LaPax. Linda Kieser

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Название LaPax
Автор произведения Linda Kieser
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783943362589



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Werbefilmproduktion des Systems gelandet. Aber sie musste aufpassen, denn sie erhielt schon wieder schräge Blicke von manchen Frauen, weil sie nicht mitgenickt hatte. Sie lächelte freundlich und tat, als wäre sie noch beschäftigt ihre Arbeitskleidung zurechtzurücken.

      Die meisten Nummern hatten sich wegen der hervorragend gemachten Werbung längst freiwillig zur Implantierung gemeldet und so wurde nach und nach die gesamte Bevölkerung mit Implantaten versorgt. Erst vor einem Jahr war die verpflichtende Implantierung für Nummern im Alter zwischen 16 und 60 Jahren eingeführt worden, und Ma und ihre Familie hatten sich je länger je mehr gewundert, warum Ma nicht schon längst behandelt worden war. Bis letzte Nacht hatte Ma sich keine Sorgen wegen des Implantats gemacht. Sie war zwar nie besonders erpicht darauf gewesen, eines zu erhalten, hatte aber auch keine wirklichen Bedenken dagegen gehabt, anders als ihre Schwiegermutter. Doch nun war sie völlig verunsichert. War das Implantat wirklich nur zu ihrem Besten? Wie konnte es dazu beitragen, dass sie sich besser ins System eingliedern ließ?

      Ma trat mit den anderen in den Aufzug. Irgendwie war ihr die Mischung aus dem Geplapper der anderen Frauen und der Aufzugmusik heute besonders unangenehm in den Ohren, aber sie schob es auf ihren etwas verwirrten Gedankenzustand.

      Seit einigen Jahren hatte das System angefangen, bereits die Babys in den Kliniken von Anfang an zu implantieren. Die Jugendlichen schienen derzeit noch die einzige größere unimplantierte Gruppe zu sein. Sie waren als Babys noch nicht implantiert worden und waren noch nicht alt genug für die Pflichtimplantierung. Natürlich ließen sich die meisten von ihnen nun auch freiwillig implantieren, allerdings schien das System nicht hinterherzukommen, nachdem was das Mädchen vorher erzählt hatte. Wenn es also noch Menschen ohne Implantat gab, dann musste man vermutlich unter den Jugendlichen suchen. Ma dachte an Seven. Bald würde auch er schon 16 werden.

      »Er würde das Krankenhaus hassen«, dachte seine Mutter. »So wie ich.«

      Dann folgte Ma den anderen Nummern erleichtert aus dem Krankenhaus hinaus. Am Ausgang meinte sie, einen leisen Piepton zu hören. Sie vermutete, dass sie gescannt worden war, sodass das System wusste, dass Nummer MA538970S nun das Krankenhaus verlassen hatte. Sie lief zu den Fahrbändern und fuhr zu ihrer Arbeitsstelle.

      Ma arbeitete in einer Fabrik, in der Glukose hergestellt wurde. Es war ein großer quadratischer Bau mit vielen Fenstern in den oberen Etagen, wo die Überwacher und Assistenten arbeiteten, und wenigen Lichtschächten im unteren Bereich. Dort standen die Maschinen, die die Stärke in Glukose umwandelten. Diese wurde für die Herstellung des Nährpulvers gebraucht, von dem die ganze Bevölkerung lebte. Als Ma ihr Beruf zugeordnet worden war, hatte man ihr gesagt:

      »MA538970S, Sie können stolz sein, in der Produktion eines unserer wichtigsten Nahrungsanteile zu arbeiten. Herzlichen Glückwunsch!«

      Im unteren Bereich bei den Maschinen arbeitete Ma mit vielen anderen Arbeitern, die für die unterschiedlichen Maschinen zuständig waren. Eines Tages, sie hatte gerade erst angefangen in dieser Stadt zu arbeiten, war ihr einer der Reinigungskräfte aufgefallen. Mit seinen dunklen Haaren, seiner markanten Nase und den verschmitzten Augen hatte er sich so deutlich von all den anderen abgehoben, dass sie dachte: »Das kann nur ein Natürlicher sein.« Er hatte sie freundlich angelächelt, obwohl sie ihn ziemlich dümmlich angestarrt haben musste. Auf einmal war sie von einem wohligen und prickelnden Gefühl durchströmt worden, das sie sich nicht erklären konnte. Diese Empfindung war nicht zu vergleichen mit dem, was die Spiele des Systems hervorriefen. Es war das Schönste, was sie je gefühlt hatte, und gleichzeitig machte es ihr Angst, weil es so überraschend neu und ungewohnt war. Als Ma also PJ074211J zum ersten Mal sah, wusste sie sofort, dass ihr nun das passiert war, vor dem sie in den Jugendhäusern früher immer gewarnt worden war:

      »Früher hat es bei den Menschen gewisse Regungen gegeben, die eine starke Anziehung hervorriefen. In der Folge kam es dann zu natürlichen Geburten, die für die Entwicklung des Systems schädlich sind. Solche Regungen gefährden das Glück des Einzelnen!«

