Название | Für ein Ende der Halbwahrheiten |
---|---|
Автор произведения | Edelbert Richter |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783948075811 |
Wegen jener starken Assimilationsbereitschaft fand aber die andere Lösung des Problems der Volksreligion, die der Zionismus seit 1896 proklamierte, bei den Juden in Deutschland, jedenfalls bis 1916, nur wenig Widerhall. Denn sie wollten eben loyale Staatsbürger sein, und was Theodor Herzl anstrebte, stellte doch alles, was sie an Emanzipation erreicht hatten, ganz genauso infrage wie die Antisemiten! Diese Lösung war höchstens für die immer noch unterdrückten osteuropäischen Juden ein Gewinn. Aber auch die streng religiösen Juden lehnten den Zionismus ab. Gewiss ist diese Religion eine einzige große Sehnsucht nach Heimat. Die Liturgie des Passah-Fests endet bekanntlich mit dem Ausruf »Das kommende Jahr in Jerusalem!«, als Gebetswunsch schließt sich an: »Erbarme dich, Ewiger, unser Gott, über dein Volk Israel, über deine Stadt Jerusalem, über Zion, die Wohnung deiner Heiligkeit, über deinen Altar und über deinen Tempel. Erbaue bald und in unseren Tagen deine heilige Stadt Jerusalem, bringe uns dahin und erfreue uns durch ihre Wiederherstellung.« Aber diese Hoffnung soll der Messias erfüllen, und es war nicht nur säkular gedacht, sondern gegen Gott gerichtet, wenn man sich an seine Stelle setzen und sein Handeln vorwegnehmen wollte. Damit verlor die Verheißung auch ihre menschheitliche Pointe, und es konnte nur das Gegenteil herauskommen: ein ganz gewöhnlicher Staat im Machtgerangel dieser Welt. Vor dem Hintergrund dieser Kontroverse konnte der erste Zionistenkongress wegen des Widerstands der örtlichen israelitischen Gemeinde und des Deutschen Rabbinerverbandes 1897 nicht in München stattfinden, sondern musste nach Basel verlegt werden.130
Doch es gibt weitere, in gewisser Hinsicht sogar tiefere Einwände gegen Herzl und andere Vertreter des Zionismus. Da ist zunächst die Beobachtung, dass er selber ja nicht nur seiner Religion entfremdet war, sondern ein glühender Bewunderer Bismarcks und des neuen Deutschen Reiches war! Der Kaiser sollte ihn daher bei der Verwirklichung seines Plans gegenüber den Osmanen unterstützen. »Unter dem Protektorate dieses starken, großen, sittlichen, prachtvoll verwalteten, stramm organisierten Deutschlands zu stehen«, notierte er in seinem Tagebuch, »kann nur die heilsamsten Wirkungen für den jüdischen Volkscharakter haben (…). Durch den Zionismus wird es den Juden wieder möglich werden, dieses Deutschland zu lieben, an dem ja doch trotz alledem unser Herz hing!«131 So wurde Deutsch die Arbeitssprache der zionistischen Bewegung und Berlin ihre informelle Hauptstadt.
Bekanntlich war Bismarck aber ein Vertreter des außenpolitischen »Realismus«, und auch darin folgte ihm Herzl z.B. mit der These, dass ein nationaler Zusammenschluss überhaupt nur möglich ist gegen einen gemeinsamen Feind. Daraus folgte, dass er den Antisemitismus nicht etwa verurteilte und bekämpfte, sondern als Herausforderung begrüßte: Ohne ihn hätte das jüdische Volk schon in der Zerstreuung nicht überlebt, und jetzt brauche es ihn, um wieder ein Staatsvolk zu werden. Unsre Feinde, so meinte er, »werden unsere verlässlichsten Freunde und die antisemitischen Länder unsere Verbündeten sein«.132 In gewisser Hinsicht sollte er diesbezüglich sogar Recht bekommen, wir werden das später bei der Behandlung des Nationalsozialismus noch sehen.
