Название | Für ein Ende der Halbwahrheiten |
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Автор произведения | Edelbert Richter |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783948075811 |
Man kann gegen die Herleitung des nationalen Erwählungs- und Sendungsbewusstseins der Neuzeit aus der jüdischen Tradition den Einwand erheben, dass das Judentum selbst doch erst mit dem Zionismus zu einer solchen säkularen Auffassung gekommen sei. Zuvor seien diese Motive immer streng religiös verstanden worden, d.h. die Erwählung blieb immer abhängig vom Willen Gottes, und die Sendung bestand darin, die Menschen für Gott zu gewinnen. Der Zionismus sei daher eine – und zwar relativ späte – Folge des nationalen Erwachens der Neuzeit.72 Das Verhältnis von Ursache und Wirkung in Bezug auf das Judentum und die Nation sei somit in gewisser Hinsicht genau umgekehrt! Meine Antwort lautet zunächst, doch die enge Verbindung von Religion und Volk im Judentum nicht zu vergessen. Beide lassen sich nicht so trennen wie im Christentum. Außerdem haben wir doch gesehen, dass schon zwischen Puritanern und Juden des 17. Jahrhunderts eine weitgehende Übereinstimmung im Messianismus und Chiliasmus bestand, die streng religiöse Deutung der Heilsgeschichte also verlassen worden war. Richtig ist hingegen, dass der Zionismus die Säkularisierung noch weitergetrieben hat und in den Zusammenhang des sich bereits entwickelnden Nationalismus gehört. Aber das schließt ja nicht aus, wiederum nach dessen Wurzeln zu fragen.
Man kann die beiden Positionen, die hier skizziert wurden, widersprüchlich vereint studieren an Izchak Baer (1888–1980), einem bedeutenden Historiker an der Hebräischen Universität in Jerusalem. 1936 veröffentlichte er in Berlin, und wohlgemerkt auf Deutsch, ein Buch mit dem Titel Galut (Exil), in dem es heißt: »Da die Juden eine nationale Einheit bilden, und zwar in weit höherem Grade als die anderen Völker, ist es nötig, dass sie wieder zu einer faktischen Einheit werden. (…) Die jüdische Erneuerung der Gegenwart ist ihrem tiefsten Wesen nach nicht von der nationalen Bewegungen Europas bedingt, sondern sie kehrt zurück zu dem uralten jüdischen Nationalbewusstsein, das vor aller europäischen Geschichte da war und ohne dessen geheiligtes, geschichtsgesättigtes Vorbild kein nationaler Gedanke in Europa vorstellbar ist.«73 Zwar übernimmt Baer den objektiven und sehr ausgeweiteten Begriff der Nation aus der deutschen Tradition des 19. Jahrhunderts und ist insofern gerade ein Kind seiner Zeit. Dennoch ist seiner These abzugewinnen, in welchem Maß das jüdische Religionsvolk mit seiner unverwüstlichen Erinnerung und Hoffnung den modernen Nationen als Vorbild gedient hat. Das gilt für England und die USA unmittelbar und inhaltlich. Für andere Nationen gilt es freilich nur mittelbar, sofern sie ihre Nationalität jedenfalls formal nach dem gleichen Muster entwerfen.74
Wenn wir das noch kurz an Deutschland, der »verspäteten Nation«, illustrieren wollen, so müssen wir einen Sprung ins 19. Jahrhundert machen. Hier ist die Herausbildung des Nationalbewusstseins nicht nur mit der schrittweisen Emanzipation der Juden verbunden, sondern auch mit einer sehr weitgehenden jüdischen Identifizierung mit der deutschen Kultur. Die Juden entdecken eine tiefe Verwandtschaft zwischen ihrer Sehnsucht und der Sehnsucht der Deutschen, und es beginnt die einzigartige jüdisch-deutsche Symbiose, die man sehr ernst nehmen muss, gerade weil sie 1933 so brutal beendet wurde. Oft wird betont, dass die Liebe der Juden zur deutschen Kultur recht einseitig gewesen und von den Deutschen kaum erwidert worden sei. Dabei wird aber der tiefere Einfluss verkannt, den die jüdische Tradition in diesem Prozess immer schon ausgeübt hat, die heimliche Liebe sozusagen, die die Deutschen dem Judentum entgegenbrachten. Sie könnte etwa daran abgelesen werden, dass die Deutschen bereits in der Kindheit mit den Geschichten des Alten Testaments vertraut gemacht wurden. Es