1870/71. Tobias Arand

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Название 1870/71
Автор произведения Tobias Arand
Жанр Документальная литература
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Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783955101763



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ersten Drittel des 19. Jahrhunderts friedlich mit der dänischen Mehrheit zusammenlebt. Doch der aufkommende Nationalismus auf beiden Seiten vergiftet das Verhältnis zunehmend. Nach dem dänischen Sieg von 1851 empfindet sich die deutsche Minderheit in Schleswig als fremdbestimmt und tatsächlich sparen die Dänen nicht mit Zeichen ihres Führungsanspruchs. Viele Schleswiger wollen raus aus Dänemark.

      Manche Dänen pflegen einen aggressiven Nationalismus. Eine starke nationale Bewegung, die ›Eiderdänen‹, fordert eine stärkere Einbeziehung Schleswigs in den dänischen Staat und damit den Fluss Eider als Südgrenze des Königreichs Dänemark unter Ausschluss Holsteins und Lauenburgs. Die deutsche Minderheit soll danisiert werden. Gegen diese Pläne sprechen jedoch die international in London garantierte Selbstverwaltung Schleswigs sowie eine mittelalterliche Bestimmung, nach der Schleswig und Holstein ›up ewig ungedeelt‹ – für immer ungeteilt – zu bleiben haben.

      Anfang der 1860er-Jahre wächst der Einfluss der ›Eiderdänen‹. Sie stellen Minister und entwerfen eine Verfassung, die Schleswig Dänemark vollständig einverleiben soll. Als am 18. November 1863 der dänische König Christian IX. drei Tage nach seinem Amtsantritt die sogenannte ›Novemberverfassung‹ unterschreibt, mit der die ›eiderdänischen‹ Wünsche umgesetzt werden sollen, erhebt sich ein Aufschrei der Empörung in den deutschen Ländern. Überall wird lautstark der Kampf für die bedrängten ›deutschen Brüder im Norden‹ gefordert.

      Bismarck erkennt sofort die Chance für einen außenpolitischen Coup. Er verständigt sich mit Österreich zu einem gemeinsamen Vorgehen. Zuerst wird gegen Holstein und Lauenburg die Bundesexekution verhängt. Die Bundesexekution ist eine mögliche Strafmaßnahme des Deutschen Bundes gegen einzelne Mitglieder, hier gegen den König von Dänemark als Herzog von Holstein und Lauenburg. Kampflos ziehen am 23. Dezember 1863 preußische, österreichische, sächsische und hannoversche Truppen in die beiden Herzogtümer ein. Am 16. Januar 1864 fordern Preußen und Österreich ultimativ die Rücknahme der ›Novemberverfassung‹. Dänemark lässt das Ultimatum in der vergeblichen Hoffnung auf Unterstützung der anderen Signatarmächte verstreichen. Am 1. Februar 1864 marschieren beide Großmächte in Schleswig ein. Kurz zuvor, am 25. Januar, lässt König Wilhelm den Landtag für fast ein Jahr schließen, da zwischen Regierung und Abgeordnetenhaus noch immer kein ihm genehmer Ausgleich erzielt worden war. Es mag kaum übertrieben sein, hier ein Paradebeispiel für den Zusammenhang von kontrovers-repressiver Innenpolitik und Krieg als Mittel der Ablenkung von dieser Politik zu sehen. Im patriotischen Überschwang schweigen gern auch viele sonst kritische Stimmen.

      Mit der blutigen Erstürmung der Düppeler Schanzen, einer Befestigungsanlage, die den Übergang zur Ostseeinsel Alsen sichert, am 18. April 1864 durch preußische Truppen ist Dänemark bereits entscheidend geschwächt. Mit dem Übersetzen preußischer Truppen nach Alsen bei Arnekiel, wohin sich die Reste der dänischen Armee geflüchtet hatten, ist im Juni 1864 der Krieg entschieden. Die österreichischen Truppen haben ihren Anteil am Sieg vor allem durch erfolgreiche Kämpfe in Dänemarks größtem Landesteil Jütland.

      Im Deutsch-Dänischen Krieg konnten die preußischen Truppen zum ersten Mal seit den Kämpfen gegen Napoleon und der unrühmlichen Niederschlagung der Revolution in Baden 1849 wieder ihre Kampfkraft beweisen. Der Aufstieg Preußens zur gefürchteten Militärmacht des 19. Jahrhunderts hatte für alle sichtbar begonnen. Im Vertrag von Wien tritt Dänemark am 30. Oktober 1864 Schleswig, Holstein und Lauenburg an Preußen und Österreich ab. Wie traumatisch dieses Ergebnis für das nationale Selbstbewusstsein vieler Dänen gewesen sein muss, lässt sich noch heute auf den als patriotische Erinnerungsstätten hergerichteten Schlachtfeldern und in zahlreichen Museen nachvollziehen. Bis in die Gegenwart gedenkt Dänemark mit Wehmut und häufig die eigene Verantwortung leugnendem Selbstmitleid der Folgen der dramatischen Fehlkalkulation der Jahre 1863 und 1864.