      Nun hatte Ma selbst dieses nie gekannte Gefühl schlagartig erlebt und konnte sich nicht mehr vorstellen, ohne es zu leben. Und das bedeutete, sie wollte nie wieder ohne PJ, wie sie ihn später immer nannte, leben. Sie hatte Gespräche mit verschiedenen Assistenten des Systems über sich ergehen lassen müssen und eine Abstufung in ihrer Karriere hinnehmen müssen, aber sie war damals nicht mit Gewalt gehindert worden, als sie mit aller Bestimmtheit forderte, zu PJ074211J und seiner alten Mutter nach 89573 zu ziehen. Wie das System vorhergesagt hatte, hatte sie einige Zeit später auch natürliche Kinder bekommen. Vor allem bei der ersten Geburt war es unglaublich, dieses kleine Wesen in Händen zu halten. XY770077G wurde ihm als Nummer zugeteilt. So viele 7er! Irgendwie kam PJs Mutter dann auf die Bezeichnung Seven und anstatt seiner Nummer nannte ihn die Familie dann so. PJ war damals ein unglaublich stolzer und sehr liebevoller Vater gewesen und hatte zu ihr gesagt:

      »Du bist die perfekte Mama, Ma!« Dabei hatte er über das ganze Gesicht gestrahlt. Sie sah sein glückliches Bild noch heute vor sich.

      Die Mediziner im Krankenhaus hatten ihr geraten, den Jungen gleich ins System zu integrieren, doch bereits im Vorfeld hatte ihre Schwiegermutter Ma gewarnt, dass sie das ja nicht zulassen dürfe. Das war aber gar nicht nötig gewesen, denn in dem Moment, als Ma das kleine Bündel in ihren Händen hielt, wusste sie, sie würde nie etwas zulassen, was sie von diesem kleinen Menschen trennen konnte.

      Doch all dies war nun lange her. Sie hatte noch zwei weitere Kinder bekommen und viele Demütigungen erleiden müssen. Seven war nun fast erwachsen und PJ längst fort. Vielleicht hatte das System doch Recht, dass man bei den Natürlichen nicht glücklich werden konnte.

      Als Ma heute ihren Arbeitsplatz betrat, war etwas anders. Die Maschinen schienen viel lauter zu sein als sonst. Ma sprach die Frau an, die sie nun ablösen sollte:

      »Sagen Sie, stimmt heute was mit unserer Maschine nicht? Sie röhrt so merkwürdig.«

      »Nein, alles normal«, erwiderte diese knapp und verabschiedete sich.

      Ma starrte auf die Maschinen in der großen Halle und überprüfte jede einzelne an ihrem Bildschirm. Sie arbeiteten alle wie gewohnt. In dem großen Kessel wurde die Stärke mit einer Säure aufgekocht. Die Rezepturen kannte Ma nicht. Dafür waren andere Nummern zuständig. Sie hatte in ihrer Ausbildung nur gelernt, dass die Glukose auskristallisiert und dann noch einen Reinigungsprozess durchlaufen muss. Einen Schritt in dieser Raffination der Glukose zu beaufsichtigen war Mas Aufgabe. Sie steuerte die Zentrifuge. Es war keine besonders aufregende Arbeit, aber wirklich interessant war keine der Aufgaben, die das System den normalen Arbeitern gab. Nur die Mediziner hatten vielleicht herausforderndere Tätigkeiten, wobei Ma das nach ihren Erfahrungen nun auch bezweifelte, denn auch sie waren ja streng spezialisiert auf ihre bestimmte Aufgabe. Überhaupt gab es im ganzen System nur Spezialisten: Assistenten, die Botengänge für die Überwacher durchführten oder auf den Straßen Streife liefen, um bei Unregelmäßigkeiten immer und überall sofort eingreifen zu können. Die Überwacher, die in Schichten vor den Bildschirmen der Überwachungskameras saßen und wer weiß was noch alles taten, und natürlich die vielen Arbeiter, die alle auf einen Teilbereich einer bestimmten Arbeit spezialisiert waren. Die Jugendlichen wurden hin und her transportiert und mussten die verschiedenen Monokultur-Felder des Systems abernten. Dadurch sollten sie die großartige planerische Arbeit des Systems erkennen können. Später bekamen sie eine spezielle Aufgabe als Arbeiter zugeteilt und wurden dann immer für bestimmte, vergleichbare Produktionsabläufe eingesetzt. Vor allem die Arbeiter wechselten regelmäßig ihren Arbeitsort und konnten so die Vielfältigkeit des System kennenlernen. So entstand ein scheinbarer Abwechslungsreichtum, der bewirkte, dass niemand je irgendwo heimisch wurde. Wäre Ma nicht bei PJ, den Kindern und Clara geblieben, würde sie alle paar Monate eine Zentrifuge in einer anderen Stadt bedienen. Allerdings hätte sie dann Karriere machen können und wäre finanziell deutlich besser gestellt.

      Mas Zentrifuge lief ganz normal wie jeden Tag, doch nach einigen Stunden musste sie eine Kopfschmerztablette nehmen. Das Implantat hatte bereits zum dritten Mal gemeldet:

      »Ihre Kopfschmerzen können Sie mit einer Schmerzta­blette beseitigen.«

      Der Assistent

      »Mama,