war wirklich ein Verhältnis der Gegenseitigkeit. Man kann die Symbiose vielleicht am besten an Johann Gottlieb Fichte studieren, dessen Reden an die deutsche Nation (1807/08) als eine Art Programmschrift des deutschen Nationalismus gelten und heute oft verdammt werden. Wie aber reimt es sich damit, dass Fichte zugleich ein Jahrhundert lang »der bevorzugte Philosoph des Judentums« war, »und zwar in allen seinen Schattierungen«?75 Dass Fichte die Deutschen zum auserwählten Volk erklärte, gleichsam zum neuen Israel, störte dabei durchaus nicht, sondern wurde von den deutschen Juden oft sogar freudig aufgegriffen, weil sie darin eine ihrem eigenen Messianismus verwandte Denkweise entdeckten, selbst keine orthodoxen Juden mehr waren oder tatsächlich gute Patrioten sein wollten (wie etwa Ferdinand Lassalle, über den Fichte auf die deutsche Sozialdemokratie einwirkte). Die Fichte-Rezeption konnte freilich auch dazu führen, dass die eigene Tradition neu entdeckt und erschlossen wurde: »Nur weil wir Fichte hatten, fanden wir die entsprechenden Strömungen der jüdischen Kultur (…), verstanden wir erst das Judentum.«76
Bevor ich auf diesen Punkt zurückkomme, sei noch an Heinrich Heine erinnert, der ja, als er an Deutschland dachte, »um den Schlaf gebracht« war, weil er in dieses Land die größten Hoffnungen setzte und an die Herrschaft seines Geistes über die ganze Welt glaubte. Er erkannte eine »innige Wahlverwandtschaft zwischen den beiden Völkern der Sittlichkeit, den Juden und Germanen«, und hielt beide für »auserwählt«. Denn die Sendung Israels sei noch nicht erfüllt, sie könne aber in Deutschland zur Erfüllung kommen. »Auch Letzteres erwartet einen Befreier, einen irdischen Messias (…), und dieser deutsche Befreier ist vielleicht derselbe, dessen auch Israel harret. (…) O teurer, sehnsüchtig erwarteter Messias. (…) O verzage nicht, schöner Messias, der du nicht bloß Israel erlösen willst (…), sondern die ganze leidende Menschheit!«77
Neben dieser Verbindung beider Kulturen, gab die eine aber auch bisweilen den Anstoß zum Wechsel in die andere. Diesen zunächst schwer begreiflichen, ja prinzipienlos erscheinenden Wechsel vom Glauben an das eine Volk zum Glauben an das andere finden wir in extremer Weise bei Arnold Schönberg. Noch 1919 schreibt er an Richard Dehmel: »Wenn ich an Musik denke, so fällt mir nur die deutsche ein.«78 Dabei müssen wir uns die außerordentliche Bedeutung vergegenwärtigen, die die deutsche Musik in der Welt und folglich für das Selbstbewusstsein der Deutschen erlangt hatte. Von daher ist auch Schönbergs berühmte Äußerung aus dem Jahr 1921 nach der Entwicklung der Zwölftonmusik zu verstehen: »Ich habe eine Entdeckung gemacht, durch welche die Vorherrschaft der deutschen Musik für die nächsten hundert Jahre gesichert ist.«79 Auch seine Schüler Alban Berg und Anton Webern waren beseelt vom Glauben an die Vormachtstellung der deutschen Musik in der Welt. In den 1920er Jahren jedoch beginnt Schönbergs Rückkehr zur jüdischen Tradition und entsprechend überträgt er den Erwählungsgedanken auf das Judentum, was sich z.B. an seinem Drama Der biblische Weg von 1926/27 zeigt. Im Juli 1933 tritt er dann förmlich zum Judentum über, was man als verständliche Reaktion auf die Machtergreifung der Nationalsozialisten deuten kann.
Doch Schönberg beschreibt das Verhältnis zwischen Judentum und Nationalsozialismus genau umgekehrt! In gewisser Hinsicht erklärt er, die Juden seien geradezu selbst schuld an dem, was ihnen widerfährt. So heißt es 1933 in einer Rede: Das Judentum habe »bis zu dieser Stunde nicht begriffen, dass der Antisemitismus nicht die Ursache für die Verfolgung der Juden ist, sondern nur die Auswirkung der jüdischen Existenz als ganzer, das Resultat unseres Glaubens, unserer Auserwählung, die Folge all der Eigenschaften, die wir dank unserem Schicksal und unserem Auftrag besitzen, die verständliche Reaktion auf all die Eigenschaften, die überall und immer in Erscheinung treten, wo Juden leben«.80