1870/71. Tobias Arand

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Название 1870/71
Автор произведения Tobias Arand
Жанр Документальная литература
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Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783955101763



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spektakulärste Neuerung nach dem Sieg gegen Österreich ist die Gründung des ›Norddeutschen Bundes‹. Dieser kurzlebige ›Norddeutsche Bund‹ ist der unmittelbare Vorläufer des ›Deutschen Reichs‹. Seine Funktion liegt von Beginn an in der Vorbereitung eines Einheitsstaats, der auch die süddeutschen Länder umfassen soll. Für die Vorbereitung dieses Bundes kann sich Bismarck vor allem auf die Hilfe der neuen Gruppierungen im Landtag verlassen. Freikonservative und Nationalliberale unterstützen Bismarcks Pläne. Bismarcks Ziel ist es, Preußens Vormachtstellung in einem künftigen ›Deutschen Reich‹ zu wahren. Nach dem Sieg der preußischen Waffen 1866 gibt es keine Macht in Deutschland, die ihn daran hindern kann, einen dafür passenden Rahmen zu schaffen. Im Jahr 1866 schließen bis zum 21. Oktober 21 deutsche Staaten mit dem Hegemon Preußen ein Bündnis, das den Namen ›Norddeutscher Bund‹ erhält. Das Königreich Sachsen, das nur mithilfe Österreichs in den Friedensverhandlungen nach dem Deutschen Krieg seine Eigenständigkeit behalten konnte, tritt als letztes Land bei. In allen 22 deutschen Staaten nördlich der Mainlinie finden am 12. Februar 1867 allgemeine, gleiche und direkte Wahlen zu einem konstituierenden ›Reichstag‹ des ›Norddeutschen Bundes‹ statt. Hessen-Darmstadt, das vom Main durchtrennt wird, gehört allerdings nur mit dem nördlichen Teil dem Bündnisgebiet an.

      Am 24. Februar 1867 wird der verfassunggebende Reichstag in Berlin durch den preußischen König Wilhelm I. eröffnet. Ihm wird am 4. März ein Verfassungsentwurf vorgelegt, den der preußische Publizist, Historiker und altliberale Geheimrat Maximilian Duncker vorbereitet, Bismarck überarbeitet und mit den beteiligten Regierungen abgestimmt hat. Die Verfassung sieht eine föderale Struktur vor, bestehend aus den weiter bestehenden Parlamenten der Mitgliedsstaaten, den Staatsregierungen, dem frei und geheim von allen Männern ab 25 Jahren zu wählenden Reichstag und einem Bundesrat. Während viele Fragen weiter der Regelung der Einzelstaaten unterstehen, sollen Reichsangelegenheiten auf Ebene des Reichstages und des Bundesrates entschieden werden. Der Reichstag erhält insbesondere Budgetrecht und Mitwirkungsrechte unter anderem in Fragen des Verkehrswesens, der Handelspolitik und des Rechtswesens. Dem Reichstag ist der Bundesrat zur Seite gestellt, in den aber nicht die Vertreter der Einzelparlamente, sondern die weisungsgebundenen Vertreter der überwiegend monarchischen Regierungen entsandt werden. Gesetze sollen mit Mehrheiten in beiden Kammern verabschiedet werden. Die erdrückende Dominanz Preußens – 25 der 30 Millionen Einwohner des ›Norddeutschen Bundes‹ sind Preußen – kommt in der Zusammensetzung des Bundesrats nicht gleichermaßen zum Ausdruck. Die 17 preußischen Vertreter im 43 Köpfe umfassenden Gremium besitzen jedoch eine Sperrminorität, da Verfassungsänderungen nur mit Zweidrittelmehrheit beschlossen werden können. Sachsen entsendet vier Vertreter, Braunschweig und Mecklenburg-Schwerin je zwei. Alle anderen Länder schicken einen Vertreter in den Bundesrat, der so ganz ein Instrument preußischen Herrschaftswillens ist und gegen den sich faktisch keine Mehrheiten organisieren lassen. Zugleich sichert der Bundesrat als Gremium der Landesregierungen den norddeutschen Monarchen die Kontrolle über die Entwicklung in Deutschland, kann der Reichstag doch nichts gegen den Willen des Bundesrats entscheiden. Das Bundespräsidium, das Bundesrat und Reichstag beruft, steht selbstverständlich dem König von Preußen zu, der auch den Oberbefehl über das Heer erhält und den Bund nach außen vertritt. Die Geschäftsführung des Bundes soll der Bundeskanzler innehaben, der nur vom preußischen König benannt und entlassen werden kann. Die Einheit Deutschlands als ein monarchisch geprägtes und bestenfalls halbdemokratisches ›Großpreußen‹ wird so bereits in der Verfassung des ›Norddeutschen Bundes‹ angelegt.

      Allerdings leisten die Liberalen energischen Widerstand gegen Bismarcks Absicht, eine Verfassung ohne verantwortliche Minister vorzulegen. Sie erzwingen, dass Anordnungen des Bundespräsidiums vom Kanzler gegengezeichnet werden müssen und geben Bismarck damit, möglicherweise ungewollt, mehr Macht in die Hände, als der eigentliche Verfassungsentwurf vorsieht. Zudem sorgen die Liberalen dafür, dass der Bundeshaushalt jährlich genehmigt werden muss und die Abgeordneten Immunität besitzen. Eine wichtige Rolle bei den Verfassungsänderungen spielt der Nationalliberale Rudolf von Bennigsen.

