Название | Für ein Ende der Halbwahrheiten |
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Автор произведения | Edelbert Richter |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783948075811 |
5. Der Vorteil, keinen eigenen Staat zu haben
Da einerseits von der Klassenspaltung im Judentum, andererseits vom Verlust des eigenen Staats und der Zerstreuung die Rede war, drängt sich die Überlegung auf, was diese beiden Tatsachen in ihrem Zusammenhang eigentlich bedeuten. Zumeist wird der gewaltige Nachteil betont, den es für ein Volk bedeutet, wenn es über keinen staatlichen Schutz im Innern und nach außen verfügt. Das ist gerade in den 1930er Jahren noch einmal sehr deutlich geworden, als den Juden im Dritten Reich die Bürgerrechte beschnitten wurden, sie aber auch im Ausland weithin keine Aufnahme fanden. Nur muss man hier differenzieren, denn die Benachteiligung trifft doch vorwiegend die unteren, weniger die oberen, begüterten Schichten. Dass dies auch im Dritten Reich der Fall war, werde ich noch zeigen, doch zunächst zum grundsätzlichen Problem: Ist es für die jüdischen Eliten nicht sogar ein großer Vorteil gewesen, nichts zu tun zu haben mit dem Kleinkram des politischen Alltags und sich nicht mit Staatsaufgaben herumschlagen zu müssen? Auch wenn es heute Mode ist, diese Aufgaben eher gering zu schätzen, darf vielleicht daran erinnert werden, wie bequem es ist, sich nicht im internationalen Machtkampf behaupten zu müssen und dabei womöglich harte Entscheidungen gegen das eigene Volk treffen zu müssen; wie angenehm es ist, sich nicht um das Gemeinwohl kümmern zu müssen, ein Land nicht durch eine Wirtschaftskrise steuern zu müssen oder soziale Gegensätze nicht ausgleichen zu müssen. Wenn man von diesen oft »schmutzigen« Arbeiten befreit ist, dann fällt es auch nicht schwer, alles unter einem höheren, globalen Gesichtspunkt zu sehen, als Besserwisser aufzutreten und damit unter ähnlich privilegierten Intellektuellen viel Beifall zu finden.
Ich glaube nicht, dass man die großen geistigen Leistungen des Judentums herabsetzt, wenn man an diese Bedingung erinnert, unter der sie zustande kamen. Hinzu kommt ein Vorteil, der vielleicht noch schwerer wiegt: Die jüdischen Eliten besaßen großen Einfluss, brauchten aber aufgrund des fehlenden eigenen Staatswesens auch keinen Widerstand oder gar Aufstand ihres Volkes zu befürchten. Das ist insgesamt eine recht komfortable Position. Gewiss blieben sie von den jeweiligen politischen Herrschern abhängig, was am Beispiel der Hofjuden noch zu zeigen sein wird, aber politische Verantwortung brauchten sie eben nicht zu übernehmen.
Wenn man nun davon ausgeht, dass ein jedes Volk aber lieber von eigenen anstatt von fremden Herren bedrückt wird, dann mag dies ein Stück weit die Schärfe der Judenfeindschaft erklären: Hier verband sich die allgemeine Wut über wirtschaftliche Unterdrücker mit der Wut über »Eindringlinge«. Freilich war es z.B. vielen Sozialisten des 19. Jahrhunderts gleichgültig, woher der Unterdrücker kam, und so galten die Sozialisten schließlich als »vaterlandslose Gesellen«. Deswegen waren sie auch für den Antisemitismus nicht empfänglich. Wer sich aber in den Nationalstaat eingebunden fühlte und von ihm den sozialen Ausgleich erwartete, der musste gegenüber Herren, die sich nicht einbinden ließen, misstrauisch sein.
6. Inspiration für das moderne Nationalbewusstsein
Angesichts der langen Existenz des jüdischen Volkes ohne eigenen Staat verkennt man aber auch leicht die gewaltige Bedeutung, die die Erinnerung an das Davidische Reich und die Hoffnung auf seine Wiederkehr in neuer Gestalt hatte, und zwar nicht etwa bloß für dieses Volk, sondern für die Herausbildung des modernen Nationalstaats insgesamt! Wer im Judentum den natürlichen Repräsentanten des Internationalismus sieht, sieht daher wieder nur die halbe Wahrheit. Dass dieses Volk ohne politische Form so lange bestehen konnte, hat Bewunderung hervorgerufen. Noch bewundernswerter erscheint, wie die Juden so eisern an jener Erinnerung und Hoffnung festgehalten haben und vielleicht deshalb viele andere Völker überleben konnten. Dieser feste Glaube konnte damit zum Vorbild für neu aufbrechende Nationen werden, im Unterschied zu den vielen Reichen der Vergangenheit, die zwar geglänzt hatten, aber auch wieder erloschen waren.
