Название | Für ein Ende der Halbwahrheiten |
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Автор произведения | Edelbert Richter |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783948075811 |
13. Zweierlei Boykott und das Haavara-Abkommen
Wir nähern uns jetzt der Phase der deutsch-jüdischen Geschichte, die uns am meisten zu schaffen macht. Schon beim letzten Punkt hatten wir das Problem, das streitende Kinder immer haben, wenn sie sich wieder versöhnen sollen: Wer hat denn »angefangen«? Erfahrene Eltern werden sich auf diese Frage gar nicht einlassen, sondern stillschweigend davon ausgehen, dass nicht bloß beide ihren Anteil an Schuld haben, sondern dass zwischen beiden etwas nicht stimmt. So werden sie den Zerstrittenen am besten eine neue gemeinsame Aufgabe stellen, die sie fasziniert. In ähnlicher Weise müssten auch die Historiker verfahren, aber der Holocaust verleitet sie dazu, uns die Juden immer als Märtyrer, Heilige oder Schafe vorzustellen, die sich brav zur Schlachtbank führen lassen; und die Nazi-Deutschen als Herrenmenschen, die ohne Gründe, aus Verblendung oder reiner Willkür darauf aus sind, Juden umzubringen. Eine solche Geschichtsbetrachtung geht jedoch an der wirklichen Geschichte vorbei. Es gab sehr wohl einen organisierten jüdischen Kampf und einen entsprechenden Druck auf die Nationalsozialisten.
Auch historisch Informierte wissen meist nur, dass es am 1. April 1933 auf Geheiß der Nationalsozialisten einen Boykott jüdischer Geschäfte gab, verbunden mit üblen Ausschreitungen. Sie wissen aber meist nicht, dass diese Aktion eine Reaktion darstellte und zwar auf den weltweiten Boykott deutscher Exportgüter, den der »American Jewish Congress« im März 1933 propagiert hatte und der auf den ökonomischen Zusammenbruch des Nationalsozialismus zielte! »Lasst uns Deutschland diesen Winter in die Unterwerfung hungern!«, lautete die Losung.149 Der Boykott wurde zwar nur teilweise befolgt, etwa in Osteuropa, und so das Ziel nicht erreicht; immerhin aber sank der deutsche Export in die USA bis 1937 noch unter den Tiefstand, den schon die Weltwirtschafskrise bewirkt hatte.150 Natürlich kann man diesen Boykott aufgrund der antisemitischen Gesetze der Nationalsozialisten als berechtigt ansehen. Doch selbst andere jüdische Organisationen wie das »American Jewish Committee«, das vom oben genannten »Congress« zu unterscheiden ist, waren durchaus nicht von der Sinnhaftigkeit des Boykotts überzeugt, sondern setzten auf Deeskalation.151 Wir wissen aus unserer Erfahrung, so in Bezug auf den Irak, dass solche Sanktionen meist gerade nicht diejenigen treffen, die sie treffen sollen, sondern nur die ohnehin unterdrückte und ärmere Bevölkerung. Im Irak trafen die Sanktionen bekanntlich eine halbe Million Kinder, die wegen fehlender Medikamente sterben mussten. In Deutschland kamen nun die Sanktionen zu den Folgen der Wirtschaftskrise noch verschärfend hinzu!
Von Seiten der nationalsozialistischen Regierung gab es noch eine weitere Reaktion auf den Handelsboykott, die allerdings wieder kaum bekannt ist. Die Rede ist vom sogenannten Haavara-Transfer-Abkommen, das am 7. August 1933 zwischen Vertretern der »Jewish Agency«, der Zionistischen Vereinigung für Deutschland und dem Reichswirtschaftsministerium abgeschlossen wurde.152 »Das Abkommen erleichterte deutschen Juden die Ausreise nach Palästina, indem es ihnen ermöglichte, Teile ihres Vermögens zu transferieren. Das Vermögen war auf ein Treuhandkonto einzuzahlen, um in Form deutscher Waren nach Palästina exportiert und dort in lokaler Währung wieder an die Emigranten ausgezahlt zu werden.«153 Das war eine gegenüber den bis dahin geltenden Bestimmungen für Auswanderer großzügige Regelung. Bis 1939 konnten auf diese Weise 52 000 Juden154 aus Deutschland nach Palästina übersiedeln, es wurden gleichzeitig Werte im Umfang von 140 Millionen Reichsmark transferiert. Eine spätere Untersuchung kommt zu dem Schluss, dass es ohne diesen Zuzug kluger Menschen und den beträchtlichen Strom von Kapital wohl niemals einen Staat Israel hätte geben können.155 Somit hat die nationalsozialistische Politik paradoxerweise dazu beigetragen, das Versprechen der Balfour-Deklaration von 1917 gegen den britischen Willen einzulösen. Und so verläuft die wirkliche Geschichte!