      Am 16. April 1867 wird der Verfassungsentwurf mit 230 zu 53 Stimmen angenommen und am 1. Juli des Jahres der ›Norddeutsche Bund‹ als deutscher Bundesstaat etabliert. Die Fahne des Bundes trägt in drei horizontalen Balken die Trikolore Schwarz-Weiß-Rot und verweist damit auf das preußische Schwarz-Weiß und die hanseatisch-norddeutschen Farben Rot-Weiß. Die schwarz-rot-goldenen Farben der bürgerlichen Revolution von 1848 werden bewusst verschmäht. Zur Machtzentrale des Bundes wird das Bundeskanzleramt, das der Ministerialdirektor des preußischen Handelsministeriums, Rudolph Delbrück, leitet. Delbrück, der bereits eine wichtige Rolle bei der Ausweitung des Zollvereins gespielt hat, wird zur ›rechten Hand‹ Bismarcks und betreibt zielstrebig eine Vereinheitlichung des Bundes in Fragen des Handels, der Justiz und des Post- wie Telegrafenwesens. Einen wichtigen Beitrag zur faktischen, aber auch ideellen Einheit leisten daneben die Artikel der Verfassung des ›Norddeutschen Bundes‹ zum Militärwesen. Besonders zu nennen ist die Einführung einer allgemeinen Wehrpflicht, der sich niemand mehr durch Privilegien entziehen kann: »Artikel 57: Jeder Norddeutsche ist wehrpflichtig und kann sich in Ausübung dieser Pflicht nicht vertreten lassen.«33 Daneben leistet Artikel 63 eine wichtige Vorarbeit für die Ereignisse der Jahre 1870/71: »Die gesammte Heermacht des Bundes wird ein einheitliches Heer bilden, welches in Krieg und Frieden unter dem Befehle seiner Majestät des Königs von Preußen als Bundesfeldherrn steht.«34 Zur Durchsetzung dieses Verfassungsanspruchs schließt Preußen mit den Staaten des ›Norddeutschen Bundes‹ Militärkonventionen ab. Mit diesen Artikeln und Konventionen ist Wilhelm I. die größte Streitmacht Europas in die Hände gegeben. Der König von Preußen wird diese durch die Heeresreform umfassend modernisierte und ihre überragenden Erfolge selbstbewusst gewordene Streitmacht 1870 eindrucksvoll ins Feld führen.

      Im Nordteil Deutschlands ist nun also ein mächtiger, von Preußen dominierter Staatenbund entstanden. Nicht allen Menschen im Süden und auch nicht allen Nachbarstaaten gefällt diese Entwicklung. Dennoch regelt die Verfassung des ›Norddeutschen Bundes‹ bereits im Vorgriff den außerhalb Süddeutschlands mehrheitlich gewünschten weiteren Gang der Ereignisse. In Artikel 79 heißt es: »Der Eintritt der Süddeutschen Staaten oder eines derselben in den Bund erfolgt auf den Vorschlag des Bundespräsidiums im Wege der Bundesgesetzgebung.«35 Der Weg bis zum tatsächlichen Beitritt der süddeutschen Länder und damit zur Reichsgründung ist allerdings noch dornenreich. Das zeigt sich unmittelbar schon in den ersten Jahren nach dem Krieg von 1866.

      Ein Plan Bismarcks, die süddeutschen Staaten auf friedlichem Weg näher an den ›Norddeutschen Bund‹ heranzuführen, besteht darin, zuerst ein gemeinsames Zollparlament zu schaffen. 85 Abgeordnete aus Bayern, Hessen, Baden und Württemberg sollten zu den Abgeordneten des ›Norddeutschen Bundes‹ hinzugewählt werden und mit diesen gemeinsam über Fragen der wirtschaftlichen Vereinheitlichung entscheiden. Die schon gewählten Mitglieder des Reichstags sind automatisch ebenfalls im Zollparlament vertreten. Gleichzeitig will Bismarck mit diesem Schachzug die Partikularisten schwächen und politisch in die Defensive bringen. Bei den Wahlen zum Zollparlament im Februar 1868 bekommen jedoch völlig unerwartet partikularistisch orientierte Politiker, also Freunde der deutschen Mehrstaatlichkeit, die Oberhand. Gemeinsam mit auch im Norden anzutreffenden Gegnern der preußischen Dominanz bilden sie nun die Mehrheit im Zollparlament. Vor allem im ehemaligen Königreich Hannover ist der Zorn über die kalte Annexion durch Preußen noch nicht verraucht und auch die Katholiken verfolgen die preußisch-protestantische Einigungspolitik mit Misstrauen. Kopf der norddeutschen Bismarck-Gegner ist der ehemalige hannoversche Justizminister und bekennende Katholik Ludwig Windhorst. Das Zollparlament erweist sich so als untauglicher Motor eines friedlichen Ausgreifens des ›Norddeutschen Bundes‹ in den Süden.

      Auch von altpreußisch-konservativer Seite weht Bismarck der Wind entgegen. Sein schärfster Kritiker ist hier wieder Gerlach. Dieser schreibt im Dezember 1867 in einem Brief: »Daß Hannover, Nassau und Frankfurt ganz nach den Regeln der Naturgeschichte von Bismarck gefressen wurden, daran habe ich nicht den leisesten Zweifel. Mein Schmerz ist kein sentimentaler Schmerz, daß es kein Hannover, Nassau und Frankfurt mehr gibt, sondern der Schmerz eines preußischen, deutschen Christen, daß meine