LaPax. Linda Kieser

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Название LaPax
Автор произведения Linda Kieser
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783943362589



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Großeltern erzählte, die sogar selber noch in die Schule gegangen waren.

      »Sie haben ganz viele Dinge über die Welt gelernt, über die Menschen und ihre Geschichte durch die Generationen«, schwärmte die alte Frau. »Leider behaupteten dann die Wissenschaftler des Systems, dass nur 5 % von diesem Wissen später genutzt würden. Sie kamen zu dem Schluss, dass das Bildungssystem ineffektiv sei. Da wurde das Arbeitssystem eingeführt.«

      Doch an solche Zeiten gab es heute kaum noch lebendige Erinnerungen.

      »Es gibt ja auch kaum noch natürliche Familien, die sich so etwas erzählen könnten«, dachte Ray bitter, als sie ihren vollen Korb nahm und zum Fahrband schleppte. Seit Ray denken konnte, war die Knollenernte schon immer die Arbeit der Jugendlichen zwischen 12 und 13 gewesen.

      Manchmal wünschte sie sich, so normal zu sein wie die anderen Jugendlichen auf dem Feld, einfach nur eine weitere Nummer im System. Aber das war sie nicht. Ebenso wenig wie ihre beiden Geschwister, Seven, ihr älterer und Mini, ihr jüngerer Bruder.

      Ihre Mutter hatte Ray und ihre Brüder im Krankenhaus geboren. Sie waren auf natürliche Weise gezeugt und ausgetragen worden. Rays Vater, der ebenfalls ein Natürlicher war, hatte eines Tages das Geläster und den Druck im Dorf nicht mehr ausgehalten und war aus seiner Heimat weggezogen. Eines Morgens war er einfach verschwunden, obwohl er seit seiner Kindheit im Dorf 89573 gelebt hatte. Auch er hatte schon als Jugendlicher auf den Knollenfeldern geschwitzt. Doch nach der Geburt seines dritten Kindes wurden die Anfeindungen immer schlimmer. Nicht selten rief ihnen jemand »Wie die Tiere! Pfui!« hinterher. Früher hatte Ray nie verstanden, was das bedeuten sollte, aber irgendwann hatte ihre Großmutter sie aufgeklärt. Es war eine andere Aufklärung als die des Systems. Im Kinderhaus hatte sie gelernt, dass die Menschen im Krankenhaus unter besonders hygienischen Voraussetzungen im Reagenzglas gezeugt wurden und nach etwa 9 Monaten aus dem Fruchtwasserbehälter entnommen wurden. Dadurch seien neben der Sicherheit für das Kind außerdem ideale Genkombinationen möglich, die das System stärkten. Großmutter hatte ihr dagegen die Fortpflanzungsmethode der Natürlichen erklärt, die Ray insgeheim selbst ein wenig ekelig fand. Das sagte sie ihrer Großmutter natürlich nicht. Sie wollte sie ja nicht beleidigen.

      Seitdem ihr Vater verschwunden war, hatte die Familie nichts mehr von ihm gehört. Tatsächlich hatten die Beschimpfungen anschließend etwas abgenommen, aber dennoch war die Familie bekannt wie ein bunter Hund. Alle wussten, dass sie zu den Natürlichen gehörten. Obwohl die Bewohner des Dorfes alle paar Monate ausgetauscht wurden, sprach es sich unter den Neuen immer wie ein Lauffeuer herum, wer die Natürlichen waren. Ihre Nummern wussten immer alle als Erstes auswendig. Da aber ein uraltes Gesetz die Häuser der Natürlichen vor der Übernahme durch das System schützte, blieben sie als einzige über Jahre am selben Ort wohnen. Dadurch konnten sie zwar keine Karriere machen und mussten die Arbeit annehmen, die in der Umgebung anfiel, aber es war ihre einzige Chance als Familie zusammenzubleiben. Die meisten anderen Natürlichen hatten sich schon getrennt und ins System integriert. Ray fragte sich des Öfteren, was passieren würde, wenn die alte Hütte über ihnen zusammenbrechen würde. Renovierungen an Privatbesitz durften nämlich nicht selbstständig durchgeführt werden. Und dem System fiel es gar nicht erst ein, Privathäuser zu renovieren.

      In ihren Gedanken versunken, merkte Ray gar nicht, dass der blonde Junge seinen nur halb gefüllten Korb neben ihren auf das Band gestellt hatte. Ganz unauffällig hatte er dabei die Kennnummern ausgetauscht, die auf den Körben angebracht sein mussten. Auf Rays prall gefülltem Korb prangte nun anstatt ihrer eigenen Nummer RA834500Y die Nummer des Jungen: ZZ98035V.

      »RA834500Y zur Nacharbeit! RA834500Y zur Nacharbeit!«, tönte es am Abend aus den Lautsprechern der Überwachungsanlage. Das Tageslicht fing langsam an zu schwinden und die Strahler wurden über Rays Arbeitsplatz eingeschaltet, während sie sich grün und blau ärgerte, dass sie wieder einmal Nacharbeit leisten musste. Sie konnte es sich nicht erklären. Sie hatte doch ihre 15 vollen Körbe abgeliefert. »Jetzt sitzen die Assistenten wieder an ihren Bildschirmen und lachen über die schlechte Leistungsfähigkeit der Natürlichen!«, dachte sie wütend. Daran konnte sie nun aber auch nichts ändern. Vielleicht hatten sie sogar Recht damit.

