Название | LaPax |
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Автор произведения | Linda Kieser |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783943362589 |
»Zum Glück tragen die Jugendlichen bei der Arbeit Handschuhe«, dachte die alte Frau und sah in Gedanken, wie Ray auf dem Feld schwitzte.
Im ganzen System herrschte Wasserknappheit. Es regnete nur vier- bis fünfmal im Jahr und das reichte kaum, um alle ausreichend zu versorgen. Auch deshalb wollte das System unbedingte Geburtenkontrolle. Da machten die Natürlichen ihnen einen gewissen Strich durch die Rechnung, aber ihre Zahl wurde immer unbedeutender. Trotzdem – oder gerade deshalb – wurden sie überall angefeindet und unterdrückt, bis sich die meisten von ihrer alten Heimat trennten und in das System einfügten.
Als Clara sich auf ihr Bett setzte, stöhnte sie vor Schmerz leise auf. Sie rieb sich das Bein. Vor Jahren hatte das Systemkrankenhaus eine ihrer großartigen Knieoperationen an ihr durchgeführt. Sie hatte dieses Krankenhaus gehasst. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie erfahren, wie es war, wirklich nur eine Nummer im System zu sein. Sie hatte Angst, doch niemand hatte sie wirklich als Person gesehen. Mit einem Arzt hatte sie nie gesprochen. Nur ein Assistent hatte ihr den Mikro-Chip mit allen wichtigen Informationen überreicht. Zusammen mit etwa 20 anderen war sie auf eine Liege geschnallt und betäubt worden. So weit sie wusste, wurden solche Routine-Operationen am Fließband durchgeführt. Aber darüber hatte sie damals nicht nachdenken wollen. Natürlich hatten sie sie perfekt medizinisch behandelt. Vor allem für seine Mediziner liebten die Menschen ja das System. Sie hatte bereits zwei Tage nach der OP wieder normal und schmerzfrei gehen können. Es war kaum zu fassen gewesen und alle hatten sich gefreut. Aber seit etwa einem Jahr spürte sie mehr und mehr, dass sie nicht mehr ihre eigenen Knie hatte, und die Schmerzen wurden von Woche zu Woche schlimmer. Sie hatte das System im Verdacht, die Operationen gerade so gut auszuführen, dass die Menschen damit nicht unnötig alt würden oder im Alter noch mehr vom System abhängig sein sollten. Im kleinen Altenhaus des Dorfes lebten schon jetzt nur noch zwei oder drei Leute, die wie sie selbst bereits deutlich über 80 waren. Alle anderen waren gerade mal 70 und hatten erst vor kurzem aufgehört zu arbeiten. Wenigstens mussten die nicht mehr alle zwei Monate umziehen, sondern blieben normalerweise ein bis zwei Jahre im selben Altenhaus. Manche konnten es sich sogar leisten, sich auf Reisen zu begeben, wenn sie sich im System verdient gemacht hatten. Sterben tat allerdings fast nie jemand im Dorf. Bevor es so weit war, wurden die Nummern weggebracht. Keiner wusste wohin, aber es interessierte auch niemanden.
»Gerade im Älterwerden sollen die Menschen abhängig vom System bleiben, um ihre Systemtreue zu festigen. Ob sie mich auch abholen werden, wenn sie mitkriegen, wie krank ich schon bin?«, dachte sie gerade, als der Nachrichtensender auf ihrem Zimmerbildschirm sie aus ihren Gedanken riss.
»…ein neues Gesetz auf den Weg gebracht, das es den Natürlichen erleichtern soll, sich im System zurechtzufinden.«
»Welche Teufelei haben sie jetzt wieder vor?«, fragte sie sich, plötzlich hellwach. Normalerweise liefen die Propaganda-Nachrichten immer, ohne dass überhaupt jemand so recht Notiz davon nahm. Die Großmutter hatte alle Bildschirme in den Zimmern bereits eingeschaltet, bevor sie mit Ray gesprochen hatte, denn jeder Bewohner musste seinen eigenen Bildschirm haben und war verpflichtet, den Sender eine Stunde täglich zu sehen. Die meisten Nummern besaßen tragbare Bildschirme und verbrachten ohnehin die meiste Zeit des Tages damit, daran zu spielen, Filme zu sehen und Musik zu hören. Dass sie damit laufend Propaganda-Informationen in verschiedener Form eingetrichtert bekamen, störte niemanden, denn es war keinem bewusst.
»Das System weiß ja nicht, dass wir nicht vor dem Bildschirm sitzen, sondern in der Küche miteinander spielen«, hatte Großmutter jahrelang die Familie beruhigt.
Aber diese aktuelle Nachricht schreckte sie aus ihren Gedanken hoch. Der Assistent auf dem Bildschirm teilte die erschütternde Neuigkeit genauso tonlos mit, als wäre bei der Vitaminherstellung ein Übermaß an Vitamin C festgestellt worden.