      Für Bismarck ist der Sieg ein großer Erfolg. Er hat die Effektivität der Heeresreform in der Praxis bewiesen und so manchen liberalen Gegner ins Grübeln gebracht. Die von Bismarck beschworene Einheit durch ›Eisen und Blut‹ erscheint nun einigen Liberalen als eine denkbare Alternative, die vielleicht nicht angenehm, dem Zustand der staatlichen Zersplitterung aber vorzuziehen ist.

      Auch die deutsche Kriegsindustrie ist zufrieden. So konnten insbesondere die Gussstahlkanonen der Essener Stahlgießerei Krupp vor den Düppeler Schanzen eindrucksvoll ihre Leistungsfähigkeit beweisen. Dass der preußische Staat die Waffen ohne verfassungsgemäßen Etat, sozusagen mit ›Schwarzgeld‹, abgekauft hat, ist den Industriellen dabei gleichgültig. Der Preis für Bismarcks Wunsch, durch kriegerische Außenpolitik von seiner umstrittenen Innenpolitik abzulenken und die Heeresreform durchzusetzen, ist hoch. Für Bismarck, seinen König, die Interessen der Industrie und die bürgerlichen Träume von der staatlichen Einheit verlieren ca. 8000 Männer beider Seiten Leben oder Gesundheit. Gekämpft hatten neben dem überwiegend adeligen Offizierskorps vor allem Bauern, einfache Handwerker und Arbeiter, für deren Interessen sich aber weder Konservative noch Liberale ernsthaft einsetzen. Ihre Rolle erfüllt sich darin, Schanzen zu stürmen und als Tote die Schlachtfelder zu bedecken. Die dänische Kampagne sollte dafür nur das vergleichsweise harmlose Vorspiel bilden.

      Parallel zu den außenpolitisch-militärischen Plänen versucht Bismarck außerdem auf dem Feld der Wirtschaft, Österreich zur Seite zu drängen. Dabei kann er an die Arbeit seiner Vorgänger anknüpfen. Eine wichtige Einrichtung, in der die deutsche Einheit in Teilen vorweggenommen ist, stellt der 1834 errichtete Deutsche Zollverein dar. In ihm sind Preußen, Bayern, Württemberg, Sachsen, Baden und die mittel- wie norddeutschen Kleinstaaten organisiert. Seine Aufgabe besteht im Abbau von Zoll- und Handelsschranken zwischen den deutschen Staaten. Das Fehlen Österreichs im Zollverein ist eine wichtige Vorentscheidung im Kampf zwischen ›kleindeutscher‹ und ›großdeutscher‹ Lösung, kann Preußen doch dadurch den Zollverein dominieren und für seine Interessen instrumentalisieren. Auch in der Zollfrage konkurrieren Preußen und Österreich erbittert. Die preußischen Vorstellungen zielen auf eine deutsche Freihandelszone mit Orientierung nach Westen, womit den Interessen der exportorientierten preußischen Agrarwirtschaft, der Handels- und der Finanzindustrie Rechnung getragen würde. Österreich hingegen wünscht ebenfalls eine Zollunion, möchte seine Wirtschaftszweige aber durch Schutzzölle sichern und tritt deshalb dem Zollverein nicht bei. Eine Westbindung, zum Beispiel durch Freihandelsverträge mit Frankreich, wäre für Österreichs mittel- und osteuropäisch orientierte Wirtschaftswelt deutlich nachteilig. Allerdings versucht Österreich, mit eigenen Vorschlägen den Zollverein in seinem Sinne zu beeinflussen, um doch noch beitreten zu können. Für beide Seiten ist es wichtig, die anderen deutschen Staaten von den eigenen Vorstellungen überzeugen zu können. Ständig werden neue Pläne vorgestellt. Die ›Südstaaten‹ Bayern, Württemberg und Baden stehen auf Österreichs Seite, fürchten sie doch mit Recht eine preußische Übermacht. Dazu kommt, dass sie sich konfessionell, kulturell und historisch der südlichen Großmacht näher fühlen.

      Dieser Jahrzehnte währende Konflikt kommt noch vor Bismarcks Amtsantritt zu einer Vorentscheidung. Im März 1862 unterzeichnen Preußen und Frankreich einen Handelsvertrag. Nun kommt es für die beiden deutschen Großmächte lediglich darauf an, die anderen Staaten auf ihre Seite zu ziehen. Hier nutzt Preußen seine ökonomische und militärische Dominanz nördlich des Mains rücksichtslos aus. Die kleinen deutschen Länder werden mit mehr oder weniger subtilen Methoden bedroht. Der öffentliche Druck des ›kleindeutsch‹ orientierten Bürgertums nördlich der Mainlinie tut ein Übriges. Verhandlungen mit Österreich lässt Bismarck eher nur noch zum Schein führen. Nach und nach treten 1864 die anderen deutschen Staaten nördlich des Mains dem preußisch-französischen Freihandelsbund bei. Auch wenn die Südstaaten vorerst fehlen, hat das preußische Freihandelssystem gesiegt. Wirtschaftlich ist Österreich aus Deutschland praktisch ausgeschieden. Nun fehlen noch der politische und der militärische Rauswurf.

      Im Jahr 1866 kommt es schließlich zum ›Showdown‹ zwischen den beiden deutschen Großmächten. Die Voraussetzungen sind jedoch schon in den Jahren zuvor gelegt worden. Anders als heute verstanden