Aus jener These folgte weiter, dass Herzl jene Regierungen, die die Juden am liebsten loswerden wollten, beim Wort nahm und an sie appellierte, doch sein Vorhaben zu unterstützen.133 Im Sinne des politischen Realismus war es auch, sich bei den mächtigsten Staaten anzubiedern, um Erfolg zu haben. Herzl selbst tat es bei der türkischen Regierung, spätere Zionisten bei Großbritannien und den USA. Hannah Arendt meint dazu sehr treffend, »dass, solange die Zeit des Messias noch nicht angebrochen ist, ein Bündnis zwischen einem Löwen und einem Lamm verheerende Folgen für das Lamm haben kann«.134
Herzl hat zwar den objektiven, auf die Herkunft abhebenden Begriff der Nation der deutschen und osteuropäischen Tradition übernommen, die Rassenlehre aber abgelehnt. Sand erzählt dazu die hübsche Geschichte vom Besuch des gutaussehenden Herzl bei einem jüdischen Schriftsteller in London, der für seine Hässlichkeit bekannt war. In seinem Tagebuch notiert Herzl dann: »Er steht aber auf dem Rassenstandpunkt, den ich schon nicht akzeptieren kann, wenn ich ihn und mich ansehe.«135 Wollte man damals jedoch wissenschaftlich auf dem neuesten Stand sein, so musste man mit der Rassentheorie operieren. Was andere führende Zionisten eben auch taten – womit wir erneut bei einer dieser Tatsachen sind, die heute gern ausgeblendet werden. Schon der Erfinder des Begriffs »Zionismus« Nathan Birnbaum (1864–1937) knüpfte bei Disraeli und Hess an und schrieb 1886: »Die geistigen und emotionalen Besonderheiten eines Volkes können nur durch die Naturwissenschaften erklärt werden. Ein großer Weiser unseres Volkes, Lord Beaconsfield [Benjamin Disraeli], sagte einmal, ›Die Rasse ist alles‹, in der Besonderheit der Rasse liegt die Einzigartigkeit des Volkes. In den Rasseunterschieden liegt die Quelle der vielen nationalen Varianten. Wegen des Gegensatzes zwischen den Rassen denkt und fühlt der Deutsche oder der Slawe anders als der Jude. Mit diesem Gegensatz kann man die Tatsache erklären, dass der Deutsche das Nibelungenlied schuf, der Jude hingegen – die Hebräische Bibel.«136 Auch Chamberlains Grundlagen des 19. Jahrhunderts fand seine Zustimmung, abgesehen natürlich von dessen antisemitischen Äußerungen. Vielleicht am ungeniertesten offenbarte sich der Zeitgeist bei dem damals sehr bekannten Intellektuellen Max Nordau, der in gewisser Weise zum »Chefideologen« der Zionisten wurde. Er kämpfte gegen die »Entartung« der Zivilisation (so der Titel seines viel gelesenen Buchs von 1892), die er in der modernen Kunst, der Homosexualität und den psychischen Krankheiten am Werke sah. Und er entdeckte im Zionismus die Chance einer Erneuerung der jüdischen Rasse, dieses uralten Blutes: Die Rückkehr in die alte Heimat, zur Muttererde, verbunden mit der Notwendigkeit, wieder Landwirtschaft zu betreiben und sich körperlich zu ertüchtigen, werde erst die Gesundheit des Volkes wiederherstellen. An der Gesundheit lag ihm so viel, dass er endlich wieder »Muskeljuden« sehen wollte, was in der Tat zur Gründung zionistischer Sportvereine führte. Vor seiner Rede auf dem Zweiten Zionistenkongress ließ er Musik aus Wagners Tannhäuser spielen.137 Zur Orientierung am Deutschen Reich kam also hier die konservative Zivilisationskritik hinzu, die am Ende des Jahrhunderts blühte. Sie enthält zwar ein Stück Wahrheit, wie wir heute, ökologisch belehrt, anerkennen müssen, war aber auch verlogen. Wenn diese zweideutige Romantik, diese Rückwendung zu vormodernen Zeiten nun den Deutschen gern vorgeworfen wird, warum dann nicht den frühen Zionisten? War die Rückkehr ins »Heilige Land« nach fast zweitausend Jahren und die anvisierte Wiedergründung des alten Staates Israel nicht eine viel weitergehende, überschwänglichere Romantik? Verlogen war diese Haltung auch insofern, als sie die Moderne zunächst in Gestalt des deutschen, später des britischen und amerikanischen Imperialismus voraussetzte. Für die Imperialisten aber war die Rückkehr des erwählten Volkes nur der Beweis dafür, dass man auch mit der Geschichte beliebig schalten und walten konnte und sie zum bloßen Material geworden war.
Weitere zionistische Vertreter des Blut und Boden-Mythos werden in Sands Buch aufgeführt und kommentiert, so dass ich darauf verweisen kann.138 Es sind so bekannte Persönlichkeiten wie der junge Martin Buber, Wladimir Jabotinsky, der Vater der »revisionistischen« Zionisten oder auch der Organisator der jüdischen Siedlungsbewegung in Palästina, Arthur Ruppin (1876–1943). Letzterer war seit den 1920er Jahren Dozent für die »Soziologie der Juden« an der Hebräischen Universität in Jerusalem, pflegte internationale Kontakte mit Eugenikern und besuchte noch nach Hitlers Machtergreifung den führenden Rassetheoretiker der Nationalsozialisten Hans F. K. Günther in Deutschland, um über die »jüdische Frage« zu diskutieren.139
12. Der Frontenwechsel des Judentums im Ersten