Für ein Ende der Halbwahrheiten. Edelbert Richter

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Название Für ein Ende der Halbwahrheiten
Автор произведения Edelbert Richter
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783948075811



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er Anfang der 1840er Jahre über die Bewegung »Junges England« den Einstieg in die Politik fand. Wobei das »Jung« nicht missverstanden werden darf, denn die Bewegung war gegen die Reformen der Whigs und den voranschreitenden Kapitalismus gerichtet und setzte auf eine Erneuerung des Adels und des christlich-mittelalterlichen Geistes. Ihre Ziele hat Disraeli in klassischer Weise zusammengefasst: »Die Oligarchie rückgängig machen und durch eine hochherzige Aristokratie ersetzen, die um einen wahren Thron versammelt ist; die Kirche mit neuem Leben und neuer Kraft erfüllen, damit sie wieder als Erzieher der Nation wirken kann; (…) den körperlichen und den moralischen Zustand des Volkes heben, indem statuiert wird, dass die Arbeiter ebenso geschützt werden müssen wie der Besitz; und das alles, indem historische Formen zur Anwendung gelangen und die Vergangenheit in ihre alten Rechte eingesetzt wird, und nicht durch politische Revolutionen, die in abstrakten Ideen wurzeln.«114

      In der Bewunderung »echten« Adels, die Disraeli empfand, steckte der Rassegedanke, der allerdings im elitären Judentum nach seiner Meinung noch besser verwirklicht war.115 Er selbst erhielt später (1876) auch die Peerswürde mit dem Titel eines Earl of Beaconsfield. Was im Text anklingt, hat er als Führer der Tories tatsächlich umgesetzt, nämlich die Partei für die soziale Frage zu öffnen. Die Kehrseite der Stabilisierung im Innern war jedoch, dass er als Premier eine aktive imperialistische Außenpolitik betreiben konnte. Und zwar wieder – was oft vergessen wird – mit restaurativer Legitimation. Der Westen müsse sich durch Rückkehr zu den orientalischen Wurzeln der Religion geistig erneuern! Daher der Erwerb der Suez-Kanal-Aktien, die Einmischung in die Balkankrisen und die kuriose Erhebung Königin Victorias zur Kaiserin von Indien.116 Von irgendeiner Form jüdischer Weltherrschaft hat Disraeli offenbar lebenslang geträumt. Schon in seinem ersten Roman Alroy (1833) spielt eine abgesonderte jüdische Herrscherkaste eine Rolle, später ist vom jüdischen Geld die Rede, das über den Aufstieg und Fall der Reiche entscheidet oder von allen möglichen Geheimgesellschaften, die von Juden umtriebig geleitet werden.117 »Es ist verblüffend, zu sehen, wie vollständig dies später von den Antisemiten entworfene Bild einer jüdischen Weltherrschaft sich bereits in Disraelis Kopfe malte. Es fehlte nicht einmal der geschickteste aller Hitlerschen Propagandatricks, die Behauptung eines geheimen Bündnisses zwischen jüdischen Kapitalisten und Sozialisten.«118

      Wenn Hannah Arendts These zutrifft, dass Disraeli der erste Europäer war, der das Rasseprinzip vertreten hat, und zwar radikaler und konsequenter als seine Nachfolger, so fragt man sich allerdings, warum er in neueren einschlägigen Werken über Rassismus (Imanuel Geiss, George M. Fredrickson) als solcher überhaupt nicht erwähnt wird. Und warum kommt er, obwohl doch recht prominent, auch in neueren Geschichten des Judentums (Michael Brenner, Martin H. Jung) gar nicht vor? Oder warum wird er in der Neuauflage des Jüdischen Lexikons zwar behandelt, aber ohne den geringsten Hinweis auf sein Rassedenken? Das kann nicht bloße Unkenntnis sein, da ist die bewusst selektive Wahrnehmung am Werk, von der eingangs die Rede war. Hätten wir nicht die redliche Hannah Arendt, so würden wir über diesen Propheten des Rassismus wohl kaum noch etwas erfahren.

