Und wer hilft ihr?. Lennart Frick

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Название Und wer hilft ihr?
Автор произведения Lennart Frick
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788711446782



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ich bin nicht verheiratet«, antwortete er schroff. »Und ich habe keine Verwandten. Ich habe zwar einen Bruder und eine Schwägerin hier in der Stadt, doch die rechne ich nicht. Sie werden noch verstehen, weshalb. Und ich habe keine Bekannten, überhaupt keine.«

      »Aber bei der Arbeit müssen Sie doch wohl ...«

      »Ich arbeite nicht«, unterbrach er sie. »Es ist fünf Jahre her, daß ich meine letzte Arbeitsstelle hatte. Sie sind alle gegen mich gewesen, und ich lasse mich nicht schikanieren. Seit fünf Jahren sitze ich zu Hause und denke darüber nach, was vordem geschehen ist, und die ganze Zeit über habe ich mit niemandem verkehrt. Fünf Jahre völlig allein, begreifen Sie, was das heißt?«

      »Wohnen Sie hier draußen?« fragte sie. Sie fühlte sich äußerst unsicher, wußte nicht, wie sie mit ihm fertig werden sollte.

      »Das sage ich nicht«, entgegnete er. »Ich habe nicht die Absicht, Ihnen meine Adresse zu geben. Sie sollen mich nicht ausfindig machen, mir nicht die Behörden auf den Hals schicken können!«

      »Aber was reden Sie da! Seien Sie doch nicht so mißtrauisch. Ich habe doch gar nicht vor, Sie irgendwohin zu bringen, ich wollte nur wissen, wie Sie wohnen, ob in einem Häuschen oder in einer Wohnung. Und wie Sie zurechtkommen.«

      »Ein Haus? Ich? Wenn Sie wüßten, wie schlecht es mir geht«, antwortete er, erhob sich und ging ein bißchen steifbeinig und mit eckigen Bewegungen im Zimmer auf und ab.

      »Sie dürfen mir nicht böse sein«, fuhr er bittend fort. »Ich bin vielleicht ein wenig mißtrauisch, aber glauben Sie ja nicht, das sei krankhaft. Es liegt nur daran, daß alle immer gegen mich waren. Und nun ist es bald aus mit mir, wenn Sie ihnen nicht Einhalt gebieten können.«

      »Wem? Von wem sprechen Sie?«

      »Das ist eine lange Geschichte«, sagte er und setzte sich wieder. »Dazu brauche ich mindestens drei Stunden.«

      In diesem Augenblick klingelte das Telefon im Schlafzimmer. Bevor er gekommen war, hatte sie es hinübergetragen. Sie erhob sich rasch und sagte: »Ich werde zusehen, daß es nicht lange dauert.«

      Es war Gunilla Granberg. Sie fragte nervös und aufgeregt: »Wie ist es? Meinst du, er ist gefährlich?«

      »Alles okay«, antwortete sie leise. »Nett und freundlich, aber ein bißchen paranoid. Kein Typ, der Leute vergewaltigt oder erwürgt.«

      Und etwas lauter, damit auch er es hören konnte: »Nett von dir, daß du anrufst. Aber ich habe gerade Besuch. Ich laß morgen von mir hören. Mach’s gut!«

      »Was für eine Schauspielerin an dir verlorengegangen ist«, sagte Gunilla und kicherte. »Du hast Talent für Charakterrollen.«

      Als sie ins Zimmer zurückkam, stand er am Bücherschrank und betrachtete einen Stoß psychiatrischer Handbücher, die er aus dem Regal genommen hatte. Sie wollte sich wegen des Anrufs entschuldigen, doch er unterbrach sie sofort und stellte die Bücher so nachdrücklich zurück, daß es beinahe aggressiv wirkte.

      »Ich sehe, Sie interessieren sich für Psychiatrie«, sagte er. »Ich glaube nicht daran. Das ist der reinste Humbug. Es gibt keine psychischen Probleme. Es gibt nur soziale Konflikte, aus denen psychologische Probleme erwachsen können. Also versuchen Sie gar nicht erst, diese psychiatrischen Begriffe auf mich anzuwenden, das werde ich mir nicht gefallen lassen. Schizoid, Paranoiker, Schizophrenie, manisch-depressiv, Ödipuskomplex, Verdrängungen, nein, versuchen nicht auch Sie es noch mit diesem Blödsinn. Es ist schon genug, daß mir die anderen diese Etikette aufkleben wollten.«

      »Jetzt sprechen Sie schon wieder von den anderen«, sagte sie und bemühte sich, ihre Stimme so neutral wie möglich klingen zu lassen, »wen meinen Sie damit?«

      Da läutete das Telefon zum zweitenmal. Sie wiederholte das Manöver, sprach aber auch mit Clas nur ein paar Worte.

