LaPax. Linda Kieser

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Название LaPax
Автор произведения Linda Kieser
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783943362589



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      Mini nickte und zitterte plötzlich. »Mir ist kalt.«

      »Ja, es wird bald Herbst. Lass uns reingehen.«

      Drinnen wartete die Großmutter in der Küche. Sie hatte bereits die Wasserrationen für vier Personen abgemessen und hielt das Nährstoffpulver in der Hand.

      »Warte!«, bremste Seven sie in ihren Bewegungen. »Ray hat den ganzen Tag mit nur einer Wasserration auf dem Feld gearbeitet. Und jetzt muss sie noch nacharbeiten. Wer weiß, was da schon wieder passiert ist. Sie wird schrecklichen Durst haben.«

      »Ich habe ihr schon was aufgehoben«, antwortete die alte Frau mit zittriger Stimme. »Mini wollte es zwar vorhin gerne trinken, aber …« Sie zwinkerte dem Kleinen zu. »Ich habe ihm gesagt, dass die Sonne den ganzen Tag geschienen hat und dass Ray deshalb nach der Feldarbeit mehr Wasser braucht.«

      Seven widersprach: »Aber Oma! Du brauchst doch auch deine Ration! Du bist doch im August schon fast dehydriert.«

      »Ach, ich bin eine alte Frau und im August war es noch viel heißer als heute. Das geht schon. Morgen früh trinke ich wieder. Versprochen!«

      »Na gut,« willigte Seven ein, »aber ich habe einfach Angst, dich an das System-Krankenhaus zu verlieren. Wir brauchen dich hier noch!«

      »Glaubst du etwa, ich will noch einmal in ein System-Krankenhaus?«, schimpfte die Alte und während sie zum Schrank ging und doch einen kleinen Schluck aus ihrer eigenen Ration trank, sagte sie leise: »Wir dürfen die Hoffnung einfach nicht aufgeben.«

      »Ray!«, rief Mini und hing sich seiner Schwester, die gerade zur Haustür hereinkam, an den Hals. Schlecht gelaunt löste diese sich aus der Umarmung und giftete ihre Großmutter an:

      »Hoffnung!? Was soll das denn bitte sein?« Beim Eintreten hatte sie die letzten Gesprächsfetzen mitbekommen.

      »Ray, schön, dass du gar nicht so lange nacharbeiten musstest«, ignorierte die Großmutter ihre Frage. »Hier ist dein Nährtrank und ich habe dir noch etwas von meinem Wasser aufgehoben.«

      In langen, gierigen Zügen leerte Ray ihr Glas. »Puh!«, seufzte sie. »Ich hatte solchen Hunger und Durst!«

      Dankbar nahm sie die zusätzliche Ration der Großmutter entgegen und trank nun, da es nur noch reines Wasser ohne Nährpulver war, langsamer. Bei jedem Schluck musste sie die Augen schließen, weil sie so besser die erlösende Wirkung des durststillenden Wassers spüren konnte.

      »Warum musstest du nacharbeiten?«, fragte Seven kurze Zeit später. Ray setzte sich erschöpft auf das alte zerschlissene Familiensofa und rollte mit den Augen.

      »Bekomme ich jetzt wieder eine Standpauke, oder was?«

      »Ach Ray, du weißt doch, dass wir den Assistenten nicht zu sehr auffallen dürfen. Je mehr sie auf uns aufmerksam werden, desto mehr Ärger bekommen wir. Womöglich holen sie uns ab und implantieren uns noch vor dem Pflichttermin. Mini hat solche Angst davor.«

      Bei diesen Worten vergrub der Kleine gleich wieder sein Gesicht in Großmutters Schoß. Ray dagegen öffnete scheinbar gleichgültig ihren zerzausten Zopf und begann den Kartoffeldreck und Staub auszubürsten. »So’n Typ hat mir eine faulige Kartoffel in den Nacken geworfen und auf die Natürlichen geschimpft.«

      »Was?«, regte Seven sich auf. »Aber da müsste er doch Ärger mit der Überwachung bekommen, wenn er nicht arbeitet!«

      »Das glaubst du doch wohl selber nicht«, lachte Ray bitter. »Die Überwacher wissen schon, wann sie wegschauen müssen.« Sie atmete einmal tief ein und aus und überwand sich sichtlich, weiterzuerzählen: »Ich habe an Papa gedacht und meinen Korb auf das Fahrband gestellt. Irgendwie muss jemand dann die Kennnummern manipuliert haben. Ich weiß genau, dass ich 15 volle Körbe hatte. Und ich Dummkopf hab mich noch gewundert, dass der blonde Typ so bescheuert ist, einen halben Korb abzuliefern … Ha! … Ich war die Dumme!«

      Seven, der sich alles in Ruhe angehört hatte, konnte sich einen Kommentar nicht verkneifen: »Du musst wirklich besser aufpassen und weniger grübeln, Ray!«

      Das führte nur dazu, dass seine Schwester wütend aufsprang, die Treppen nach oben trampelte und man nur noch hörte, wie sich die Zimmertür mit einem heftigen Knall schloss. Seven setzte sich kopfschüttelnd an den Küchentisch. Er konnte nicht begreifen, wie seine Schwester das alles nur so locker nehmen konnte. Oder tat sie nur so? Erst letzten Monat hatte es ihretwegen eine Assistentenüberprüfung in ihrem Haus gegeben.

