Название | Und wer hilft ihr? |
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Автор произведения | Lennart Frick |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9788711446782 |
»Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht! Diesen extrem introvertierten Asthenikern steht man oft ziemlich machtlos gegenüber.«
»Vielleicht ist das alles meine Schuld«, überlegte sie laut, »vielleicht hätte ich sie bei dem Antrag nicht unterstützen sollen ...«
»Nun laß das aber«, widersprach ihr Clas, »was für ein Unsinn! Du hast getan, was du konntest.«
»Jaja, schon gut, reden wir nicht mehr davon.« Sie mußte sich zwingen, die Schmerzen in der Magengrube zu unterdrücken. »Und du vergißt doch wohl nicht, daß wir zur Konferenz nach Sigtuna fahren wollen?«
»Nein, nein, es ist bereits vorgemerkt. Ich kann beide Tage dortbleiben. Hast du deinen Vortrag fertig?«
»Nein, das ist ja das Schlimme«, antwortete sie und hörte selbst, wie kläglich ihre Stimme klang. »Ich habe noch nicht einmal angefangen. Was, zum Teufel, könntest du über die Wege zur Selbsterkenntnis sagen?«
»Ich gar nichts, du aber bestimmt einiges! Du weißt doch, daß du es kannst. Du bist doch gewissermaßen Experte auf diesem Gebiet.« In seiner Stimme klang ein Lachen mit, von dem sie nicht wußte, ob es ironisch oder freundlich gemeint war.
Sie schaltete das Besetztzeichen über ihrer Tür ein, legte den Hörer neben den Apparat und griff nach einer Zigarette.
Agneta Roslund – sie konnte sich nur allzu gut an sie erinnern. Als erstes war ein Brief an den Rundfunk gekommen, dann hatte sie sich ihrer außerhalb der Reihe angenommen. Solche Fälle wurden vom Büro normalerweise nicht berücksichtigt, Barbro sortierte sie meistens schon beim ersten Anruf aus. Das Personal hätte verdreifacht werden müssen, wenn sie sich auch noch um alleinstehende Personen mit Kontaktschwierigkeiten kümmern sollten.
Doch Agneta hatte im Frühjahr einige Male nach Feierabend heraufkommen dürfen. Kristina hatte die junge Studentin nicht abweisen können. Das verweinte, blasse Gesicht, das lange, glanzlose Haar – es war ihr wie ein Bild aus der eigenen Vergangenheit vorgekommen, und sie hatte nicht gewagt, das Mädchen wegzuschicken, obwohl das eigentlich ein Fall für den Studentenfürsorger gewesen wäre.
Rein mechanisch suchte sie ihre Aufzeichnungen über den Fall heraus, doch sie brauchte gar nicht erst hineinzusehen. Sie erinnerte sich an alles, an die ganze banale Geschichte des Mädchens vom Lande, das mit der Umstellung auf das Großstadtleben nicht fertig geworden war. Agneta war neunzehn, kam aus einem Dorf bei Ljusdal und studierte seit dem Herbst 1971 in Stockholm. Sie bewohnte ein Zimmer im Studentenheim in Kungshamra und wagte sich dann und wann zu den Vorlesungen nach Frescati, doch die meiste Zeit über hielt sie sich, von Minderwertigkeitsgefühlen geplagt, versteckt. Im Hintergrund standen die Eltern mit enormen Erwartungen. Sie hatte das Gymnasium mit guten Ergebnissen abgeschlossen, und auch im ersten Semester in Stockholm schien alles einigermaßen zu klappen. Doch dann war sie festgefahren, war bei einigen Zwischenprüfungen durchgefallen und hatte nicht gewagt, zu den Nachprüfungen zu erscheinen. Den größten Teil des Frühjahrssemesters hatte sie sich von der Umwelt ferngehalten. Sie hatte einen Notruf an den Fragebriefkasten des Rundfunks gesandt, und während der ersten Besuche im Büro hatte sie fast nur geweint. Dann war es möglich geworden, mit ihr zu reden, und Kristina hatte ein eigentümliches Gefühl der Zärtlichkeit für dieses völlig wehrlose Mädchen empfunden.
Ende Mai hatte sie sie überreden können, einer Konfrontation mit den Eltern im Sommer auszuweichen, ganz woanders hinzufahren und ihr Selbstvertrauen unter weniger anspruchsvollen Bedingungen zu trainieren. Sie hatte ihr in Norwegen einen Platz in einem Sommerkurs für Interessenten der allgemeinen Geologie besorgt.
