Und wer hilft ihr?. Lennart Frick

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Название Und wer hilft ihr?
Автор произведения Lennart Frick
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788711446782



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gekommen war, um von der Scheidung zu berichten, an dieses zähe Schweigen, das voller unausgesprochener Vorwürfe war und das Gebäck wie Sand schmecken ließ. Sie konnte sich an den völlig fassungslosen Blick der Mutter erinnern, der dem ihren ständig auszuweichen suchte, und auch an die Haltung des Vaters. Sie sah ihn vor sich, wie er die Ellbogen auf die Knie stützte und, ohne ein Wort zu sagen, langsam die Hände aneinanderrieb, als versuche er, die Kälte aus ihnen herauszuzwingen.

      »Jetzt bist du sentimental«, sagte sie halblaut vor sich hin und starrte ihr Gesicht im Badezimmerspiegel an, als sie sich die Badekappe aufsetzte. »Du solltest dich was schämen!«

      Sie stieg in die Wanne und versuchte, sich auf den Genuß zu konzentrieren, der sie durchströmte, als der Körper durch den kühlen, nach Kiefernnadeln duftenden Schaum und dann in das dampfende Wasser glitt. Sie spürte die Haut durch die plötzliche Wärme von innen her erglühen, und bevor sie die Arme in das heiße Wasser sinken ließ, holte sie noch ein paar Schaumbatzen zu sich heran und baute ein duftendes Gebilde über ihrem Gesicht auf.

      Jetzt kann mich keiner sehen, dachte sie, jetzt gibt es mich nicht mehr. So müßte man verschwinden können, das wäre überhaupt nicht schlimm.

      Sie lag lange reglos da und ließ den Schaumhügel allmählich in sich zusammensinken. Sie meinte die kleinen Blasen eine nach der anderen platzen zu sehen und genoß die Leichtigkeit, dieses Gefühl plötzlicher Schwerelosigkeit, das sie im Wasser stets empfand. Sie erinnerte sich an die Urlaubswochen in Jalta, an die langen Tage voller befreiender Schwimmtouren in dem kühlen, salzigen Wasser, an das Gefühl der Anonymität und der absoluten Freiheit nach dem schweren, offiziösen Ernst der Konferenztage in Moskau, der internationalen Konferenz des Sozialwesens, die genau in der Woche stattgefunden hatte, als die Hitze so groß war, daß sich die Ebenen selbst entzündet hatten und der Rauch der Feuer sogar bis zu dem Konferenzhotel auf dem Gorki-Prospekt gedrungen war. Sie hatte sich in Jalta eine Brille besorgt, um richtig tauchen zu können, sie hatte sich aus dem Gewühl der Körper befreit und war weit ins Meer hinaus bis zu den äußeren Abgrenzungen geschwommen. Dort hatte sie sich immer weiter in die kühle Tiefe hinuntergleiten lassen, und jedesmal, wenn sie im Kopf die Stille dröhnen hörte und das Sonnenlicht hoch über sich auf der Wasseroberfläche glitzern sah, hatte ein geradezu berauschendes Freiheitsgefühl sie gepackt. Sie hatte sich gezwungen, immer länger dort unten zu verweilen, und schließlich hatte sie beinahe Angst vor sich selbst bekommen, vor diesem eigenartigen Verlangen, das sie übermannt hatte. Sie hatte sich zusammengerissen und auf dem Weg zum Hotel in einem Anfall von Panik oder einem Augenblick klarer Erkenntnis die Brille weggeworfen.

      So weit darf man seinen Impulsen nicht nachgeben, hatte sie gedacht. Das ist nicht rationell, das ist gefährlich.

      Nach der kombinierten Dienst- und Urlaubsreise in die Sowjetunion war sie zu ihrem Haus hinuntergefahren und den ganzen August über dort geblieben. Sie wußte, daß in ihrem hektischen Bedürfnis nach Ruhe irgendwo der Wunsch verborgen war, allen Problemen zu entfliehen. Sie hatte die höhere Belastung gefürchtet, die im ersten Monat nach dem Urlaub in den Industriebetrieben gewöhnlich auf das Büro zukam; denn der Zustrom der Klienten wurde immer dann größer, wenn nach den Urlaubsabenteuern die Reue einsetzte, wenn die Bekenntnisse allmählich hervorsickerten und wenn nach den teuren, glanzvollen Urlaubswochen die Tristesse des Alltags wieder einsetzte. Das war im Fürsorgeamt nicht anders gewesen, die Anzahl der Abort-Anträge war zum Herbstanfang jedesmal in die Höhe geschnellt. Sie hatte diese Geschichten mehr und mehr satt bekommen, sie hatte sich stark gemacht, und es war ihr gelungen, zwei Wochen Sommerurlaub zusätzlich zu erwirken.

      Mit Clas hatte sie oft über diese Dinge gesprochen, so auch an einem der ersten Tage nach ihrer Rückkehr aus der Sowjetunion, als er sich hatte frei machen können und sie nach Trosa gefahren waren, um einen Tag zusammen zu verbringen. Damals hatte sie scherzhaft gesagt: »Die Urlaubszeit scheint entweder der Strohhalm zu sein, der dem Kamel den Rücken bricht, oder es sind Wochen der Erkenntnis, in denen die Leute endlich einsehen, daß Veränderungen möglich sind. Weiß der Himmel, was schlimmer ist!«

      »Manchmal erschreckst du mich«, hatte er geantwortet. »Du scheinst immer vorauszusetzen, daß es bei allen schiefgehen muß.«

      Sie hatte versucht, seinen plötzlichen Ernst mit einem Scherz zu übergehen.

