Название | Und wer hilft ihr? |
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Автор произведения | Lennart Frick |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9788711446782 |
Ja, sie hatte gelernt, mit diesen Fällen fertig zu werden, und auch wenn sie routinemäßig Broschüren über Verhütungsmittel verteilt und die Jüngsten in vielen Fällen mit kostenlosen Kondomen beinahe überschüttet hatte, tat sie es doch ohne große Hoffnung auf Erfolg.
Sie kriegen es einfach nicht fertig, hatte sie manchmal gedacht. Sie wollen nicht den Eindruck erwecken, durchtrieben und berechnend zu sein, und so die Gefühle zerstören.
Sie erinnerte sich, was das zwölfjährige Mädchen aus Gubbängen auf die Frage geantwortet hatte, warum sie denn nicht darauf achte, daß die Jungen Kondome benutzen.
»Wenn man verliebt ist, will man doch nicht an so etwas denken!«
Und nun das mit Agneta Roslund! Es kam ungelegen und unerwartet. Sie konnte nichts gegen das Unbehagen tun, das plötzlich in ihr aufstieg, und sie fühlte sich fast so unsicher wie in den ersten Jahren nach der Sozialhochschule. Dieses Gefühl rief einen unangenehmen Geschmack im Mund hervor, brachte sie aus dem Gleichgewicht, ließ all die Erinnerungen auf sie einstürzen, die zu verdrängen sie gelernt, die zu vergessen sie sich gezwungen hatte. Doch sie wollte sich nicht erinnern. Sie stand vom Schreibtisch auf und ging hinüber zur Toilette, um zu gurgeln und sich das Gesicht mit kaltem Wasser abzuspülen.
Doch das Unbehagen saß tiefer, es hatte mit vernarbten Erinnerungen zu tun, mit den Gerüchen einer Klinik in einer Gasse in Kopenhagen, mit einer kalten Sonde in den harten, gefühllosen Händen eines fetten, nach Bier stinkenden Arztes, der hinter dem Mundschutz Unverständliches vor sich hin brummelte; mit den verächtlichen Blicken einer Nachtschwester, die sie aus dem Operationszimmer hinausgeführt hatte und in einem kalten Zimmer mit einem feuchten Bett zurückließ; mit einer langen, ermüdenden Zugfahrt, während der sie wieder und wieder auf die Toilette laufen mußte, um die vollgesogenen Binden zu wechseln; mit dem ohnmächtigen Versuch, das Gesicht zu wahren, als einer ihrer Lehrer zustieg und sich mit ihr die ganze Strecke von Ånge nach Östersund lebhaft über die Sportferien unterhielt. Und es hatte mit dem Anruf nach Hause zu tun, als sie ihrem Vater mitten im Monat dreihundert Kronen zusätzlich abnötigen mußte, für Literatur, wie sie sagte, die sie vor dem Abitur noch unbedingt brauchte, mit seiner Ratlosigkeit und seinem Seufzer, bevor er zustimmte; und auch mit den Gesprächen mit Sigfrid, dem Aushilfslehrer in Deutsch, mit seinem Erröten und Stammeln, als er die restlichen fünfhundert zusammengekratzt und sie weinend angefleht hatte, diese Reise zu unternehmen. Ja, vor allem erinnerte sie sich wohl an seine zitternde Feigheit, seine Angst davor, die Unachtsamkeit könne offenbar werden, an seine plötzlich gute Laune, als sie nachgab, und ihre unbändige Verachtung für ihn, als die Sache vorüber war. Und da war auch ihre tränenvolle Angst auf der Fahrt nach dem unbekannten Kopenhagen und die Leere und Kälte in ihr auf der Heimreise, als alles vorbei war und sie allein um die brennenden Schmerzen wußte. Sie hatte es nicht bereut; der Schleimklumpen, der ihre ganze Zukunft hätte zerstören können, war weg, übriggeblieben war nur der kühle Entschluß, niemals jemandem davon zu erzählen, und die Erkenntnis, das Geheimnis ganz allein tragen zu müssen. Auf der langen Reise in dem rüttelnden Sitzwagen war ihr das immer klarer geworden, und als sie im Schneegestöber aus dem Zug stieg und den Kindesvater hinter das Bahnhofsgebäude entwischen sah, hatte sie ein kaltes, triumphierendes Gefühl der Kraft in sich verspürt, hatte die Gewißheit sie erfüllt, daß nichts mehr sie unterkriegen würde, daß sie niemandem mehr erlauben würde, sie zu Boden zu drücken, daß sie sich niemals so feige und erbärmlich verhalten würde, wie er es getan hatte, daß sie stark sein würde, sehr stark.
Damals hatte sie sich endgültig für diesen Beruf entschieden, und als sie jetzt in der Toilette stand und den unangenehmen Geschmack loszuwerden trachtete, sah sie ihre Eltern vor sich, wie sie in ihren blankgewetzten und unmodernen Sonntagskleidern feierlich steif im Gewühl vor dem Tor des Gymnasiums gestanden und pathetisch die Blumensträuße umklammert hatten, und sie dachte daran, wie verloren die beiden ausgesehen hatten.