      10. Weitere jüdische Vertreter der »Blutsgemeinschaft«

      Einen weiteren frühen Rasseideologen auf jüdischer Seite erwähnt allerdings auch Hannah Arendt nicht. Er ist durchaus nicht weniger prominent als Disraeli, nur gehört er nicht zur konservativ-restaurativen Strömung des 19. Jahrhunderts, sondern zunächst zur revolutionär-kommunistischen. Nach dem Scheitern der Revolution von 1848 emigrierte er aus Deutschland nach Frankreich und kam nach dem Studium der anwachsenden Literatur über die menschlichen Rassen zu dem Ergebnis, dass sich hier eine viel tiefere Dimension auftat als die politische und soziale. Die Rede ist von Moses Hess (1812–75), der eine Zeit lang mit Marx befreundet war und nun in seinem Buch Rom und Jerusalem (1862) schrieb: »Hinter den Nationalitäts- und Freiheitsfragen, welche heute die Welt bewegen, birgt sich eine noch weit tiefere, durch keine allgemeinen philanthropischen Redensarten zu beseitigende Rassenfrage (…), die, so alt wie die Geschichte, erst gelöst sein muss, bevor an eine definitive [sic] Lösung der politisch-sozialen Probleme weitergearbeitet werden kann.«119 Man konnte also auch von links her zur Rassenlehre kommen, freilich aufgrund des Scheiterns des eigenen Engagements und des Versuchs, die Ursachen zu erkennen. Offenbar war es der linke und jüdische Internationalismus, der da infrage gestellt war und nun ins Gegenteil eines extremen Nationalismus umschlug. »Die jüdische Rasse ist eine ursprüngliche, die sich trotz klimatischer Einflüsse in ihrer Integrität reproduziert. Der jüdische Typus ist sich im Laufe der Jahrhunderte stets gleichgeblieben.« Es helfe »den Juden und Jüdinnen nichts (…), durch Taufen und Untertauchen in das große Meer der indogermanischen und mongolischen Stämme ihre Abstammung zu verleugnen. Der jüdische Typus ist unvertilgbar. Er ist auch unverkennbar«.120 Zwar betont Hess auch die Bedeutung der Religion für das jahrtausendlange Bestehen dieses Volkes. Am Ende aber war sie für ihn doch nie etwas anderes »als ein aus Familientraditionen sich fortbildender nationaler Geschichtskultus«.121

      Mit Moses Hess war wiederum Heinrich Graetz (1817–91) eng befreundet, der Verfasser der großen, umfangreichen und schulbildenden Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart (die ab 1853 erschien). Er war zwar kein Rassist, provozierte aber mit bestimmten polemischen Äußerungen Heinrich von Treitschke so sehr, dass es darüber 1879 zu dem bekannten Berliner Antisemitismusstreit kam. Treitschke schrieb in den Preußischen Jahrbüchern: »Man lese die Geschichte der Juden von Graetz: welche fanatische Wuth gegen den ›Erbfeind‹, das Christentum, welcher Todhaß grade wider die reinsten und mächtigsten Vertreter germanischen Wesens, von Luther bis herab auf Goethe und Fichte! Und welche hohle, beleidigende Selbstüberschätzung!«122 Graetz aber blieb in seiner Antwort an Schärfe nicht hinter dem deutschen Historiker zurück, sondern zitierte am Ende genau den Satz von Disraeli, den wir oben schon kennengelernt haben: »Sie können nicht eine reine Rasse von kaukasischer Organisation zerstören. Es ist ein physiologisches Factum, ein Naturgesetz, welches die egyptischen und assyrischen Könige, römische Kaiser und christliche Inquisitoren beschämt hat. Kein Strafgesetz, keine physische Tortur kann bewirken, dass eine höhere Rasse von einer niederen aufgesogen oder zerstört werde.«123

      Dieser unerquickliche Streit sei erwähnt, weil die heutige selektive Geschichtsschreibung nur den bösen Antisemiten Treitschke kennen will, nicht aber Graetz, obwohl dieser in seinem völkischen Nationalismus ganz »ähnliche, bisweilen sogar identische Standpunkte formulierte«.124 Auch Treitschke war übrigens kein Rassist, wie etwa Stöcker, er drängte nur darauf, dass die Juden sich wirklich als »deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens«, wie es seit 1893 hieß, verstanden, nicht als Nation in der Nation.125

      Weil der Zionismus, auf den ich gleich komme, stark vom Blut und Boden-Motiv geprägt war, will ich zeitlich etwas vorgreifen und hier noch auf Franz Rosenzweig hinweisen, der die Grundlage jüdischer Identität allein im Blut sah. Zugleich zögere ich, die entsprechenden Sätze von ihm zu zitieren und ihn als Rassenlehrer einzuordnen, weil sein Personalismus sehr anregend auf die christliche Theologie gewirkt hat. Aber seine Äußerungen sind ein weiterer Beleg dafür, wie lebendig der Gedanke des Bluts im Judentum war. So heißt es in Der Stern der Erlösung (1921) von den anderen Völkern, sie könnten »sich nicht genügen lassen an der Gemeinschaft des Blutes; sie treiben ihre Wurzeln in die Nacht derselben toten, doch lebensspendenden Erde und nehmen von ihrer Dauer Gewähr der eigenen Dauer. Am Boden und an seiner Herrschaft, dem Gebiet, klammert sich ihr Wille zur Ewigkeit fest (…). Wir allein vertrauten dem Blut und ließen das Land; also sparten wir den kostbaren Lebenssaft, der uns Gewähr der eigenen Ewigkeit bot, und lösten allein unter den Völkern der Erde unser Lebendiges aus jeder Gemeinschaft mit den Toten. Denn die Erde nährt, aber sie bindet auch (…) Und die Heimat, in die sich das Leben eines Weltvolkes einwohnt und einpflügt (…) – dem ewigen Volk wird sie nie in solchem Sinn eigen (…).«126

      11. Der Zionismus: »typisch deutsch«

      Man kann nun mit guten Gründen behaupten, dass die Integration der Juden im Wilhelminischen Reich doch in großem Umfang gelungen war. Denn gegen Ende des Jahrhunderts verlor der Antisemitismus wieder an