      »Du gewinnst die Wette«, flüsterte sie, »doch er ist völlig ungefährlich.« Und lauter fügte sie hinzu: »Vielen Dank, es ist lieb von dir, daß du an mich gedacht hast, doch heute kann ich leider nicht. Ich rufe dich morgen an.«

      Sie hatte den Hörer kaum aufgelegt und das Zimmer eben betreten, da klingelte es zum drittenmal. Mit einer übertriebenen Geste des Bedauerns ging sie zurück. Es war Lars-Göran.

      »Du brauchst dich nicht zu beunruhigen«, flüsterte sie. »Mächtig lieb, daß du angerufen hast.« Und dann wieder mit der Theaterstimme: »Es wäre wunderbar gewesen. Doch ich habe heute abend Besuch, ja, den ganzen Abend. Du kannst mich aber morgen gern anrufen.«

      Als sie zurückkam, stand er mitten im Zimmer, und sie hatte plötzlich den Verdacht, er habe sich an die Tür geschlichen und gelauscht.

      »Es tut mir leid, daß wir unterbrochen wurden«, entschuldigte sie sich. »Es waren Bekannte von mir, die sich einsam fühlten und Gesellschaft haben wollten. Und das Telefon abzustellen fällt mir auch dann schwer, wenn ich Ruhe brauche. In diesem Beruf ist das nicht einfach.«

      »Freuen Sie sich, solange noch jemand anruft«, entgegnete er. »Bei mir klingelt es jetzt nur noch selten. Und wenn es läutet, hat entweder jemand eine falsche Nummer gewählt, oder es ist einer meiner Verwandten. Wissen Sie, die rufen an, um mich zu kontrollieren, manchmal sogar mitten in der Nacht. Sie sagen nie etwas, doch ich höre sie atmen. Sie wollen mir Angst einjagen, möchten, daß ich krank werde, damit sie mich einliefern können.«

      »Wieder sie«, warf Kristina ein. »Sie müssen erklären ...«

      »Ja, ja«, sagte er ungeduldig, »doch dann muß ich alles von Anfang an erzählen. Sonst begreifen Sie überhaupt nichts.«

      Ich werde es über mich ergehen lassen, dachte sie müde, er soll sich aussprechen können. Doch ich weiß schon jetzt, was er sagen wird.

      Sein Bericht war gut gegliedert und durchdacht, logisch und klar, sorgfältig ausgearbeitet und gründlich gegen alle nur denkbaren Einwände abgesichert; er war nicht das Werk einer Stunde. Doch sehr bald wußte sie auch, woran sie war, seine Erzählung glich einem Lehrbeispiel aus einer populärwissenschaftlichen Schrift über Psychiatrie.

      Das ist gar zu eindeutig, dachte sie immer wieder und fühlte die Unruhe unter der Haut kribbeln, das klingt wie eine Parodie.

      Wäre nicht der Schrecken gewesen, der in seinen Augen brannte, hätte sie seinen Bericht sehr leicht als schlechten Scherz abtun können, als plumpen Versuch, einen Sozialfürsorger an der Nase herumzuführen.

      »Jetzt sehe ich das Ganze klar vor mir«, fuhr er fort, und Schweiß perlte am Haaransatz hervor, »jetzt passen die Stücke zusammen, jetzt sehe ich, was mein Leben eigentlich gewesen ist, und jetzt weiß ich, was geschehen wird. Sie allein können etwas dagegen tun.«

      Ausgehend von einem scheinbar unbedeutenden Vorfall – vor sieben Jahren hatte ihm seine Schwägerin vorgeschlagen, wegen seiner Magenbeschwerden einen bestimmten Arzt aufzusuchen, der ihm wiederum geraten hatte, sich an einen Psychiater zu wenden –, ausgehend von dieser Tatsache, errichtete er mit manischer Exaktheit eine geschlossene Pyramide, konstruierte er ein gigantisches Komplott, in das sich all seine Erlebnisse einfügen ließen. Zuerst legte er in chronologischer Reihenfolge dar, was ihm nach dem ersten Arztbesuch zugestoßen war. Das Ganze war ein mit vielen Details angereicherter Bericht über einen stillen, bescheidenen Beamten in einer anonymen staatlichen Behörde, der sich allmählich kaltgestellt fühlt, der glaubt, immer mehr zur Seite gedrängt und behindert zu werden, der immer unsicherer wird, der freiwillig auf jeden Versuch verzichtet, mit anderen zu konkurrieren, und mehr und mehr die leichten, weniger anspruchsvollen Aufgaben vorzieht, der aus Angst vor dem Mißlingen schließlich keinerlei Initiative mehr zu ergreifen wagt und letztlich aus eigenem Entschluß kündigt. Der sich dann neue Arbeitsstellen sucht, für eine Zeit aus Stockholm flieht, nach Malmö und Göteborg geht, doch überall von den Widrigkeiten verfolgt wird, die er schließlich nicht mehr verkraften kann. Er gibt auf, zieht sich von allen und allem zurück, isoliert sich in völliger Einsamkeit.

      In dieser ersten Darstellung, die ihre Verwunderung hervorrief, weil er einerseits mit exakten Daten und Zeitangaben operierte und Arbeitsvorgänge präzise beschrieb,