tobias Arand
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783955101763



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wenig adeln? […] Er antwortete einfach: Daran habe ich schon öfter gedacht, aber so einfach ist das wohl nicht. ›Wieso denn?‹ Er begann zu lachen. ›Weil ich fürchte, mich lächerlich zu machen.‹ Sie zuckte mit den Schultern. ›Aber durchaus nicht … Jeder tut es, und kein Mensch lacht darüber. Sie brauchen nur Ihren Namen in zwei Teile zu zerlegen: Du Roy. […] Voller Überzeugung fügte sie hinzu: Und Sie sollen mal sehen, wie schnell die Leute sich daran gewöhnen.«44

      Motor und zugleich Spiegel dieser Verhältnisse sind der überbordende Luxus am Hof und die dort gehaltenen prachtvollen Bälle. Napoleons III. überaus energische Gattin Eugénie, eine spanisch-schottische Grafentochter, ist eine bemerkenswerte Person, über die sich schon die Zeitgenossen teils bewundernd, teils hämisch äußern. Mit der Kaiserin werden die Feiern des Hofes und Eugénies modische Vorlieben sogar zu einem Faktor, der die Textilindustrie Frankreichs belebt. Frauen, die sich für gut situiert halten, müssen dem Vorbild der Kaiserin nacheifern und dem neuesten Trend folgen, den Eugénie vorgibt. Eine ›Entsittlichung‹, wie sie der anonyme Kritiker gesehen haben will, wird durch Eugénie aber sicher nicht gefördert. Die feierliche Pracht kommt jedoch nicht nur den Bedürfnissen der neuen Funktions- und Geldeliten im Kaiserreich und des ›Partygirls‹ Eugénie entgegen, sondern sie entspricht auch der Notwendigkeit der imperialen Repräsentation des Zweiten Kaiserreichs. Dieses Repräsentationsbedürfnis drückt sich ebenso in zahlreichen öffentlichen Festen aus, in denen sich das Regime als spendabel und human feiern lässt. Hiervon und von der großen Bedeutung, die der ständige Bezug auf Napoleon I. für das Second Empire besitzt, gibt der später ausgewiesene Schriftsteller Ebeling ein beredtes Zeugnis. Im Jahr 1854 wird der Geburtstag Napoleons I., der 15. August, mit einer großen Feier in Paris begangen. Ebeling beschreibt: »Massenhafte Brot- und Fleischverteilungen an die Armen […], Speisung von ganzen Regimentern mit Braten und Wein auf dem Marsfelde, ebendaselbst Puppentheater und Schaubuden, Klettermasten mit ansehnlichen Silberpreisen, Karussells und russische Schaukeln, und selbstverständlich alles gratis. […] Abends zwei große Feuerwerke, eines im Osten, eines im Westen von Paris, um die Menschenmassen zu verteilen, und allgemeine Illumination, die sich in jenem Jahre, wo die Begeisterung für den ›Retter der Gesellschaft‹ noch frisch war, bis in die entlegensten Stadtviertel erstreckte. Nebenbei bemerkt, kostete jedes Feuerwerk 40 000 Franken, und bei jedem bildete das sogenannte ›bouquet‹ den Schluß: dreitausend Soldaten schossen auf einmal ebenso viele mit Leuchtkugeln gefüllte Raketen in die Luft.«45 Bei den zahlreichen Feiern dieser Art treten auch stets die beiden wichtigsten Systempfeiler des Regimes in Erscheinung: Die katholische Kirche, die sich bedingungslos den neuen Verhältnissen unterwirft, und die Armee, deren öffentliche Wahrnehmung und Funktion im Staat durch Paraden und eine große öffentliche Präsenz Uniformierter im Alltag im Vergleich zu vorher stark gestiegen ist.

      Von der staatlichen Schuldenpolitik sollen aber ebenso die unteren Einkommensschichten profitieren, schafft das staatliche ›Deficit spending‹ doch schließlich auch Arbeit, die allerdings in der Regel nicht angemessen bezahlt wird. Von Streikrecht, Arbeitslosenunterstützung oder Arbeitsschutz bei gefährlichen Tätigkeiten ist Frankreich wie die ganze Welt in der Mitte des 19. Jahrhunderts noch weit entfernt. Ein Beispiel für staatliche Förderpolitik der Privatwirtschaft ist die Modernisierung des mittelalterlichen Paris im Sinne moderner Urbanität durch den Präfekten Georges-Eugène Haussmann. Das gigantische Projekt, durch das die heutige Anmutung von Paris mit seinen breiten Boulevards und neoklassizistischen Wohnblockbebauungen geprägt ist, kostet zwar Unsummen, ist aber zugleich ein wichtiger Motor der Wirtschaftsförderung. Dazu werden andere Großstädte in der Provinz nach dem Muster von Paris modernisiert und profitieren so vom Modernitätsschub, den das Zweite Kaiserreich durchaus auch hervorbringt.