      Als Seven von seiner Sortierarbeit mit all den anderen 14- und 15-Jährigen auf dem Fahrband nach Hause fuhr, sah er seine Schwester noch immer auf dem Feld arbeiten. Sie sah nicht gut aus. Ihr Haar, das noch am Morgen ordentlich zusammengebunden war, hing ihr strähnig ins Gesicht. Sie wirkte müde und erschöpft. Hatte sie geweint? Seven durfte sich seine Wut nicht anmerken lassen. Auch dann nicht, als einige Mädchen auf dem Fahrband anfingen, sich über die dummen Natürlichen aufzuregen. Am liebsten hätte er sich jetzt eine deftige Prügelei mit den Lästertanten geliefert, aber das würde ohnehin nichts ändern. Er drehte den Kopf weg und betrachtete den Sonnenuntergang. Der Himmel, der den ganzen Tag blau geleuchtet hatte, war nun blutrot. Großmutters Haus, das er in einiger Entfernung am Dorfrand sehen konnte, war gerade in diesem Moment durch die letzten Sonnenstrahlen in rosafarbenes Licht getaucht. Die Risse im Putz und das marode Dach schienen auf einmal nicht mehr zu existieren. In den dahinter liegenden weiß getünchten Neubauten im Zentrum des Dorfes lebten die Jugendarbeiter und die verschiedenen Kindergruppen, streng getrennt nach ihrem Alter. Außerdem gab es noch das Altenhaus weiter hinten im Ort, das von hier nicht zu sehen war und ein paar Blöcke, in denen einige Assistenten und Überwacher wohnten und arbeiteten. Erwachsene gab es ansonsten in 89573 wenige. Sie arbeiteten überwiegend in den Produktionshallen am Stadtrand. Für die Feldarbeit waren die gelenkigen und kräftigen Jugendlichen vorgesehen.

      Seven fiel auf, wie viel hübscher ihr kleines Häuschen mit dem spitzen Dach im Gegensatz zu all den großen Flachbauten im Dorf war. Die Sonne war jetzt ein leuchtend roter Ball am Horizont und schien fast zum Greifen nah. »Wie kann eine Welt, in der es so schöne Dinge gibt, nur so schrecklich sein?«, fragte er sich wahrscheinlich zum 100sten Mal. Trotzdem beruhigte ihn der Anblick der untergehenden Sonne etwas und er hoffte, seine Schwester würde sich ebenfalls davon getröstet fühlen.

      Zu Hause angekommen, sah Seven seinen kleinen Bruder in der Türe stehen. Heute rannte dieser ihm jedoch nicht entgegen, aber der für sein Alter schon große und muskulöse 15jährige junge Mann wusste genau, dass sein kleiner Miniseven nichts lieber täte, als auf seinen starken Armen durch die Luft zu fliegen. Er war schließlich gerade erst zehn geworden. Leider hatten erst letzte Woche mehrere Sortierarbeiterkollegen eine solche Szene beobachtet und hatten beim Vorbeigehen alle gemeinsam auf die Geschwister gespuckt. Mini hatte fürchterlich geweint und versprochen, Seven nie wieder entgegenzurennen. Seit diesem Vorfall war das Mobbing auf der Sortierstation unerträglich, wie immer, wenn sich eine Wohnphase dem Ende zuneigte. Mittlerweile wussten nämlich wirklich alle, dass der Junge mit der Nummer XY770077G ein Natürlicher war.

      »Warum muss ich auch so eine eingängige Nummer haben!«, ärgerte er sich still. Andererseits war die Nummer auch egal, denn das System trainierte schon die Kleinsten, sich komplexe Zahlenfolgen merken zu können. Er sehnte den nächsten Umzug der Kollegen herbei, obwohl er wusste, dass dann nur alles von vorne anfangen würde.

      Seven drehte sich noch einmal zu den Fahrbändern um und sah, dass alle anderen schon in den Straßen der Jugendhäuser verschwunden waren. Er schaute wieder zurück zu Mini und ein verschmitztes Grinsen zeigte sich auf seinem Gesicht. Seven breitete seine Arme aus und fing an auf Mini zuzulaufen. Im selben Moment juchzte Mini glücklich auf, sprang aus dem Haus und im nächsten Augenblick wirbelten die beiden eng umschlungen herum, bis sie kichernd und außer Puste vor der Haustüre saßen. Mittlerweile war die Sonne untergegangen, doch ein paar rosafarbene Wölkchen zeugten noch von der Schönheit der vergangenen Minuten.

      »Seven«, fing Mini an. »Ray ist noch nicht zu Hause. Mama auch noch nicht.«

      »Ich weiß, ich habe Ray noch bei der Nacharbeit auf dem Feld gesehen.«

      »Aber …, Mama?«, fragte Mini zögernd.

      »Sie habe ich nicht gesehen, Mini. Du weißt ja, dass es jeden Tag passieren kann.« Mini lief eine einzelne Träne übers Gesicht, als sein Bruder weitersprach: »Mama hat keine Angst vor der Implantierung. Sie wird ganz tapfer sein, wenn es soweit ist. Du wirst schon sehen, irgendwie wird alles gut werden.«

      »Ich will aber kein Implantat«, jammerte Mini.