1870/71. Tobias Arand

Читать онлайн.
Название 1870/71
Автор произведения Tobias Arand
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783955101763



Скачать книгу

      Eine erste Gelegenheit, wieder Ruhm an die französischen Fahnen zu heften, ist der Krimkrieg. Im Konflikt zwischen dem Osmanischen Reich und Russland greifen Frankreich, England und Sardinien-Piemont gegen das Zarenreich ein. Der Krieg, der von 1853 bis 1856 dauert und sich vor allem auf der Krimhalbinsel abspielt, kostet durch militärische Fehler, mangelnde Versorgung und Seuchen ungeahnte Mengen an Menschenleben. Die Zahlen sind unterschiedlich, es werden aber etwa 165 000 Tote angenommen, von denen um die 100 000 Mann an Seuchen, ungenügender Wundversorgung und Krankheiten sterben.

      Zugleich gilt der Krimkrieg als der erste ›moderne‹ Krieg des Industriezeitalters. Wir sehen hier alle Zutaten der im 19. Jahrhundert beginnenden industrialisierten Kriegführung: Einsatz weitreichender Geschütze mit großer Zerstörungskraft und gepanzerter, dampfgetriebener Kriegsschiffe, Verwendung von Gewehren mit gezogenem Lauf, Bau einer ersten militärischen Bahnstrecke. Eine wichtige Neuerung ist auch der militärische Einsatz von Feldtelegrafen, welche die Kommunikation auf dem Schlachtfeld stark beschleunigten. Der Bau einer Unterwasserkabelverbindung innerhalb von knapp drei Wochen durchs Schwarze Meer vom bereits mit Paris verbundenen osmanischen, heute bulgarischen Warna nach Balaklawa auf der Krim ermöglicht es den englischen und französischen Befehlshabern, innerhalb eines Tag vom Kriegsschauplatz nach London oder Paris Nachrichten zu kabeln und Entscheidungen zu empfangen. Anders als früher wird dadurch die letzte Entscheidungsgewalt über das Geschehen auf dem Schlachtfeld weg von den Befehlshabern vor Ort hin zur Politik in den weit entfernten Hauptstädten verlagert. Napoleon III. macht von dieser Möglichkeit – nicht immer zur Freude seiner und der englischen Generale – häufig Gebrauch.

      Die enorme Beschleunigung der Nachrichtenübermittlung erhöht zugleich das Tempo der Presseberichterstattung. Zum ersten Mal kann das Publikum die Geschehnisse auf einem fernen Kriegsschauplatz fast in ›Echtzeit‹ in den Zeitungen nachvollziehen. Die bisher unbekannte Intensität und Geschwindigkeit, mit der seriöse Zeitungen, aber auch die Sensationspresse so auf die öffentliche Meinung einwirken können, hat zudem Folgen für das Kriegsgeschehen. Ein wichtiger Zeuge und einflussreicher Meinungsmacher ist der schon genannte ›Times‹-Korrespondent William Howard Russell. Nach einer Zeitungskritik Russells über Ausrüstungsmängel sieht sich beispielsweise die englische Generalität im Krimkrieg gezwungen, Verbesserungen vorzunehmen. Kriege müssen ab jetzt zugleich mit Rücksicht auf die öffentliche Meinung geführt werden, was sowohl die Führung als auch die Freiheit der medialen Begleitung künftiger Kriege stark beeinflussen wird. Noch im Krimkrieg wird die militärische Pressezensur eingeführt. Dazu kommt, dass der Krimkrieg der erste Krieg ist, den Fotografen mit staatlich-propagandistischemsind Auftrag in Bildern festhalten. Obwohl die Bilder meist gestellt und geschönt sind, kann sich das Publikum daheim in den Lehnsesseln erstmals ein wirkliches Bild vom Krieg machen. Mit dem in Paris 1856 unter seiner Führung abgeschlossenen Friedensvertrag, der die Niederlage Russlands besiegelt, hat Napoleon III. Frankreich wieder unter den führenden Nationen Europas etabliert.

      Bereits seit seiner Jugend ist der Kaiser ein Anhänger der französischen Revolutionsidee der ›Nation‹ als Ordnungselement in Europa. Napoleon möchte eine Neuordnung Europas nach dem Prinzip des Nationalstaatsgedankens und damit eine radikale Abkehr vom System des ›Wiener Kongresses‹ mit seiner dynastischen Ordnung. Selbstverständlich soll dieses Nationalstaatseuropa unter französischem Einfluss stehen. Der natürliche Feind Frankreichs ist so der Vielvölkerstaat Österreich, der kein Interesse am Erfolg des Nationalstaatsprinzips haben kann. Im Jahre 1859 zieht er gemeinsam mit den Kampfgefährten von der Krim, dem Königreich Sardinien-Piemont, in einen Krieg gegen Österreich, der den Startschuss zur nationalen Einigung Italiens geben soll. Auch dieser ›Sardinische Krieg‹ fordert unvorhergesehene Verluste. Die siegreiche ›Bataille de Solferino‹ in Norditalien kostet allein ca. 30 000 Mann. Ein Schweizer Geschäftsmann ist in Solferino unfreiwilliger Augenzeuge der hier wiederum katastrophal mangelhaften Versorgung der Verwundeten. Henri Dunant sind seine Erlebnisse Anlass zur Gründung des Roten Kreuzes. Der sensible Kaiser ist gleicherweise schockiert. Als untätiger Oberbefehlshaber auf dem Schlachtfeld anwesend, bricht Louis Napoleon am Tag nach der Schlacht beim Ritt über das Kampffeld im Angesicht der Leichenberge und Sterbenden weinend zusammen. Diese menschliche Reaktion wirft ein bezeichnendes Licht auf den weichen Charakter eines Mannes, der auch in dieser Hinsicht nur eine schwache Kopie seines berühmten Onkels ist.

