Название | LaPax |
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Автор произведения | Linda Kieser |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783943362589 |
Diese lächelte und sagte mit einem Augenzwinkern: »Nun ja, es gibt ein altes Sprichwort, das meine eigene Oma mir immer gesagt hat, als sie älter wurde. Das heißt: Die Hoffnung stirbt zuletzt.«
Irritiert sah Ray in das faltige Gesicht der alten Frau. »Was ist das eigentlich genau: Hoffnung? So etwas hast du vorhin schon gesagt, als ich nach Hause gekommen bin.«
»Wenn ich es richtig verstanden habe, heißt Hoffnung, dass man das Gefühl hat, die Zukunft wird irgendwie besser werden als die Gegenwart. Vielleicht täusche ich mich auch. Aber ich will einfach glauben, dass für euch eines Tages alles besser wird.«
»Und wie soll das gehen?« fragte Seven, der gerade zur Tür hereingekommen war. Er deutete hinunter ins Wohnzimmer. »Mini ist unten auf dem Sofa eingeschlafen.« Und zu Ray gewandt fuhr er fort: »Ray, ich, … es tut mir leid, dass ich dich vorhin so angegiftet habe. Ich habe dich auf dem Feld gesehen und habe mich so hilflos gefühlt. Ich konnte dir nicht helfen und da bin ich wütend auf mich selbst geworden und habe es an dir rausgelassen. Das tut mir leid.« Ray zögerte einen Moment und schaute ihre Oma an, die ihr aufmunternd zunickte.
»Hey, ich bin fast 13 und brauche keinen Aufpasser mehr, klar?«, sagte sie störrisch zu beiden. »Aber …«, sie blickte zu ihrem Bruder, der sie mit seinen großen braunen Augen unsicher ansah und zum ersten Mal fiel ihr auf, wie viel Ähnlichkeit er mit ihrem Vater hatte. »Entschuldigung angenommen.« Da stand sie auf und nahm Seven in den Arm. Er war wirklich ganz schön stark geworden, seit er auf der Sortierstation arbeitete.
»Seht ihr,« sagte die Oma, »deshalb habe ich Hoffnung für euch. Ihr kennt eine andere Art zu leben als die Assistenten, Überwacher und die zahllosen Nummern des Systems. Und ihr werdet sicher euer Leben lang nach diesem Leben suchen.«
»Ist Papa deshalb weggegangen, weil er ein besseres Leben suchen wollte?« fragte Ray.
»Ich weiß es nicht sicher, aber ich fürchte mein Sohn ist fortgegangen, weil er ein Leben mit weniger Gegenwind haben wollte. Diese Hoffnung kann das System bis zur Perfektion erfüllen, wenn man sich an ihre Spielregeln hält.«
Die Trauer über den Verlust ihres einzigen Sohnes war der alten Frau ins Gesicht geschrieben.
Die drei schwiegen eine Weile, dann sagte Ray: »So, jetzt raus aus meinem Zimmer. Ich muss schlafen, damit ich morgen mein Pensum schaffe und nicht wieder irgendeine Babyface-Nummer daherkommt und mich übers Ohr haut.«
»Gute Einstellung, Schwesterherz!«, meinte Seven zustimmend und fügte, zur Großmutter gewandt, hinzu: »Und ich trage Mini ins Bett.«
»Alles klar, gute Nacht ihr beiden!«, antwortete die Großmutter und machte sich auf den Weg in ihr Schlafzimmer.
Sie fühlte sich schwach. Ihre Knie machten ihr jeden Tag mehr Sorgen und Seven hatte Recht, dass sie zu wenig trank. Nur selten musste sie überhaupt noch Wasser lassen und dann brannte es und roch nach faulen Eiern. Sie wusste, dass dies nichts Gutes bedeuten konnte, aber sie musste durchhalten – für die Kinder. Sie hatte nun schon so lange für die Familie gekämpft und glaubte noch immer fest daran, dass es einen Ausweg aus dem System gab. Ein Wort drängte sich in ihre Gedanken.
»Clara.« Der Name bedeutete ihr viel. Es war dieser Name, der sie an einer Hoffnung auf eine bessere Zukunft festhalten ließ. Eine merkwürdige Begegnung mit einem noch merkwürdigeren Mann in ihrer Jugend hatte dazu geführt, dass sie sich selbst seitdem gerne so nannte. Sie war gerade bei der Arbeit auf dem Feld gewesen, da war ihr ein zerlottert gekleideter Mann ohne Nummer aufgefallen, der über das Feld gehumpelt kam.
»Hallo Clara«, hatte er ihr zugerufen und fragend hatte sie sich umgeschaut, um zu sehen, mit wem er redete. Aber alle anderen jungen Arbeiter hatten sich immer absichtlich von ihr fern gehalten, da sie ja eine Natürliche war. Da war sonst niemand gewesen, den er gemeint haben konnte.