Man sollte meinen, dass diejenigen, die sich als Volk zusammenschließen und Macht entfalten wollen, sich doch an jenen orientieren werden, die dieses Ziel in ihrer Geschichte bereits erreicht haben, anstatt an den in diesem Punkt gescheiterten Israeliten! So hätte man es wohl in der Antike gesehen. In der Neuzeit aber verstand man sich nicht mehr als Teil der Natur, man dachte geschichtlich. Die Nation war eine kulturelle Größe, eine »imaginierte Gemeinschaft« (Anderson), sie musste »gebildet«, ja »entworfen« werden.65 Daher brauchte man für den nationalen Auf-bruch einen tiefen Ursprung und ein hohes Ziel. Und beides boten das Erwählungs- und Sendungsmotiv, das man aus der jüdischen Tradition übernahm.
Wir können mit guten Gründen davon ausgehen, dass England der erste Nationalstaat der Neuzeit war, und an ihm ist diese Inspiration geradezu mustergültig abzulesen. Er konstituierte sich bekanntlich in der Revolution des 17. Jahrhunderts, die hauptsächlich vom radikalen Protestantismus der Puritaner getragen wurde. Was war aber charakteristisch für sie? Eine unübersehbare Nähe zum Judentum, im Unterschied zur Katholischen Kirche wie auch zum Lutherischen Protestantismus. Die geistige Nähe zum Judentum zeigte sich in der starken Orientierung am Alten Testament: Die Revolution gegen Karl I. brach aus mit dem Ruf der Israeliten gegen ihren schlechten König Rehabeam: »Zu deinen Gezelten, Israel!« Die Soldaten Cromwells legten ihre »heidnischen« englischen Namen ab und gaben sich solche aus den alttestamentlichen Schriften. Sie zogen Psalmen singend in den Kampf und die ganze Sprache der Flugschriften, Reden und Predigten der Revolution war die des alten Bundes.66 Die Nähe zeigte sich auch an der Hochschätzung des Hebräischen, das als die Sprache Gottes und als die Ursprache der Menschheit galt.67 Außerdem nahmen die Puritaner das Bilderverbot ernst, sie lehnten die Sakramente als Heilsmittel ab, unterdrückten alles Sinnlich-Natürliche als »Kreaturvergötzung« und unterwarfen das Alltagsleben einer pedantischen moralischen Regulierung. In all diesen Aspekten zeigt sich das Vorbild des Judentums. Was aber für unsere Betrachtung das Wichtigste ist: Die Engländer verstanden sich als das neue erwählte Volk mit der besonderen Mission, die Menschheit zu ihrer Art von Christentum zu bekehren. So heißt es bei John Milton, dem Dichter der Revolution: »Wir haben starken Grund, zu glauben, dass die Gunst und die Liebe des Himmels uns besonders günstig und geneigt ist. Warum wurde sonst unsere Nation vor allen anderen auserwählt, dass von ihr aus wie aus Zion die erste Zeitung und Posaune der Reformation dem ganzen Europa verkündet werden und ertönen sollte? (…) Nach dem Zusammentreffen der Zeichen und nach dem allgemeinen Gefühl heiliger und frommer Männer hat Gott jetzt abermals beschlossen, eine neue und große Periode in seiner Kirche zu beginnen; was tut er denn, als sich seinen Knechten offenbaren und zuerst, wie es seine Weise ist, den Engländern?«68
Es ist überaus charakteristisch und besitzt eine innere Logik, dass sich die Puritaner in der Abwendung vom Universalismus, von der »Katholizität« der Römischen Kirche nun den volksreligiösen Zügen des Alten Testaments zuwandten.69 Die Frage war nur, was dabei dann vom Neuen Testament mit seinem Gebot der Feindesliebe und der Überwindung der Völkergegensätze noch übrigblieb.
Schon bei Cromwell blieb davon jedenfalls nicht viel, denn unter seinem Protektorat wurden so viele Kriegsschiffe gebaut wie nie zuvor und begann erst eigentlich die britische Expansion. Im Anschluss an die verständliche Verteidigung des Protestantismus gegen die spanische Weltmacht traten rein britische Interessen in den Vordergrund, nämlich im Kampf gegen die ebenfalls protestantischen Niederlande. Man konnte sehen, wozu der hochfliegende Messianismus gut war – er diente zur Stimulierung und Verklärung nationalen Machtstrebens. Die berühmten »Pilgerväter«, die zum Ursprungsmythos der Vereinigten Staaten gehören, hatten übrigens zunächst in Holland Zuflucht gefunden, um der Verfolgung der Anglikaner zu entgehen; doch 1620 verließen sie schließlich ihr holländisches Exil, um Engländer bleiben und ihre Mission in der Neuen Welt verwirklichen zu können. So wurde das Sendungsbewusstsein nach Amerika weitergetragen und beschäftigt uns noch heute.
Wenn damals auch Differenzen zwischen Juden und Puritanern bestehen