Название | Und wer hilft ihr? |
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Автор произведения | Lennart Frick |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9788711446782 |
Er stand über den niedrigen Sofatisch gebeugt, sein Blick flackerte nicht mehr umher, sondern saugte sich an ihrem Gesicht fest, und sie sah die panische Angst in seinen Augen. Seine Stirn war schweißnaß. Das schüttere Haar war verklebt, und immer wieder wischte er sich mit einer hastigen Bewegung den Schaum aus den Mundwinkeln und feuchtete zugleich mit der Zungenspitze die Lippen an. Im Laufe des Abends war seine Stimme immer schwächer und heiserer geworden, und das leicht Übertriebene und Überkultivierte seiner Ausdrucksweise war völlig verschwunden. Sie sah die Angst in seinem Blick und begriff plötzlich – und diese Erkenntnis traf sie wie ein harter Schlag in die Weichteile –, daß nichts an seinem Verhalten gespielt war.
Für ihn existiert all das tatsächlich, und es ändert überhaupt nichts, daß ich seine Vorstellungen als krankhaft ansehe.
»Bitte, bitte«, sagte er, und seine Stimme wurde flehend, »versuchen Sie doch zu begreifen, daß ich zugrunde gehe, wenn Sie mir nicht helfen! Ich ertrage es nicht mehr, allein zu Hause zu sitzen und zu grübeln, ich brauche Hilfe, und zwar jetzt. Wenn ich alles noch einmal von Anfang an erzählen dürfte, werden Sie mich bestimmt verstehen. Lassen Sie mich noch zweimal kommen, nur noch zweimal. Vielleicht konnte ich Sie nur deshalb nicht überzeugen, weil ich mich heute abend ungeschickt ausgedrückt habe. Wenn Sie mir nur einmal wirklich zuhören wollten, könnten Sie der Sache ganz schnell Einhalt gebieten. Sie können das, ich weiß, daß Sie es können.«
»Verzeihen Sie«, sagte sie und strich sich kraftlos über die Stirn. Sie war wie benommen und wußte, daß sie die Geschichte nun schnell zu Ende bringen mußte. »Verzeihen Sie, aber es ist jetzt gleich halb zwölf. Ich kann nicht mehr. Und Sie wissen ja, daß ich Besuch erwarte.«
»Nur noch zwei lumpige Abende, können Sie die nicht für mich opfern?« fragte er, als hätte er ihren Einwurf nicht gehört. »Ich weiß, Sie haben viel zu tun, Sie brauchen keinen Abend allein zu sein. Aber bedenken Sie doch, ich habe niemanden, ich kann mich nur an Sie wenden. Und vergessen Sie nicht, ich vertraue Ihnen wirklich. Ich weiß, Sie könnten mich bei Ihren Verbindungen zu den Ärzten mit Leichtigkeit ausfindig machen und einsperren lassen. Doch ich glaube nicht, daß Sie irgendeinem Menschen übelwollen, so sind Sie nicht, das weiß ich vom Radio her. Und deshalb muß ich bis zu Ende reden dürfen, verstehen Sie das nicht?«
Sie nahm seinen Mantel vom Haken und hielt ihn ihm hin wie eine Garderobenfrau, die schon seit langem aller Gäste überdrüssig ist.
»Sie müssen jetzt gehen«, sagte sie und bemühte sich, ihre Stimme fest und überzeugend klingen zu lassen. »Es tut mir leid, daß ich das sagen muß, aber ich glaube nicht, daß ich etwas für Sie tun kann. Sie weigern sich ja, mich überhaupt anzuhören.«
»Nur noch einen einzigen Abend, eine einzige Stunde«, flehte er, und in seiner Stimme war deutlich panische Angst zu hören.
»Ich weiß nicht«, sagte sie müde. »Im Augenblick weiß ich überhaupt nichts mehr. Und außerdem sehe ich auch wirklich nicht so recht ein, wozu ein weiteres Treffen gut sein soll. Aber rufen Sie mich in ein paar Tagen im Büro an, dann gebe ich Ihnen endgültig Bescheid.«
Das war eine Notlüge, mit der sie ihn loswerden wollte. Sie hörte es selbst und spürte, daß auch er es begriff. Während er Mantel und Galoschen anzog, blickte er sie unaufhörlich an, und es tat ihr weh, die Angst in seinem Blick zu sehen. Dann reichte er ihr die rechte Hand, und sie schauderte, als sie den kalten Schweiß auf seiner Handfläche und die rissige Haut der Finger fühlte. Er verbeugte sich ein wenig steif und sagte mit einer Feierlichkeit, die beinahe tragikomisch wirkte:
»Ich gehe jetzt, und niemand soll mehr von mir belästigt werden.«
Sie fühlte sich bemüßigt, das von ihr Gesagte ein wenig zurückzunehmen und das Gespräch nicht so scharf ausklingen zu lassen.