      Bei der Schlacht von Magenta erwirbt sich der französische Befehlshaber Patrice de Mac-Mahon so große Verdienste, dass er zum ›Maréchal de France‹ und zum ›Herzog von Magenta‹ ernannt wird. Die Einigung Italiens unter Führung Sardinien-Piemonts gelingt, wie schon an anderer Stelle erwähnt. Allerdings müssen als Preis der französischen Hilfe die mehrheitlich italienischsprachigen Gebiete Savoyen und Nizza an Frankreich abgetreten werden. Mit diesen, gegen das Prinzip des Nationalitätsstaats verstoßenden Annexionen zieht Napoleon großes Misstrauen auf sich. Viele Beobachter sehen darin den Beweis, dass es dem Kaiser weniger um die Idee der Nation als um eine Vergrößerung Frankreichs gehe. Mit Rücksicht auf seine katholische Bevölkerung und den Klerus verhindert Napoleon mit französischen Truppen zudem, dass auch der Kirchenstaat Teil des neuen italienischen Staates wird. Rom ist von französischen Truppen besetzt, welche die Unabhängigkeit des Papstes sichern. Das ist ein weiterer Widerspruch zum von Napoleon propagierten Nationalismus. Viele Italiener, denen der Schlachtruf ›Roma capitale‹ zum Lebenszweck wird, fühlen sich von Napoleon III. verraten. Sie erkennen, dass Napoleon mit Rom ein Faustpfand in der Hand behalten will, mit dem er weiter Einfluss in Italien nehmen kann.

      Auch kleinere militärische Unternehmungen in Syrien und China sind aus französischer Sicht erfolgreich. In Syrien interveniert Napoleon 1860 mit 12 000 Soldaten zum Schutz der bedrohten christlichen Minderheit und im selben Jahr wird gemeinsam mit englischen Truppen in der ›Schlacht von Palikao‹ China im 2. Opiumkrieg bezwungen. 1862 wird Cochinchina, heute Südvietnam, für Frankreich als Kolonialgebiet gewonnen.

      Napoleon ist es bis dahin mit allen seinen kriegerischen Unternehmungen gelungen, auf Kosten anderer Völker und um den Preis vieler verlorener Menschenleben Frankreichs Ehre auf dem Schlachtfeld wiederherzustellen. Das Kaiserreich ist so keineswegs ›der Friede‹, was vielen Franzosen jedoch so lange gleichgültig ist, wie das Kaiserreich seine Kriege gewinnt und es mehrheitlich die Söhne der ›anderen‹ sind, die sterben müssen. Doch das nächste Kriegsabenteuer endet in einem Desaster, das Folgen haben wird.

      In Mexiko regiert seit 1861 eine liberale Revolutionsregierung unter ihrem Führer Benito Juárez. Diese Regierung hat Schwierigkeiten, Anleihen zurückzuzahlen, die zuvor von der korrupten Vorgängerregierung bei europäischen Mächten gezeichnet worden waren. Juárez stellt die Zahlungen schließlich ein. England, Spanien und Frankreich vereinbaren eine Strafexpedition nach Mexiko zur Eintreibung des Geldes. Nach der Landung der Alliierten im mexikanischen Veracruz wird ein Zahlungsmoratorium ausgehandelt und Engländer und Spanier ziehen wieder ab. Das französische Expeditionskorps von 7000 Mann jedoch bleibt. Napoleon III. möchte Mexiko als politisches und wirtschaftliches Gegengewicht gegen die Vereinigten Staaten aufbauen, während diese durch den Amerikanischen Bürgerkrieg abgelenkt sind. Gelingen soll dies durch die Einrichtung eines von Frankreichs Gnaden errichteten mexikanischen Kaiserreichs, auf dessen Thron der Sohn einer großen europäischen Dynastie sitzen soll. Dieser eigenwillige Plan, eine mittelamerikanische Republik in eine Monarchie nach europäischem Vorbild umzuwandeln, konnte nur durch eine sich aus kolonialer Überheblichkeit speisenden völligen Unkenntnis der Verhältnisse in Mexiko entstehen. Tatsächlich findet Napoleon einen europäischen Fürsten, der tollkühn genug ist, sich auf dieses Selbstmordkommando einzulassen. Erzherzog Maximilian, der jüngere, schwärmerisch veranlagte Bruder des österreichischen Kaisers Franz Joseph findet sich bereit, sein Leben in Mexiko zu opfern. Bis 1864 stehen bereits 50 000 französische Soldaten in Mexiko, die immer wieder in Kämpfe verwickelt werden. Geführt wird das französische Expeditionskorps von Marschall François-Achille Bazaine. Im Juni 1864 besteigt Maximilian mithilfe der ausländischen Invasoren seinen Kaiserthron in Mexiko-Stadt und installiert eine verhasste Marionettenregierung. Seine Mühen um liberale Reformen scheitern. Anfang 1865, nach dem Sieg der Nordstaaten im Amerikanischen Bürgerkrieg, unterstützen die USA Juárez und bringen Napoleon und Maximilian in die Defensive. Ein unerbittlicher Guerillakrieg folgt. Dies und die in Frankreich nicht mehr vermittelbaren Kosten der skurrilen Expedition bringen Napoleon