LaPax. Linda Kieser

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Название LaPax
Автор произведения Linda Kieser
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783943362589



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ihn im Arm zu halten.

      »Ich dich auch, mein Kleiner«, antwortete sie und ihr grauenvoller Traum fiel ihr wieder ein. Sie drückte Mini fest an sich. Heute hatte sie ihre Arbeit pünktlich beenden dürfen und war noch vor Seven und Ray zu Hause. Mini war auch schon vom Kinderhaus zurück, wo er täglich mindestens sechs Stunden verbringen musste und er hatte sie sofort in Beschlag genommen. Jede Kleinigkeit seines bisherigen Tages breitete er vor ihr aus und genoss sichtlich ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Da fiel ihm noch etwas Neues ein.

      »Mama!«

      »Ja, Mini.«

      »In drei Wochen ist Kostümfest. Alle im Kinderhaus suchen sich schon ihre Kostüme aus.«

      »Mhm.« Ma wusste, was jetzt kommen würde. Alle Kinder wollten zum jährlichen Kostümfest nicht einfach eine Verkleidung oder eine Maske. Nein, sie wollten eine richtige Verwandlung. Die Mediziner kamen am Tag des Festes in die Dörfer und hatten alle Hände voll zu tun.

      »Wir reden nachher weiter, Mini. Schau, da kommen Ray und Seven.«

      Man konnte sehen, dass die beiden sich schon wieder gestritten hatten. Rays finstere Miene hellte sich aber sofort auf, als sie ihre Mutter sah.

      »Mama, du bist schon wieder da. Das ging ja schnell! Ich bin ja so froh! Wie war es denn? Wo haben sie dich abgeholt? Wie ist es mit Implantat? Hat es wehgetan?«, sprudelte es aus ihr heraus.

      »Nur die Ruhe. Ich erzähle euch alles später«, beruhigte sie ihre Tochter und umarmte sie.

      Seven stand etwas steif an der Türe. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Ein Glückwunsch war wohl kaum angebracht und er fühlte sich zu alt für stürmische Umarmungen.

      »Schön, dass du wieder da bist«, sagte er einfach.

      Doch damit ließ ihn seine Mutter nicht durchkommen. Sie ging auf ihren Ältesten zu und drückte ihm einen kräftigen Schmatz auf die Wange. Großmutter lächelte.

      »Wäh!«, sagte Seven und wischte sich den Kuss ab. »Jetzt ist aber gut, Mama! So lange warst du jetzt auch nicht weg«, meinte er cool.

      Er hatte sich zwar auch sehr um die Mutter gesorgt, aber nach dem Streit mit Ray eben war ihm nicht nach Zärtlichkeiten zumute.

      »Ray will sich zum Kostümfest operieren lassen«, informierte er die Familie. »Ich hab ihr gesagt, da kann sie ja gleich ins Jugendhaus umziehen, wenn sie so drauf ist.«

      »Jetzt mal langsam, Seven!«, mischte sich die Großmutter ein.

      »Ich will aber beim Fest endlich auch mal richtig anders aussehen!«, bettelte Mini.

      Ray schaute verdutzt auf ihren kleinen Bruder. Von ihm hatte sie nicht gerade Schützenhilfe erwartet. Aber sie nutzte ihre Chance.

      »Eben, sogar im Kinderhaus wird mittlerweile für das Fest operiert. Komm schon, Mama, sei doch nicht immer so altmodisch natürlich. Wetten du hast dir als Jugendliche auch mal ein Face-Costume machen lassen?« Herausfordernd sah sie ihre Mutter an.

      »Na ja«, meinte diese. »Vor dreißig Jahren haben sie nur kleinere Sachen gemacht. Ich hab mir mal spitze Augenbrauen und eine schiefe Nase machen lassen, als ich als Hexe gegangen bin.«

      »Ha! Siehst du! Wusste ich’s doch!« Triumphierend sah Ray zu ihrem großen Bruder.

      »Aber hinterher habe ich meine Nase nicht mehr ganz original zurückgekriegt«, wandte Ma ein und fasste sich an die Nase.

      »Ach was, heute sind die Mediziner viel weiter als früher. Die ganzen Nummern, die mit mir arbeiten, haben letztes Jahr schon zwei Tage nach dem Fest wieder ausgesehen wie vorher. Und deine Nase ist doch ganz in Ordnung.«

      Nun mischte sich Seven wieder ein. »Mama, du wirst das doch nicht etwa erlauben. Das ist so … so … so kindisch! Und wer weiß, wie das System bei der OP wieder eingreift.«

      »Nein, ich werde es nicht erlauben.«

      »Aber Mama!«, riefen Ray und Mini im Chor. Ray stampfte wütend auf und fauchte Seven an:

      »Jetzt hast du ja wieder deinen Willen! Du bist echt so gemein.« Und zu ihrer Mutter gewandt fing sie noch einmal an zu drängen: »Mama, bitte! Alle machen das. Wir sollen doch sonst auch immer nicht auffallen, alles mitmachen und so tun, als wären wir die systemtreuesten Natürlichen der Welt.« Und nach einer wohlüberlegten Pause fügte sie mit Augenaufschlag hinzu: »Bitte!«

      »Nein, Ray. Ich werde euch auch erklären warum. Ich möchte euch von meiner letzten Nacht erzählen. Macht oben mal eure Bildschirme an und dann setzt euch zu mir. Wir können uns ja mein übrig gebliebenes Wasser von gestern Abend teilen.«

      »Oh ja!«, riefen die Kinder im Chor, denn in diesem Punkt waren dann doch alle einer Meinung.

      So saßen kurze Zeit später alle um den Küchentisch versammelt, genossen die kleinen Schlückchen erfrischenden Wassers und lauschten Mas Bericht. Je länger sie erzählte, desto erstaunter sahen ihre Gesichter aus. Nur Großmutters Stirn legte sich in besorgte Falten.

      »Bist du sicher, dass es nicht deine Gedanken lesen kann, Ma?«, fragte sie zum Schluss. Sie war während der ganzen Erzählung sehr still geblieben.

      »Ja, das bin ich. Wie sollte das auch gehen?«

      »Aber es hat tatsächlich festgestellt, dass du nicht schlafen konntest?« Seven wusste noch nicht, was er davon halten sollte.

      »Ja, schon.«

      »Ist ja schon irgendwie cool«, meinte Ray. »Aber was hat das alles jetzt mit den Operationen zum Kostümfest zu tun? Warum willst du es deswegen nicht erlauben?«

      Ma blickte auf ihre Hände und sah dann zum Fenster hinaus. »Ich weiß auch nicht. Es ist nur so ein Gefühl, dass das System dann immer mehr Einfluss gewinnt.« Und Ma erzählte, was die Krankenschwester ihr über das Implantat gesagt hatte.

      Am nächsten Morgen gingen alle wie gewohnt aus dem Haus. Großmutter blieb wie immer zu Hause. Sie hatte einen Verdacht, was das Implantat anging, und musste etwas unternehmen, auch wenn dieser Verdacht noch nicht bestätigt war. Seit ihrem 70. Geburtstag musste sie nicht mehr arbeiten und gerade da war Seven geboren. Es war echtes Glück gewesen, dass für ihre Familie alles so gut gelaufen war, sodass sie sich um die Kinder kümmern konnte. Andere Nummern gingen im Alter auf Reisen um die Errungenschaften des Systems in anderen Bezirken, in denen sie noch nie gearbeitet hatten, zu bewundern. Oder sie verbrachten ihre Zeit in den Altenhäusern mit Fitnessprogrammen und all den verschiedenen Bildschirmspielen. Manchmal bekamen sie völlig sinnfreie Ehrenarbeiten vom System zugeteilt, damit sie beschäftigt blieben und nicht anfingen zu grübeln. Und irgendwann wurden sie zum Sterben in eines der Krankenhäuser gebracht. Wie die Geburt sollte auch der Tod unter möglichst sterilen Bedingungen und nur im Beisein erfahrener Mediziner stattfinden. Auch für die Überwachung des Sterbens war die Implantattechnik angepriesen worden.

      Clara fand all das schrecklich. Aber nun endlich hatte sie eine Idee. Seven, Ray und Mini hatten eine echte Chance. Das Kostümfest war die Gelegenheit. Dass sie nicht schon früher darauf gekommen war!

      Nachdem sie also ihre vier Mitbewohner verabschiedet hatte, machte sie sich an die Arbeit. Sie nähte den ganzen Tag mit feinen Stichen, die ihre Augen anstrengten. Wie gut, dass sie Ray diese alte Kunst auch schon gezeigt hatte.

      »Ja, es könnte klappen«, dachte sie aufgeregt, als sie ihre noch unfertigen Projekte für heute wieder im Keller unter den losen Dielen versteckte. Sie fragte sich, wie bald sie erfahren würde, ob sich ihr Verdacht bezüglich des Implantats bestätigen würde.

      Als am Abend alle wieder beisammen waren, außer Ray, die offenbar schon wieder nacharbeiten musste, klopfte es plötzlich an der Tür. Alle schauten sich fragend an. Ma stand auf und öffnete.

      »Guten Tag, MA538970S. Ich bin beauftragt, hier einmal nach dem Rechten zu sehen«, grunzte der Mann genervt und trat ungebeten herein. Es war derselbe bleiche Assistent, der Ma zwei Tage zuvor zur Implantierung abgeholt hatte. Tr0ja31. Heute trug er einen hellgrauen Anzug und hatte alle Freundlichkeit verloren.