»Im Interview erklärte Nummer 1 heute Nachmittag, dass dieser Schritt notwendig geworden sei, um die Natürlichen besser im System zu integrieren. Das völlig veraltete Gesetz zur Bestandserhaltung von baufälligen Wohnanlagen der Natürlichen sei heute nicht mehr tragbar und gefährde nur unnötig deren Bewohner.«
»Ja, weil wir ja auch nichts renovieren dürfen!«, entfuhr der schockierten Großmutter ein aufgebrachter Schrei. Erschüttert saß sie am Bildschirm, als Seven bei ihr hereinplatzte. Er hatte schon seinen Schlafanzug an und denselben entsetzten Gesichtsausdruck wie seine Oma.
»Hast du …?«, fing er an.
»Ja, ich hab es auch eben gehört«, unterbrach sie ihn. »Der Gegenwind, vor dem euer Vater schon Angst hatte, wird stärker.«
Ray lag in ihrem Bett und schaltete den Bildschirm aus. Ihre Stunde war nun auch vorüber. Was würde aus ihrer Familie werden, wenn sie alle in ihre eigenen Gruppenhäuser ziehen mussten? Wenn sie Glück hatte, könnte sie mit Seven zusammenbleiben. Sie waren fast gleich alt. Allerdings würde das sicher nicht lange so gehen, da sie ja auch ständig würden umziehen müssen. Großmutter müsste natürlich in ein Altenhaus. Mini würden sie sicher ins Kinderhaus bringen, wo er jetzt schon jeden Vormittag hin musste. Vielleicht wäre es doch besser gewesen, ihn gleich ganz ins System zu integrieren. Dann würde ihn das alles nicht so betreffen. Aber Großmutter wollte unbedingt für ihn sorgen, als er noch ein Baby war, so wie sie für Seven und Ray gesorgt hatte. Ohne Oma hätten sie nie alle zusammen wohnen dürfen. Wahrscheinlich hätten sie sich sogar nicht einmal kennengelernt. Das System legte Wert darauf, dass die Natürlichen nach Möglichkeit an unterschiedlichen Orten aufwuchsen, damit sie besser integriert werden konnten. Dagegen hatte Oma sich immer gesträubt. Aber nun hing Mini so sehr an der Familie. Was wäre, wenn er plötzlich alleine wäre? Er würde sie alle so sehr vermissen, dass sein kleines Herz brechen würde. Niemand würde ihn mehr Miniseven nennen. Er wäre nur noch der Junge mit der Nummer MI771771N. Nicht einmal Mama könnte er mehr sehen, da sie dann ja auch an ihrer Arbeitsstelle wohnen müsste. Apropos Mama? Mama war immer noch nicht von der Arbeit zurückgekommen. Das machte Ray mehr aus, als sie zugeben wollte.
Das System
Das Bett war weich und kuschelig. Die weißen Bezüge glänzten im Mondlicht, das durch das Fenster fiel. Auf der Station war alles ruhig und friedlich und trotzdem konnte Ma nicht schlafen. Zum bestimmt 50sten Mal seit dem kleinen Eingriff, berührte sie ihre rechte Schläfe, doch sie konnte dort gar nichts ertasten. Sie wusste, dass sie einen Fremdkörper eingepflanzt bekommen hatte, doch er schien gar nicht da zu sein. Ihr Körper fühlte sich an wie immer, außer einem leichten Rauschen in den Ohren, das sie auf die Operation schob. Und doch wurde sie die innere Unruhe nicht los. Nun war sie untrennbar mit dem System verbunden.
Nach der Arbeit waren die Assistenten am Tor gestanden und hatten die Nummern aufgerufen, die sich zur Implantierung melden sollten. Seit Wochen, nein seit Monaten, hatte Ma damit gerechnet ihre Nummer zu hören, doch sie war immer verschont geblieben. Jeden Tag hatten sich ihre Kinder aufs Neue gefreut, wenn sie nach Hause gekommen war und irgendwann hatten sie sich wieder daran gewöhnt, dass nichts weiter passierte. Alles war wie immer. Bis gestern.
»MA538970S! Das sind doch Sie, oder? Warum folgen Sie nicht Ihrem Aufruf?«, hatte der Assistent sie wütend angebrüllt und am Arm gepackt.
»Entschuldigung. Ich habe Sie nicht gehört«, log Ma. Sie hatte ihre Nummer zwar bereits beim ersten Mal genau gehört, aber sie wollte es nicht wahrhaben, dass ausgerechnet heute der Tag sein sollte, an dem sie das Implantat des Systems bekommen sollte. Sie war einfach weiter in Richtung Fließband gegangen, das sie nach Hause bringen konnte, obwohl sie wusste, dass sie damit nicht durchkommen würde.
»Dann werden die Mediziner gleich mal ihre Ohren auf Verluste kontrollieren. Das wird dann schnell behoben sein«, antwortete der Assistent.
Der aktuellen Assistenten-Mode entsprechend trug