»Sagen Sie doch nicht so etwas«, erwiderte sie und versuchte, freundlich und aufmunternd zu lächeln. »Denken Sie über das nach, was ich Ihnen gesagt habe, und melden Sie sich dann wieder. Wir werden damit schon fertig werden.«
Er war bereits auf dem Weg nach draußen, drehte sich jedoch im Treppenhaus noch einmal um, sah sie ein Weilchen an und sagte dann mit unverkennbarer Ironie: »Wir? Wieso wir?«
Dann ging er. Sie schloß die Tür, hörte seine schleppenden Schritte sich die Treppe hinunter entfernen, dann schlug die Haustür zu, und plötzlich war es um sie herum völlig still. Sie ging in die Küche, wartete auf seine Schritte unten auf dem Kiesweg und löschte das Licht, um ihn davongehen zu sehen. Doch es waren keine Schritte zu hören, und soviel sie auch in das Dunkel hinausspähte – sie konnte ihn nicht entdecken.
Vielleicht steht er unten an der Tür und wartet, überlegte sie. Vielleicht soll ich nicht sehen, in welche Richtung er geht. Ihr fiel die Notlüge mit dem Freund ein, und Angst packte sie. Es kommt ja keiner, dachte sie. Dann weiß er, daß ich gelogen habe, und denkt vielleicht, ich gehöre auch dazu. Und dann wird er vielleicht ...
»Schluß damit, beruhige dich jetzt, Kristina«, sagte sie halblaut vor sich hin, »du darfst dich jetzt nicht genauso verrückt benehmen wie er. Du darfst dich nicht anstecken lassen. Es reicht, wenn einer übergeschnappt ist.«
Als sie ins Badezimmer ging, spürte sie, daß ihr die Beine zitterten wie nach einem schnellen Dauerlauf.
Als er endlich gegangen war, versuchte sie, sich auf die übliche Weise zu entspannen. Sie machte sich mit einer Unmenge schäumenden Badesalzes ein Bad und goß sich ein großes Glas Rotwein ein. Während sich die Wanne langsam füllte – sie wagte den Hahn nicht voll aufzudrehen, denn ihre Nachbarn waren sehr empfindlich, und es war ja schon fast Mitternacht –, kramte sie im Kühlschrank und aß mit den Fingern von den Resten. Ein halbes Huhn stand schon seit Sonntag, es war zäh und trocken geworden, doch sie schlang es hinunter und sog gierig auch noch die letzten Fasern Fleisch von den Knochen. Sie fand eine Packung Schmelzkäsewürfel, stopfte sie nacheinander in den Mund und zerdrückte sie mit der Zunge am Gaumen. Sie war voller Unruhe und wollte das Unbehagen, das der Besuch in ihr hervorgerufen hatte, dieses würgende Gefühl der Ohnmacht, durch Essen loswerden.
Sie lief durch die Wohnung und öffnete alle Fenster, um den schweren Tabakgeruch zu vertreiben. Sie hatte an dem Abend über eine halbe Schachtel Zigaretten geraucht, und als sie sich im Wohnzimmer aus dem Fenster beugte und wie üblich nach den roten Lichtern auf dem Kirchturm sah, fühlte sie die Übelkeit im Halse sitzen. Im Laufe des Abends war Wind aufgekommen, sie sah die heftige Bewegung in den Kiefern, die die Kirche umstanden, und spürte schwachen Regengeruch in der Luft.
Das ist doch alles lächerlich, dachte sie und nahm einen kleinen Schluck aus dem Glas. Mich dürfte eigentlich nichts mehr so aus dem Gleichgewicht bringen!
Sie erinnerte sich, wie rastlos er durch die Wohnung gewandert war, und ihr fiel wieder ein, was er von seinem Zuhause erzählt hatte.
»Dort ist es fast leer. Ich habe ein Bett, ein Radio, einen Fernseher, und meistens liege ich auf dem Bett, grüble und fühle, wie ich von innen heraus verfaule. Die übrige Zeit laufe ich im Zimmer auf und ab und versuche herauszufinden, wie alles gekommen ist.«
Fünf Jahre hat er so gelebt, dachte sie und schloß das Fenster. Kein Wunder, daß er drauf und dran ist, verrückt zu werden. Trotzdem, ich kann nichts für ihn tun. Sie zog das Kleid aus und warf es in die Sofaecke. Ich bin ja nicht zu ihm vorgedrungen, habe einfach nicht zu ihm vordringen können.
Ich verstehe das nicht, überlegte sie, ich begreife nicht, warum mich diese Geschichte so aufregt! Ich sollte doch daran gewöhnt sein, daß die Leute mich mit ihren Sorgen überschütten.
»Und man kann ja wirklich nicht sagen, daß ich für ihn verantwortlich bin«, murmelte sie vor sich hin und leerte das Glas mit wenigen Zügen.
Doch gegen das trockene