Und wer hilft ihr?. Lennart Frick

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Название Und wer hilft ihr?
Автор произведения Lennart Frick
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788711446782



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vermeiden, das Feuer, das vielleicht von selbst am Verlöschen war, neu zu schüren.

      Sie sind nur neidisch, dachte sie, viele wären nur allzugern an meiner Stelle.

      Sie saß dösend in einer Ecke des niedrigen, weichen Sofas, direkt unter einem der großen Atelierfenster, und malte zerstreut auf dem Rand ihres Notizblocks herum. Es fiel ihr schwer, Interesse für die auf der Tagesordnung stehenden Probleme aufzubringen, sie meinte plötzlich, das alles schon viele Male gehört zu haben, glaubte im voraus zu wissen, wie die Diskussion verlief, denn zu oft schon waren sämtliche Varianten eines möglichen Vorgehens durchgesprochen worden.

      Ich hätte über die Anzahl meiner Fälle Buch führen sollen, dachte sie. So weiß ich nicht einmal, ob es tausend oder zweitausend sind, seit ich hier angefangen habe.

      Trotzdem registrierte sie dieses Gefühl der Unlust mit einiger Verwunderung; es kam nur selten in ihr auf, und wenn, glich es zumeist einem dumpfen Groll, den sie sich nicht anmerken lassen durfte. Sie konnte es manchmal kaum noch ertragen, daß die Klienten sich ausschließlich auf ihre Gefühle konzentrierten, daß sie die wirkliche Situation von ihren Erlebnissen verdecken und sich selbst von momentanen, ständig schwankenden irrationalen Gefühlen leiten ließen, daß sie diese Gefühle nicht unter Kontrolle hatten. Zuweilen konnte sie diese ständige Beschäftigung mit den Gefühlen nicht mehr ausstehen, und ihr verhaltener Zorn war dann am stärksten, wenn die Klienten zu den Wohlhabenden zählten, denn fast immer waren sie es, die am schwierigsten zur Vernunft zu bringen waren.

      Nur sie können es sich leisten, ihre Gefühle zu hätscheln, dachte sie bitter und merkte, daß ihr Kritzeln aggressiv und heftig geworden war, nur sie kommen zu uns. Ein Arbeiter hat sicherlich weder Zeit noch Geld, sich um psychische Zipperlein zu kümmern.

      Die offensichtliche Disproportion bei der sozialen Zugehörigkeit der Klienten beunruhigte sie oft, und ab und zu empfand sie leichtes Unbehagen wegen ihrer Rolle in diesem Spiel.

      Ich sitze hier und doktere an denen herum, die mich am wenigsten benötigen, dachte sie. Nicht ihnen zuliebe habe ich mich schließlich für das Sozialwesen entschieden.

      Doch das Gefühl, diejenigen im Stich gelassen zu haben, denen sie sich vor allem hätte widmen sollen, konnte sie in der Regel abschütteln, und das Gefühl der Wut und des Triumphes, das sie packte, wenn die Begüterten plötzlich ihre Armseligkeit vor ihr ausbreiteten, hatte sie hinlänglich zu verbergen gelernt. Ein für allemal hatte sie ihre Gefühle beherrschen gelernt, sie ließ sich nicht mehr von ihnen verleiten, sie verstand sich auf die Tricks ihres Berufs, sie hatte sich gezwungen, stark und kühl zu sein, und von den Mädchen in der Anmeldung hatte sie erfahren, daß fast die Hälfte aller Klienten um einen Termin bei ihr baten. Das alles wußte sie, und das flößte ihr beinahe immer Ruhe und Sicherheit ein.

      Gleich nach der Sitzung kam Nora auf sie zu und zupfte sie leicht am Ärmel.

      »Hast du Zeit, mal kurz bei mir hereinzuschauen?«

      »Aber sicher, du weißt doch, daß ich für dich immer Zeit habe!«

      Nora war die Jüngste im Büro, sie hatte gerade ihren dreißigsten Geburtstag hinter sich und arbeitete erst knapp sechs Monate bei ihnen. Vorher hatte sie sich vier Jahre lang im Jugendfürsorgeamt abgerackert, wo Kristina sie entdeckt und – vom Scharfblick und Arbeitsvermögen des Mädchens beeindruckt – überredet hatte, die Stelle zu wechseln. Sie hatte gebeten, das Mädchen im ersten Jahr selbst anleiten zu dürfen. Nora war mit ihrer Frische, ihrem ein bißchen ruppigen Ton und ihrer legeren Kleidung ein willkommener Neuzugang in diesem Büro, in dem die leise und lavendelduftende Altjüngferlichkeit manchmal in gefährliche Nähe rückte.

      »Du darfst mich nicht auslachen«, sagte Nora, als sie die Tür hinter sich zuzog, »aber ich muß dich etwas fragen. Es geht um Peter Hallberg, du kannst dich vielleicht an ihn erinnern.«

      Kristina war nicht erstaunt. Sie bemerkte die leichte Röte auf Noras Wangen und die plötzliche, nervöse Aktivität, mit der diese den Schreibtisch abräumte.