      Besonderen Gewinn jedoch zieht die Schwerindustrie aus dem napoleonischen Regime. Durch Zoll- und Steuersenkungen werden gezielte Hilfen für die Privatindustrie geleistet, damit diese Gelder in die für ein stetiges Wirtschaftswachstum notwendige Infrastruktur, zum Beispiel in den Eisenbahnbau, und die weitere Erschließung der Rohstoffvorkommen investieren kann. Durch das Wirtschaftswachstum soll dann das Problem der Armut und Ungleichheit gelöst werden. In der Tat erfährt das Land einen eindrucksvollen Aufschwung: das Eisenbahnnetz wird ausgebaut, die Zahl der Kohlegruben und Metallfabriken wächst enorm, die Stahlproduktion steigt, Hafenstädte werden gezielt gefördert. Die sozialen Probleme werden aber nicht eigentlich gelöst. Napoleons wirtschaftsliberale Annahme, dass eine florierende und freie, um nicht zu sagen schrankenlose Ökonomie automatisch auch die Lebensverhältnisse der ihre Arbeitskraft verkaufenden Proletarier, der Bauern und kleinen Angestellten verbessere, geht an den Realitäten vorbei. Der entfesselte Finanz- und Industriekapitalismus schaut immer und zu jeder Zeit ausschließlich auf seine Interessen, nicht auf jene der ihre Haut oder ihr mühsam Erspartes zu Markte tragenden Menschen.

      Als besonders problematisch für das Second Empire – der anonyme Kritiker hat das deutlich hervorgehoben – erweisen sich Klientelismus und Korruption in Verwaltung und Wirtschaft. Minister nutzen ihre politische Funktion schamlos zur persönlichen Bereicherung. Ämter und Offizierspatente werden gekauft oder nach Loyalität zum Kaiserhaus, nicht nach Leistung vergeben. Der Wille zur Bereicherung der neuen ›Eliten‹ durchdringt den ganzen staatlichen Verwaltungsapparat von oben nach unten. Diese strukturellen Mängel werden eine erhebliche Rolle im Krieg spielen. Sie bewirken aber auch auf Dauer einen wirtschaftlichen Abschwung, der zugleich mit der steigenden Staatsverschuldung das Kaiserreich in den 1860er-Jahren zunehmend bei den Franzosen in Misskredit bringt.

      Politisch ist das Empire in seiner ersten Phase ein autoritärer Staat, der auf Grundlage von Plebisziten regiert wird. Die gesetzgebende Kammer, ›Corps législatif‹, hat keine wirkliche Kontrollfunktion, wichtige Fragen werden direkt über gesteuerte Volksentscheide entschieden. Im Oberhaus, dem Senat, sitzen von Napoleon persönlich auf Lebenszeit ernannte Handlanger des Regimes, die alle Entscheidungen abnicken und ihre politische Funktion vor allem für Geschäfte nutzen. Minister sind nur dem Kaiser verpflichtet. Die Pressefreiheit ist stark eingeschränkt. So bestimmt eine merkwürdige Mischung aus direkter Demokratie, die den Kaiser stets zwingt, Rücksicht auf die öffentliche Meinung zu nehmen beziehungsweise diese zu manipulieren, und Diktatur das Herrschaftssystem. Der starke Mann Napoleons in der Innenpolitik ist sein Halbbruder Charles Auguste Louis Joseph de Morny, zuerst Innenminister, später Präsident des ›Corps législatif‹. Morny nutzt seine politischen Funktionen hemmungslos für seine Geschäfte, womit er ein weithin wahrgenommenes und tausendfach kopiertes Negativbeispiel für viele Funktionsträger des Kaiserreichs abgibt.

      Erst in den 60er-Jahren, als sich die politische Opposition angesichts der Wirtschaftsprobleme und außenpolitischer Fehlschläge wieder allmählich neu formiert und zahlreiche Streiks die sich verschärfenden sozialen Probleme offenlegen, lockert der Kaiser das Regime und macht demokratische Zugeständnisse. Diese zweite Phase des Second Empire gilt als dessen sogenannte ›liberale‹ Phase. Sie ist zugleich die letzte des Regimes.

      Es läge nahe, dass sich der Neffe Napoleons I. und selbsternannte Erbe des großen Korsen, vor allem über Kriege als der ›Grandeur‹ seiner Nation und dem Andenken seines Onkels würdig erweisen will. Tatsächlich aber verkündet der Kaiser bei Herrschaftsbeginn eine ganz andere Parole. In einer Rede in Bordeaux verkündet er: »Aus dem Geist des Misstrauens sagen sich gewisse Personen: Das Kaiserreich ist der Krieg. Ich sage: das Kaiserreich ist der Friede.«46 Und tatsächlich ist Louis-Napoleon kein kriegerischer Charakter und auch kein militärisches Genie. Dennoch ist Napoleon III. seiner Armee als einem der Hauptpfeiler des Staates und der Größe Frankreichs im Konzert der europäischen Mächte verpflichtet. Siegreiche Kriege sind überlebensnotwendig für seine Herrschaft, aber ebenso für das Ansehen Frankreichs. Nicht zuletzt fordern die Generale, die Napoleons Putsch vom Dezember 1851 militärisch durchführten, ihr Recht auf Siege und Orden.

      Bei Amtsantritt des neuen Kaisers ist Frankreich keineswegs gleichberechtigt im Zusammenspiel der Großmächte. Frankreich gilt – mit Recht – als Hort der Revolution, der Terror des ersten Napoleon ist in Europa keineswegs vergessen. Den etablierten Adelshäusern ist der Parvenu auf dem selbstgezimmerten, vom Volk abgesegneten Kaiserthron ohnehin suspekt. Erstes Ziel der Außenpolitik des 2. Kaiserreichs ist es daher, Frankreich wieder