Sie hörte noch den Stolz in der Stimme des Vaters, als er zu Hause auf der Vortreppe den Nachbarn ihre Zukunftspläne entwickelte. »In dem Mädchen steckt etwas! Sie wird denen da oben schon zeigen, was wir wert sind!«
»Du darfst nicht sentimental werden, das führt zu nichts«, sagte sie halblaut vor sich hin, und als ihr bewußt wurde, daß jemand vor der Tür stehen und lauschen könnte, zog sie heftig an der Spülung.
Du mußt einen klaren Kopf behalten, dachte sie, wenigstens du mußt damit fertig werden!
Gleich nach der Mittagspause, als sie unten im Konsum für die ganze Woche eingekauft und noch Zeit gehabt hatte, in dem kürzlich umgebauten Restaurant »Tre bockar« rasch einen Kaffee zu trinken, fiel ihr auf dem Weg zur vierten Etage, wo am Nachmittag die Versammlung stattfinden sollte, wieder ein, was Elisabet am Morgen gesagt hatte. Sie machte kehrt und ging hinunter zu Barbro Wallin, der Leiterin des Büros, zu deren Aufgabenbereich es unter anderem gehörte, die Klienten auf die elf Fürsorger aufzuteilen. Barbro war die Älteste im Büro, sie wurde bald sechzig, war aber noch immer äußerst interessiert an ihrer Arbeit; noch immer voller Enthusiasmus über die Bedeutung der Familienberatung. Sie hatte einen Zug von Idealismus an sich, der Kristina zuweilen irritierte, doch ihre jahrzehntelange Erfahrung hatte ihr eine Autorität verliehen, die niemand in Abrede stellen konnte.
»Gut, daß du hereinschaust«, sagte Barbro, die gerade dabei war, die Notizen über die Fälle zusammenzusuchen, die aller Wahrscheinlichkeit nach auf der Sitzung zur Sprache kommen würden. »Ich habe da ein Problem. Du weißt ja, daß Svea nächste Woche frei hat, sie will mit ihren Eltern eine Autotour durch Dänemark machen. Kannst du einspringen und ihr einen Fall abnehmen? Die Klientin kommt das erstemal und hat schon einen Termin für Montagvormittag.«
»Jaa«, antwortete sie zögernd, »ich könnte schon, obwohl es mir lieber wäre, wenn ich es nicht brauchte. Ich habe morgen schon einen Besuch, und die verbleibende Zeit wollte ich für den Rundfunk nutzen, mir fehlt noch das Manuskript für die nächste Sendung. Ist es etwas Besonderes?«
»Nein, ganz und gar nicht«, antwortete Barbro und zog bekümmert die Stirn in Falten, »sie will nur etwas über die juristischen Konsequenzen einer Scheidung wissen. Doch wenn du nicht willst, dann geht es wohl ...«
»Nein, nein, ich übernehme das schon«, fiel sie rasch ein, »es scheint ja nicht weiter kompliziert zu sein. Für den Rest des Tages werde ich allerdings das rote Lämpchen einschalten.«
»In Ordnung, Kristina«, sagte Barbro, und ihr Gesicht hellte sich auf. »Man kann sich eben auf dich verlassen. Sie kommt um elf.«
Ich bin zu gutmütig, geradezu töricht, dachte sie, als sie dann gemeinsam die Treppe zu dem neueingerichteten Sitzungszimmer im obersten Stockwerk hinaufstiegen. Ich bringe es wohl niemals fertig, nein zu sagen.
Fast die ganzen zwei Stunden, die die Beratung dauerte, saß Kristina schweigend da. Normalerweise pflegte sie ihre Gesichtspunkte eifrig darzulegen, sie selbst war eine derjenigen gewesen, die sich für die einmal in der Woche stattfindenden Besprechungen mit allen Angestellten und den vier Experten eingesetzt hatte, die als ständige Berater des Büros fungierten. Sie wußte, daß die Zusammenkünfte von Nutzen waren, daß sie dem einzelnen Mitarbeiter die Möglichkeit boten, Fälle, bei denen er nicht weiterkam, aus neuer Sicht zu sehen, daß sie zu der Offenheit beitrugen, die die Arbeitsatmosphäre in hohem Maße bestimmte. Doch heute war ihr die ganze Angelegenheit zuwider. Sie hatte das Gefühl, so etwas schon zu oft mitgemacht zu haben, und es gelang ihr, den plötzlich aufsteigenden Wunsch zu unterdrücken, den Roslund-Fall zur Sprache zu bringen.
Sie wußte noch immer zuwenig über das, was wirklich geschehen war, und war außerdem unsicher, wie sie die Sache darlegen sollte, denn Agneta war ja eigentlich ihre private Klientin. Außerdem befürchtete sie, man könne den Fall als Mißerfolg für sie werten. Sie wußte ja, daß einige der älteren Fürsorgerinnen ihre Arbeitsweise noch immer (und das nach sieben Jahren) ein wenig skeptisch betrachteten. Als sie hier angefangen hatte, war sie von allen die Jüngste gewesen und zudem unverheiratet. Das hatte genügt, um die Älteren gegen sie einzunehmen. Sie wußte, einige waren der Ansicht, sie sei arrogant und überheblich, und ihr war auch bekannt, daß ihre Privilegien –