»Ja, dich meine ich. Ich will dir was sagen.« Der etwas unheimliche Typ mit den zerzausten Haaren und der schmutzigen Kleidung hatte sie zu sich gewunken. Zögernd war sie näher getreten. Der Mann hatte ihr merkwürdige, aber faszinierende Dinge von einer besonderen Stadt erzählt, in der alle Menschen lustige, bunte Kleidung trugen und fröhlich waren.
»Wo soll denn diese geheimnisvolle Stadt sein?«, hatte sie ihn damals zweifelnd gefragt.
»Sie ist nicht fern von den Menschen, aber sie ist von den Systemstädten aus nur schwer zu erreichen«, hatte der Mann rätselhaft geantwortet. »Ich glaube, ich war schon mal dort, aber ich erinnere mich nicht mehr, wo sie ist.« Dann hatte er noch mit einem besonderen Glanz in den Augen etwas von Liebe und Hoffnung erzählt, das sie sich als junges Mädchen nur schwer hatte merken können. Trotzdem hatte sie diese Worte in ihrem Herzen behalten.
»Liebe. Hoffnung«, murmelte sie leise vor sich hin, während sie versuchte sich an Einzelheiten aus dem Gespräch von damals zu erinnern.
Je älter sie wurde, desto wichtiger schienen Clara diese Begriffe zu werden. Allerdings hatte sie nie verstanden, warum der Mann sie so genannt hatte und irgendwann hatte sie nicht mehr an die Begebenheit gedacht. Erst einige Jahre später traf sie erneut auf eine rätselhafte Person. Es war eine Frau, die ausgesprochen geheimnisvoll in der Wäscherei auftrat. Sie war auf alle Nummern zugegangen und hatte nur das eine Wort »Hoffnung« in ihre Ohren geflüstert. Die meisten hatten sie angewidert zur Seite geschoben, doch Großmutter hatte sie mit großen Augen angeschaut. Sie hatte vor kurzem ein Baby bekommen, einen kleinen Jungen, und auf einmal hatte sie gespürt, was Hoffnung war: Dieser Junge sollte es einmal besser haben als sie selbst.
Doch die Frau hatte nur noch gesagt: »Lass sie nicht sterben.« Dann war sie von den Überwachern aufgegriffen und weggeschleppt worden.
Die sonderbaren Begegnungen mit den Fremden hatten in Clara einen Wunsch geweckt. Sie wollte unbedingt diese Stadt finden. Sie selbst würde jedoch nicht mehr auf die Suche gehen können, denn sie spürte, dass sie nicht mehr allzu lange Zeit zu leben hätte. Die Strapazen einer Reise würde sie mit ihrem Knie ohnehin nicht überstehen. Vielleicht konnten ihre Enkelkinder die Stadt für sie finden.
Clara seufzte und sah aus dem Fenster. Der Mond nahm gerade zu und erhellte die angebrochene Nacht. Ma würde jetzt sicher nicht mehr nach Hause kommen.
Als ihr Sohn sich vor etwa 17 Jahren in sie verliebt hatte, war sie überglücklich gewesen. Er hatte erleben dürfen, was Liebe bedeutet. Natürlich hatte jeder Mensch im System Empfindungen wie Hunger und Durst. Auch Sex wollten die Menschen noch, aber der wurde nur über den Bildschirm bestellt. Kaum jemand, der im System lebte, kannte die Liebe noch. Sie war laut Propaganda in der fortschrittlichen Welt des Systems nicht mehr nötig, um die Menschen glücklich zu machen. Genau genommen gab es fast niemanden mehr, der überhaupt das Wort Liebe noch kannte. Schon lange war es aus dem Grundwortschatz in den Kinderhäusern gestrichen worden. Für die Fortpflanzung sorgten die Kliniken in ihren Hochsicherheitstrakten, wo sie ideale Genkombinationen paarten und die entstandenen Kinder bis zum Alter von 3 Jahren aufzogen. Danach kamen die kleinen Nummern in die Kinderhäuser, wo besonders ausgebildete und systemtreue Assistenten für die Aufzucht sorgten. Die Arbeiter sollten wahrscheinlich nicht den typischen Kinderfragen ausgesetzt werden, wie: »Warum gibt es eigentlich die Nummern?« oder »Warum passt jede Woche jemand anders auf uns auf?«
Die alte Frau kannte ähnliche Fragen von ihren eigenen Enkelkindern. Sie konnte sich gut vorstellen, wie die Assistenten in den Kinderhäusern ihre immer gleichen Antworten abspulten, bis die Kinder selbst überzeugt waren, nur so sei ihr Leben normal, wie es ihnen vom System verkauft wurde. Anders konnte sie sich nicht erklären, dass sie im Dorf kaum mehr Menschen begegnete, die den Eindruck machten, als könnten sie überhaupt noch selber denken. Das System schien es immer besser zu schaffen, alle Menschen im Griff zu haben. Hauptsache die Menschen hatten eine Beschäftigung und genügend Nährstoffe, dann waren sie zufrieden.
Das einzige Problem des Systems war das Wasser. In ihrer Gegend gab es gerade noch genügend, um die Kartoffelfelder zu bewirtschaften, die den Grundstoff für all die Stärkeprodukte stellten, die in der Stadt produziert