Für ein Ende der Halbwahrheiten. Edelbert Richter

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Название Für ein Ende der Halbwahrheiten
Автор произведения Edelbert Richter
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783948075811



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aber ist die US-amerikanische Politik wirklich so weise gewesen, diesen Umstand zu berücksichtigen und ist erst dann, als die deutsche Wirtschaft wieder in Schwung war, mit ihrem moralischen Anliegen an die Deutschen herangetreten? Interessanter wird die Debatte, wenn wir gleich von der westlichen Führungsmacht ausgehen. Denn sie bekam ja bald nach dem Krieg einen neuen Gegner, der sie voll in Anspruch nahm und gegen den sie das deutsche Potential sogar benötigte. Da wäre es nicht klug gewesen, von den Verbrechen der Deutschen zu viel Aufhebens zu machen. Beide, Nationalsozialismus und Sowjetkommunismus wurden ja damals unter dem Namen »Totalitarismus« zusammengefasst, was aber praktisch darauf hinauslief, den Kommunismus als lebendigen, gegenwärtigen Nationalsozialismus zu betrachten! In der Tat war diese Überlegung ein Grund, weshalb die Amerikaner den Holocaust lange nicht besonders hervorhoben. Es kann aber nicht der Grund sein, weshalb sie es in den 1970er Jahren dann doch taten! Denn zu dieser Zeit war der Gegner Sowjetunion ja noch vorhanden und sogar auf dem Gipfel seiner Macht! Die Entspannungspolitik ging zu Ende und der Kalte Krieg lebte allmählich wieder auf. Gerade jetzt hätte es daher nahegelegen, beim schonenden Umgang mit der Vergangenheit des Bündnispartners zu bleiben.

      Eine letzte Erklärung für die Verspätung der Holocaust-Debatte sei noch angeführt, mit der ich mich meiner eigenen These nähere. Gewiss ging es den USA nach dem Krieg auch um die Umerziehung der Deutschen, aber hauptsächlich darum, die Institutionen so zu verändern, dass eine Wiederkehr des Nationalsozialismus unmöglich wurde. Dabei mussten sie aber zwangsläufig an die Weltwirtschaftskrise denken, die den Nationalsozialismus ja erst ermöglicht hatte und unter der sie selbst, trotz »New Deal«, bis zum Kriegsbeginn gelitten hatten. Der Holocaust war aus dieser Sicht vor allem die Folge einer aus den Fugen geratenen Ordnung. In der Nachkriegszeit ging es daher um die Zukunftsorientierung und die Beseitigung der strukturellen Ursachen der Katastrophe, nicht um eine vergangenheitsorientierte Suche nach den persönlich Schuldigen, die mit den Nürnberger Prozessen abgeschlossen war. Diese Zukunftsorientierung zeichnete sich schon mit der Ablehnung des Morgenthau-Plans ab, der Deutschland auf den Status eines Agrarstaates zurückgeworfen hätte, während der schließlich mit dem Marshall-Plan eingeschlagene Weg bald für neues wirtschaftliches Wachstum sorgte. Die USA wollten nicht den Fehler des Versailler Vertrags wiederholen und Deutschland politisch abstrafen, sondern, von Keynes inspiriert, ökonomisch fördern.

      Doch warum erzähle ich das? Weil eben diese Orientierung in den 1970er Jahren aufgegeben wurde! Deswegen muss man die 1970er Jahre und die Lage, in der sich die USA samt Israel damals befanden, genauer ins Auge fassen, wenn man die sogenannte »Holocaust-Kultur« verstehen will. Diese Zeit war in fast jeder Hinsicht eine Umbruchzeit, die unser Leben bis heute prägt.

      Der Umbruch begann mit der bis dahin wohl massivsten Infragestellung der westlichen Zivilisation und diese Infragestellung erfolgte gleichzeitig durch den Osten, den Süden und, was noch hinzukommt, durch die Umweltkrise. Die Sowjetunion befand sich auf dem Höhepunkt ihrer militärischen Macht und ihres Einflusses in der Welt. Die Entwicklungsländer erreichten den höchsten Grad an Geschlossenheit, konnten mit den Ölpreiserhöhungen empfindlichen Druck ausüben und begannen sich fundamentalistisch vom westlichen Modernisierungsmodell abzuwenden, wie der Iran mit der Islamischen Revolution 1979. Die natürlichen Grenzen des wirtschaftlichen Wachstums wurden erkannt, die berühmte Studie des »Club of Rome« erschien bereits 1972.

      Gegen Ende der 1970er Jahre kam es zur tiefsten Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg. In den USA löste das alles »dunkle und namenlose Ängste aus«, wie es der Ökonom Robert Heilbroner ausdrückte, denn ihre Hegemonie war im Niedergang begriffen. Daran muss man sich erinnern, wenn man verstehen will, wieso die Sinnlosigkeit des Holocaust überhaupt in den Blick kommen konnte. Alles, was man nach dem Sieg über den Nationalsozialismus erreicht hatte, schien jetzt wieder verloren zu gehen! Aber wir haben ja schon gesehen, wie der Vorposten des Westens Israel die gefährliche Situation von 1973 gemeistert hatte. So konnte er dem Holocaust den Sinn geben, nur die dunkle Nacht zu sein, aus der man zu einem neuen Tag emporsteigt. Sollten das die USA und der Westen nicht auch schaffen? In der Tat hat die westliche Führungsmacht seit Ende der 1970er Jahre auf die genannten Herausforderungen mit aller Härte reagiert:

      –sozialökonomisch durch die neoliberale Abkehr von Wohlfahrtsstaat, Nachfragestimulierung, niedrigen Zinsen und die Hinwendung zur Eigendynamik des Marktes, Angebotsökonomie, Hochzinspolitik;

      –außen- und sicherheitspolitisch durch gewaltige Rüstungsanstrengungen und den Übergang von der atomaren Abschreckung zur Strategie eines begrenzten, darum führbaren und gewinnbaren Atomkriegs;

      –entwicklungspolitisch durch den Abbruch des eine neue Weltwirtschaftsordnung anstrebenden Dialogs mit der sogenannten Dritten Welt und die Ausnutzung ihrer Schuldenkrise, um sie zur inneren, strukturellen Anpassung an den Weltmarkt zu zwingen;

      –umweltpolitisch durch den Schritt von der Erkenntnis zur Leugnung oder bloß kosmetischen Berücksichtigung der Umweltkrise;

      –ideell bzw. ideologisch durch den Rückgriff auf die Aufstiegszeit der USA vor der Großen Depression, durch Abkehr von der aufgeklärten Vernunft und Hinwendung zu Fundamentalismus, Unduldsamkeit und Kreuzzugsstimmung.

      Der Abschied vom »Goldenen Zeitalter« (Hobsbawm), der damit eingeleitet wurde, bedurfte der Rechtfertigung, und in diesem Zusammenhang wurde das Symbol »Holocaust« wichtig, eben als Symbol für die Bedrohung des Westens, die er aber siegreich bestehen würde. Es erfüllte dabei gleichzeitig verschiedene Funktionen. Der Bezug zum Nationalsozialismus war nicht nur durch Israel hergestellt, sondern es ging ja um die Rettung der amerikanischen Hegemonie und eine Restauration der ökonomischen Verhältnisse, wie sie in der Zeit des Aufstiegs der USA bestanden hatten. Das waren aber die Verhältnisse, die zur Großen Depression geführt hatten, und daraufhin zum Dritten Reich, das den USA am stärksten Widerstand geleistet hatte! Wenn man nun diese abenteuerliche Rückkehr vollzog, war dann nicht in der Zukunft mit ähnlichen Krisen zu rechnen und folglich mit ähnlichem Widerstand? In der Tat haben wir seitdem geradezu eine Konjunktur von Krisen erlebt und ein Ausmaß von Terror, wie man es sich damals noch gar nicht vorstellen konnte. Die Beschwörung des Holocaust enthielt zugleich die Mahnung an die Bündnispartner: Wer von der neuen Orientierung abweicht, begibt sich auf einen ähnlichen Weg wie die Nationalsozialisten und droht am Ende dort zu landen, wo sie gelandet sind, beim radikal Bösen.174

      Diese Gefahr der Abweichung zeigte sich bei den Deutschen bzw. den Europäern in der Tat immer wieder. Während die USA Israel mit Waffen unterstützten, forderte die EG Ende der 1970er Jahre die Schaffung eines palästinensischen Staates. Und als die USA mit einigen anderen Ländern 1980 wegen des sowjetischen Einmarschs in Afghanistan die Olympischen Spiele in Moskau boykottierten, taten das die meisten europäischen Staaten durchaus nicht und Deutschland nur sehr widerwillig. Erst recht distanzierte sich die Mehrheit der Europäer von der nachfolgenden Politik Ronald Reagens gegen das »Reich des Bösen«.

      In Bezug auf Deutschland musste jene Mahnung, bei der Stange zu bleiben, besonders dringlich sein, aber eben nicht wegen der Größe seiner Schuld, sondern wegen seiner wiedererlangten Wirtschaftskraft. Sie wurde schon damals als bedrohlich wahrgenommen, weshalb Helmut Schmidt um die europäische Einbindung bemüht war.175 Nicht erst angesichts der Wiedervereinigung, sondern schon zuvor erlebte man in England unter Margaret Thatcher, also seit 1979, »mehr offen antideutsche Vorurteile unter den Regierenden (…) als zu jeder anderen Zeit seit 1945«.176 Die These über den Kontext, in dem die Bezugnahme auf den Holocaust steht, wird nicht zuletzt dadurch bestätigt, dass der Nachrüstungsbeschluss der NATO genau 1979 gefasst wurde. Damit gerieten die beiden deutschen Staaten aber in die gefährliche Situation, mögliches Schlachtfeld eines begrenzten Atomkriegs zu werden. Für das sich damit abzeichnende finis Germaniae schien die deutsche Schuld aber eine überzeugende Begründung zu liefern. Christa Wolf hat sie damals in dem lapidaren Satz zusammengefasst: »Hitler hat uns eingeholt.«177

      Um schließlich auf Israel zurückzukommen, von dem wir ausgegangen sind: Wie lässt sich seine Funktion bei der Erhaltung der amerikanischen Macht beschreiben? Abgesehen von geostrategischen Erwägungen haben die USA auch ein eminent legitimatorisches Interesse an Israel. Der kleine Bruder bringt mit seiner leidvollen Vorgeschichte so viel an moralischem »Kapital« mit, wie es die USA allein beim besten Willen nicht vorweisen können. Je höher