      Liebevoll nahm die Großmutter Mini von ihrem Schoß und hinkte langsam aber zielstrebig nach oben. Seven war nach dem Ausbruch seiner Schwester ganz durcheinander. Er bemerkte seinen Bruder erst, als dessen kleine, kalte Finger sich um seine schlossen: »Kuschelst du dich mit mir aufs Sofa?«, fragte dieser bereits zum zweiten Mal mit flehentlichem Blick.

      »Na klar, komm, Mini!«, antwortete er, nahm den Kleinen in seine Arme und setzte sich mit ihm auf seinen Lieblingsplatz. »Ich decke dich noch ein bisschen zu. Du bist ja wirklich eisig kalt.«

      Seven fühlte sich auf eine bestimmte Art und Weise verantwortlich für seine Geschwister, vor allem für Mini. Er war doch erst zehn und musste im Kinderhaus schon so viel aushalten. Aber auch für seine Schwester Ray fühlte er sich verantwortlich. Obwohl sie nur 2 Jahre jünger war als er selbst, hatte er immer das Bedürfnis sie zu beschützen. Sie selbst mochte das gar nicht und das wusste Seven auch. Trotzdem konnte er es nicht lassen sie immer wieder zurechtzuweisen. Sie brauchte doch seine Hilfe. Ray hatte ihm so leidgetan, als er sie auf dem Feld gesehen hatte und jetzt hatte er sie nur kritisiert. Er war aber auch wütend! Wieso konnte sie nicht besser aufpassen? Und überhaupt, wo blieb Mama? Musste sie heute auch nacharbeiten? Auf einmal war Seven mindestens genauso zum Heulen wie seinem kleinen Bruder, doch er unterdrückte die Tränen, aus Sorge Mini noch mehr zu verunsichern.

      Großmutter

      »Weißt du, meine liebe Ray, Seven meint es doch nicht böse.« Die Großmutter setzte sich auf Rays Bett, die ihren Kopf in den Kissen vergraben hatte. »Er macht sich Sorgen um uns alle. Seit euer Vater fort ist, hat er als der Älteste immer mehr Verantwortung übernommen.«

      Ray schluchzte. »Aber immer hackt er auf mir herum!«

      Großmutter schüttelte den Kopf. »Er wollte dir seine Wasserration überlassen, obwohl er selbst den ganzen Tag in der Sortierfabrik gearbeitet hat«, wendete sie ein.

      Ungläubig schaute Ray auf. »Ehrlich? Und ich dachte, er wäre bloß sauer auf mich.«

      »Nein, er hat dich sehr lieb.«

      »Woher weißt du das?«

      »Ich weiß es,« sagte die Oma leise und streichelte über Rays Kopf, »weil ich es fühlen kann. Wir dürfen nie aufhören, Gefühle füreinander zu haben. Sonst werden wir wie die Assistenten.«

      Da senkte Ray wieder den Kopf und gestand: »Heute wollte ich am liebsten nur eine Nummer im System sein. Ich wollte nichts mehr fühlen, nur einfach arbeiten und fertig! Ich habe gedacht, gar keine Gefühle mehr zu haben wäre doch besser als neben den wenigen guten Gefühlen so oft schlechte Gefühle haben zu müssen.«

      »Ja, das ist es, was sie mit dir machen. Sie lassen dich für sie schuften, bis du genauso gefühllos und kalt wirst, wie sie es sind. Nur so kann Nummer 1 seine Überwacher und Assistenten ausbilden und kontrollieren.« Die Großmutter nahm ihre Enkelin in den Arm. »Aber weißt du, trotz vieler schlechter Gefühle in diesem Leben haben wir einander und erleben doch auch viele schöne Momente zusammen, die die anderen Nummern nicht kennen. Das ist doch kostbar in dieser Welt, oder nicht?«

      Ray nickte zögerlich. »Oma, woher weißt du eigentlich all diese Dinge über das System?«

      »Ich weiß es nicht wirklich auf die Weise, wie sie Dinge wissen, aber mein ganzes Leben lang hat sich für mich der Eindruck erhärtet, dass es tatsächlich so ist. Ich beobachte die Veränderungen schon seit ich eine junge Frau