      »Ja, sicher«, antwortete sie. »Stimmt mit ihm irgend etwas nicht?«

      Peter Hallberg war einer von Noras ersten Klienten gewesen. Als Betreuer hatte Kristina dem Verlauf der Geschichte aus der Ferne folgen können. Hallberg war siebenundzwanzig und Diplomökonom. Nach einer komplizierten Doppelscheidung war er am Ende das fünfte Rad am Wagen, das man nicht mehr benötigte.

      Er hatte seine Frau und zwei Kinder verloren, das Einfamilienhaus in Vinsta verlassen und sich ein Zimmer irgendwo auf Kungsholmen mieten müssen. Sie wußte, daß Nora viel Zeit in den Fall investiert hatte, zumal Peter Hallberg noch immer zur Konsultation kam, obwohl die vier anderen Beteiligten ihre Besuche längst eingestellt hatten.

      Nora spielte mit ihrem Füllfederhalter und rückte die große, viereckige Brille von Zeit zu Zeit nervös zurecht.

      »Ich weiß nicht mehr, wie ich mich zu ihm verhalten soll. Es klingt vielleicht lächerlich, doch ich glaube, er ist drauf und dran, sich in mich zu verlieben. Jedenfalls sieht es so aus.«

      Sie hätte es voraussehen müssen, genau das war zu erwarten gewesen! Nora war ja nicht nur intelligent, sie war außerdem auffallend schön und weder verlobt noch verheiratet. Und Peter Hallberg – sie hatte es selbst konstatiert – war trotz aller Bescheidenheit und Schüchternheit ein ungewöhnlich gutaussehender Mann.

      »Na und du?« fragte sie und versuchte, so zu tun, als bemerke sie Noras Verlegenheit nicht. »Du magst ihn auch, nicht wahr?«

      »Irgendwie, ja. Zu Anfang hatte ich vor allem Mitleid mit ihm wegen dieser ganzen Scheidungsgeschichte, den Kindern und seiner Angst vor der Impotenz. Doch inzwischen habe ich entdeckt, daß er mich nicht kaltläßt. Und das beunruhigt mich.«

      »Hat er schon irgendwie etwas angedeutet?«

      »Nein, er hat bisher noch kein Wort gesagt. Noch nicht.« Noras Stimme zitterte ein wenig, als hätte sie Angst. »Doch es ist ihm deutlich anzumerken, daß er sich hier wohl fühlt, ja, es ist nicht zu übersehen, daß er sich fast schon an mich klammert. Deshalb fürchte ich mich ein wenig vor ihm, oder richtiger, vor mir selbst. Denn ich spüre ja genau, daß ich eigentlich nichts dagegen habe, ihm über diese Impotenzangst hinwegzuhelfen. Zugleich weiß ich aber, daß es dumm von mir wäre, daß es die ganze Angelegenheit nur noch komplizieren würde.«

      »Dann ist es ja gut«, sagte Kristina rasch. »Dann weißt du ja, was du zu tun hast. Man muß bei seinem Engagement gewisse Grenzen einhalten, das ist eine gute Regel in unserem Beruf. Fängt man an, die eigene Person mit dem Privatleben der Klienten zu verquicken, ist man bald übel dran. Wir sollen Berater sein, nicht Samariter. Kurzum: Willst du mit Peter ins Bett steigen, solltest du wenigstens warten, bis er mit seiner Therapie hier fertig ist.«

      »Das habe ich mir auch schon gesagt«, antwortete Nora und sah plötzlich erleichtert aus. »Und ich wußte, daß du mir genau das raten würdest. Ich wollte es nur von dir selbst hören, das macht die Sache für mich sehr viel leichter. Aber eigentlich ist es doch zum Kotzen, daß man ...«

      Nora biß sich auf die Zunge und wurde glühend rot. Kristina stand rasch auf, tätschelte ihr leicht die Wange und stimmte ihr mit einem verständnisvollen Lachen zu.

      »Ja, Nora, es gibt in diesem Beruf auch eine Reihe von Nachteilen. Manchmal beschneidet er unsere Entscheidungsfreiheit.«

      In der Tür drehte sie sich noch einmal um und fügte mit beherrschterer Stimme hinzu: »Aber leider ist es so: Voraussetzung für ein positives Ergebnis unserer Arbeit ist nun einmal, daß wir uns nicht in die Konflikte der Klienten hineinziehen lassen. Geben wir da nach, haben wir kaum eine Möglichkeit, die eigenen Gefühle im Zaum zu halten.«

      Vielleicht war ich zu schroff, dachte sie, als sie die Treppe hinunterging. Doch ich mußte ihr ja abraten, ich weiß doch, was aus solchen Geschichten werden kann.

      In ihren ersten Jahren hier im Büro, ehe sie gelernt hatte, eine schützende Distanz zu wahren, war sie einige Male in ähnliche Situationen geraten. Sie hatte sich in männliche Klienten verliebt, in einem Fall sogar dem Wunsch nachgegeben, in eigener Person zu helfen, und sich