Das Hauptinteresse der deutschen Regierung bestand jedoch darin, den weltweiten jüdischen Boykott zu unterlaufen, und zwar nicht bloß durch die Erweiterung des Exports ausgerechnet nach Palästina, sondern auch durch die ideelle Wirkung des Abkommens auf die Juden in aller Welt.156 Dieser Effekt wurde in gewissem Sinne auch erreicht, denn es kam zu leidenschaftlichen Auseinandersetzungen zwischen Befürwortern und Gegnern des Abkommens – bis hin zum Mord an Chaim Arlosoroff, einem Vertreter der »Jewish Agency«, der das Abkommen mit vorbereitet hatte.157 Die einen sahen keinen besseren Weg, um den deutschen Juden zu helfen, und erkannten den wirtschaftlichen Gewinn für den Aufbau in Palästina. Die anderen bestanden auf Einhaltung des Boykotts und sprachen von einem »Pakt mit dem Teufel«. Auf dem Zionistenkongress in Luzern 1935 stimmte die Mehrheit jedoch der Vereinbarung zu. Als ihre Durchführung 1938 aus verschiedenen Gründen schwierig wurde, war es Hitler persönlich, der ihre Fortsetzung verlangte. Im Januar 1939, also nach dem Novemberpogrom von 1938, kam es auch zu einer neuen Übereinkunft, die aber nicht umgesetzt wurde, weil »Detailfragen« nicht geklärt werden konnten.158 Die Rettung von Menschenleben ist demnach an Detailfragen gescheitert! Wer trägt die Schuld?
Ergänzend sei daran erinnert, dass es natürlich unzulässig ist, die deutsche Politik gegenüber den Juden vor dem Krieg gleichsam als bloße Vorgeschichte des Holocaust zu deuten. Ihr Ziel war eindeutig die Auswanderung, nicht die Vernichtung. Es gab sogar starke Sympathie für die zionistische Bewegung! 1933 schrieb der nationalsozialistische Publizist, Jurist und spätere Professor für Geschichte Johann von Leers, der Grundgedanke der Zionisten sei »gesund und berechtigt«. Würden die Juden unter Aufgabe ihrer Weltherrschaftspläne wirklich in Palästina und anderen Kolonien zu »Pflug, Hacke und Sense« greifen, dann würden die schärfsten Antisemiten ihre Kampfschriften »im Freudenfeuer verbrennen«. Und weiter: »Wir haben – bei allem Radikalismus – niemals den Kampf gegen das Judentum geführt, um das jüdische Volk zu vernichten.«159 Fast spiegelbildlich wollten die Zionisten den Antisemitismus durchaus nicht bekämpfen, sondern begriffen ihn – wie wir oben sahen – als Herausforderung für die Juden, endlich auch zu politischer Selbstständigkeit zu kommen. Im außenpolitischen Realismus stimmten beide Seiten also zunächst durchaus überein und zum Teil sogar in dessen rassistischer Fundierung. Das Problem, das in dieser Übereinstimmung steckte, war freilich die geringe Reichweite und Tragfähigkeit eines solchen »Internationalismus der Nationalisten«. So wäre die »Sympathie« der Nationalsozialisten sicherlich geringer gewesen, hätte es sich nicht um ein kleines, weit entferntes Land gehandelt, sondern um einen gerüsteten Staat mit eigenen, womöglich entgegengesetzten Interessen.
14. Wie der Holocaust instrumentalisiert wird
Über den Holocaust selbst werde ich schweigen, denn das scheint schon bezogen auf die Möglichkeiten, die uns die Sprache bietet, das Beste. Zum Streit der Historiker über die unmittelbaren Ursachen und die historische Einordnung des Geschehens werde ich in den »Notizen« weiter unten noch etwas sagen. Allerdings trägt schon die Debatte der Historiker und noch mehr die öffentliche Behandlung des Themas bestimmte Züge, die einem zu denken geben müssen. Hat das, was da gesagt oder dargestellt wird, überhaupt etwas mit dem, was geschehen ist, zu tun?
Zwei Tatsachen fallen besonders auf: Die »Aufarbeitung« dieser bedrückenden Vergangenheit setzt erst rund 30 Jahre später ein und sie geht hauptsächlich von den Vereinigten Staaten aus, weniger von den Deutschen selbst. Nun fallen uns sicher gleich einige Gründe dafür ein, auf die wir auch noch eingehen werden. Zunächst ist der Sachverhalt aber durchaus ungewöhnlich, weil historische Erschütterungen im Allgemeinen gleich nach ihrem Ende die Menschen am stärksten beschäftigen, um dann im öffentlichen Bewusstsein eine geringere Rolle zu spielen und schließlich aus ihm zu verschwinden. Der amerikanische Historiker Peter Novick hat sich mit diesem paradoxen Sachverhalt befasst und kommt zu dem Ergebnis, dass es in der deutschen Nachkriegsgeschichte und in den USA offenbar ähnlich gewesen ist: Zwar wurde z.B. über die Konzentrationslager berichtet, aber dabei wurden die Juden keineswegs besonders hervorgehoben, sondern galten als Opfer unter anderen. »Nichts also verknüpfte sie mit dem, was heute als ›der