»Pfeif auf die Bücher«, hatte sie ihr geraten. »Es ist wichtiger, daß du lernst, mit anderen umzugehen, als daß du dich kaputtmachst, um all das nachzuholen, was du in diesem Jahr versäumt hast.«
Im Sommer hatte Agneta ein paar fröhlich klingende Ansichtskarten geschickt, die den Anschein erweckten, alles verlaufe planmäßig, doch als sie Ende September wieder vorbeikam, war sie in einem miserablen Zustand. Noch ehe sie ihr Geständnis schluchzend herausgebracht hatte, wußte Kristina, was kommen würde: Die leidenschaftliche Schwärmerei für den Kursusleiter und dann, nachdem alle gefeiert hatten und ein wenig beschwipst waren, der nicht sonderlich geglückte Beischlaf. Und nun bekäme sie natürlich ein Kind und wage nicht, mit dem Mann in Verbindung zu treten, denn er sei verheiratet und sie wolle das Kind nicht, aber wisse auch nicht, was sie tun solle ...
Und an Verhütungsmittel habe sie wohl nicht gedacht?
Nein, die Pille getraue sie sich nicht zu nehmen, denn sie habe gelesen, es könnten sich Blutgerinsel bilden, ein Pessar besäße sie nicht und an ein Kondom habe sie nicht gedacht.
»Ich wollte nicht über so etwas reden, um nichts kaputtzumachen«, hatte Agneta schluchzend gestanden und sie mit verweinten Augen angesehen. »Ich konnte doch nicht ahnen, daß gerade ich so schnell schwanger werden würde!«
Sie kannte diese Geschichte, in den Jahren, in denen sie im Fürsorgeamt gearbeitet hatte, war sie bis zum Überdruß damit konfrontiert worden, und als sie die Formulare für den Abort-Antrag hervorsuchte, hatte sie sich beherrschen müssen, um nicht ihren Ärger zu zeigen.
»Du weißt wohl, daß du das Kind nicht zu bekommen brauchst?« hatte sie gefragt.
»Ja, deshalb bin ich ja hier. Könnten Sie so freundlich sein?«
Nachdem sie das Mädchen zur Tür begleitet und die notwendigen Telefonate geführt hatte, kam sie sich plötzlich schäbig vor – als hätte sie nur deshalb so resolut gehandelt, weil sie die ganze Angelegenheit so schnell wie möglich vom Tisch haben wollte. Sie wußte, daß das nicht stimmte, daß sie nur getan hatte, was in solchen Fällen zu tun war, doch sie wurde das Gefühl der Unsicherheit nicht los, den Verdacht, daß gerade dieses Mädchen die Ausnahme war.
Ich hätte es vielleicht nicht so eilig haben dürfen, hatte sie gedacht. Doch schließlich muß sie selbst es entscheiden. Sie hat noch Zeit, sich die Sache zu überlegen.
Ein paar Wochen später hatte eine Kollegin vom Fürsorgeamt sie angerufen und ihr mitgeteilt, daß der Abort nicht komplikationslos verlaufen sei und daß Agneta Roslund nun unter schweren Depressionen leide, völlig apathisch geworden sei und sich weigere, nach Hause zu fahren. Kristina hatte Clas angerufen, und es war ihr gelungen, für Agneta einen Platz in der psychologischen Klinik des Karolinischen Krankenhauses zu bekommen, und dann hatte sie die ganze Geschichte aus ihren Gedanken zu verdrängen versucht, sie hatte anderes zu tun, als über ehemalige Klienten nachzugrübeln.
»Und jetzt das!« murmelte sie vor sich hin. »Doch es war nicht meine Schuld, ich konnte ja nicht wissen ...«
Im Laufe ihrer Tätigkeit im Fürsorgeamt hatte sie sich zu der Erkenntnis durchringen müssen, daß ein Abort, der schnell und ohne aufrèibendes Moralisieren durchgeführt wurde, in Fällen wie diesem im allgemeinen vorzuziehen war. Früher, als sie noch Fürsorgerin an der Neuen Grundschule gewesen war, hatte sie vor jedem Abort-Antrag eine Heidenangst gehabt und die Entscheidung bis zuletzt hinausgezögert, doch als die Mädchen immer jünger und die Schwangerschaften immer häufiger wurden, hatte sie den Versuch aufgegeben, die ethischen und moralischen Konsequenzen mit ihren Klientinnen zu diskutieren. Die Gespräche waren nur aufreibend und voll von Vorwürfen gewesen, und sie mußte erkennen, daß sie die Situation der Hilfesuchenden erschwerten, viele wurden unschlüssig, viele schienen danach von Reue gepackt zu werden, von Gewissensqualen, die sich oft in Angriffen auf diejenige äußerten, die die Sache organisiert hatte.
Um die Realität so zu sehen, wie sie ist, hatte sie trotzdem beim Fürsorgeamt angefangen, und die zwei Jahre dort hatten die letzten Reste ihres Zögerns hinweggefegt. Vor dem anschwellenden Strom von Antragstellern gab sie auf: vor den mageren Grundschulmädchen, die träge und kaugummikauend mit der Standardbescheinigung ihrer Schulfürsorgerin an ihr vorbeizogen, den vielen Jugendlichen, die gerade erst ins Berufsleben getreten waren und nun zu ihr kamen, um den ersten, zweiten oder dritten Abort zu beantragen, den Frauen im mittleren Alter, die nach der Urlaubsreise in den Süden voller Panik angestürzt