      »Es muß nicht so sein, aber gib zu, daß es weiß Gott oft der Fall ist.«

      Clas war auf ihren leichten Ton nicht eingegangen, sondern hatte nachdenklich und sehr leise gesagt: »Meinst du wirklich, daß es auch bei uns schiefgehen muß? Nur weil andere Pech hatten ...«

      »... dürfen wir uns nicht einbilden, daß wir besser damit zu Rande kommen«, hatte sie rasch eingehakt. »Nein, Clas, es ist zu schön mit uns beiden, als daß wir dieses ganze Karussell in Gang setzen und dadurch unser Glück mit offenen Augen kaputtmachen dürfen.«

      »Du glaubst, es schön zu haben«, hatte er da mit unerwarteter Schärfe erwidert. »Hast du deshalb so große Angst vor Veränderungen? Oder bist du einfach nur furchtbar feige?«

      Danach war die Stimmung lange Zeit gedrückt gewesen. Sie hatten auf der Sommerveranda des Stadthotels gesessen, hatten leicht geräucherte Forelle gegessen und eiskalten Weißwein getrunken, und um die 3-Mann-Kapelle, die im Garten auf plumpe, dilettantische Weise Musik aus den vierziger Jahren spielte, hatten bunte Laternen gehangen. Sie hatte Clas auf den Tanzboden locken können, hatte gescherzt und sich zärtlich an ihn geschmiegt, um die Mißstimmung zu vertreiben, doch Reste davon waren selbst dann noch zu spüren gewesen, als sie nach einem Spaziergang durch den abendstillen Hafen in ihr Zimmer zurückgekehrt waren. Sie konnte sich erinnern, daß er einen seltsam nervösen und verkrampften Eindruck gemacht hatte, als er zu ihr gekommen war, und daß er sich ein wenig schwerfällig und rücksichtslos auf sie gelegt hatte, als wolle er es ihr mit einer Brutalität heimzahlen, die ihm fremd war. Auch sie war verkrampft gewesen, hatte ihn dann plötzlich auf den Teppich hinuntergestoßen, ihn fest auf den Boden gedrückt und ihn hart und egoistisch genommen, ohne seine Wünsche zu beachten. Nach dem kurzen, ein wenig erzwungenen Orgasmus war sie sofort ins Bett gestiegen und hatte die Decke fest um sich gewickelt.

      Keiner von beiden hatte den Vorfall hinterher kommentiert, doch als sie sich jetzt im Bad daran erinnerte, fühlte sie sich unbehaglich, war ihr, als hätte sie etwas falsch gemacht. Und auf irgendeine Weise hing das mit dem Besuch an diesem Abend zusammen, sie wußte nur nicht, wie.

      Das heiße Wasser hatte sich abgekühlt, und obwohl sie am liebsten, den Kopf an den Rand der Wanne gelehnt, eingeschlafen wäre, zwang sie sich, aufzustehen. Als sie sich frottierte, spürte sie, daß die Brustwarzen hart und überempfindlich waren. Ihr fiel ein, daß sie bald wieder die Mensis haben würde, und ein wenig beunruhigte sie das wegen der Verabredung mit Lars-Göran für den nächsten Abend.

      Ich werde auf jeden Fall mit ihm ins Bett gehen, dachte sie schläfrig, keine Menstruation der Welt soll mich davon abhalten!

      Sie schlief fast sofort ein, wie immer in der Fötushaltung, die Beine angezogen und die Hände zwischen den Schenkeln. Als sie schon halb im Schlaf kontrollierte, ob sie auch den Wecker gestellt habe, hörte sie den Wind das halboffene Fenster knarrend bewegen, und das Geräusch verfolgte sie in ihre Träume.

      In einem dieser wirren Träume segelte sie zwischen den äußersten Schären, sie erkannte die Konturen der Klippen auf Möja wieder, und die ungeschickt geflickten Segel gaben ein trockenes, knarrendes Geräusch von sich, obwohl kein Wind sie bewegte. Doch es ging schnell voran, sie hörte das Klatschen der Wellen am Bug und plötzlich saß sie draußen bei Ann-Britt und Karl-Ove auf der Sommerveranda, wo die Fliegen unter dem Dach surrten. Auf der Wiese vor dem Haus wimmelte es von betrunkenen Menschen, man feierte ein Fest, Mittsommer oder eine Krebsparty, sie kannte mehrere von den Gästen und wußte, daß sie sich an ihre Namen erinnern müßte, doch jedesmal, wenn sie versuchte, einen in den Griff zu bekommen, verschwammen sie zu immer merkwürdigeren Konstellationen. Und durch den munteren Lärm drang unaufhörlich die eintönige Stimme, die von den beharrlichen Versuchen der Nachbarn erzählte, ihn durch den Briefschlitz zu vergiften, und von der Schwägerin, die sich nun seit bald sieben Jahren bemühte, ihn zum Arzt zu schicken, weil sie es einfach nicht verzeihen konnte, daß sich der Bruder noch immer um ihn kümmerte.