Für ein Ende der Halbwahrheiten. Edelbert Richter

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Название Für ein Ende der Halbwahrheiten
Автор произведения Edelbert Richter
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783948075811



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so tiefe Ursachen hatte, wie wir vielleicht vermuten. So habe David Ben Gurion versucht, die Bedeutung des Völkermords herunterzuspielen, weil er sich Sorgen machte, dass für die Besiedelung Israels nicht mehr genug Leute vorhanden sein würden. Und die wichtigsten jüdischen Organisationen in den USA stimmten nach dem Krieg dreimal gegen den Vorschlag, in New York ein Denkmal für die ermordeten Juden zu errichten, weil sie befürchteten, von ihren Mitbürgern dann nur noch als Opfer angesehen zu werden. Ein »ewiges Denkmal der Schwäche und Wehrlosigkeit des jüdischen Volkes« sei nicht in ihrem Interesse.161

      Diese Haltung änderte sich erst mit dem Sechstagekrieg (1967) und zumal mit dem Jom-Kippur-Krieg (1973) – allerdings, wie wir gleich hinzufügen müssen, keineswegs grundlegend. Denn in diesen Kriegen zeigte sich zwar einerseits die anhaltende Gefährdung Israels, andererseits aber auch seine beeindruckende Stärke und Wehrhaftigkeit. Nach den militärischen Siegen konnte man die bisherige Verlegenheit und Scham hinter sich lassen und zu einem neuen nationalen Selbstbewusstsein kommen. So entstand kurz nach dem Krieg 1973 die Bewegung der »Gusch-Emunim« (Block der Gläubigen), die an die Stelle des Rechtsbegriffs »Staat Israel« den biblischen Begriff »Eretz Israel«, also »Land Israel« setzte, die militärische Gebietseroberung auf den Alten Bund zwischen Gott und dem erwählten Volk zurückführte und mit der illegalen Besiedlung dieser Gebiete begann.162 1977 wurde dann die seit der Staatsgründung regierende Arbeiterpartei erstmals durch den konservativen Likud-Block abgelöst.

      Das jüdische Volk war gleichsam wieder auferstanden, und nun war es möglich, mit dem Holocaust »etwas anzufangen«, ihn nämlich als negative Folie und Voraussetzung dieser nationalen »Auferstehung« zu interpretieren, als »Kreuzigung«, die der Auferstehung vorausgegangen war.163 Mit anderen Worten: Dem Holocaust wurde jetzt ein »Sinn« zugesprochen im Rahmen einer Heilsgeschichte, die von der säkularen Geschichte des Staates gar nicht mehr zu unterscheiden war. Zu dieser geschichtlich-übergeschichtlichen Logik passte es auch, dass der Holocaust nicht bloß als Ereignis der Vergangenheit, sondern als immer noch gegenwärtige Bedrohung gedeutet werden konnte. So hat Menachem Begin, israelischer Ministerpräsident von 1977 bis 1983, die Palästinensische Befreiungsbewegung (PLO) als »neonazistische Organisation« bezeichnet,164 später galt Saddam Hussein als neuer Hitler und nahm andererseits der iranische Ministerpräsident den Ball auf, indem er den Holocaust glatt leugnete.

      Wenn aber der Nationalsozialismus eine noch gegenwärtige, lebendige Bedrohung ist, dann – so könnte man schließen – müsste es eigentlich auch die jüdische Rasse noch geben, sonst liefe der Nationalsozialismus ja ins Leere, weil ihm sein spezifischer Feind fehlt. Wir vermeiden diese Schlussfolgerung, weil wir von der Rassenlehre schlicht nichts halten und der Meinung sind, dass sie spätestens seit 1945 bzw. seit der UNESCO-Erklärung von 1950 wissenschaftlich erledigt ist. Das sieht jedoch ein beachtlicher Teil der Wissenschaft in Israel anders!

      Zahlreiche israelische Wissenschaftler halten diese Fiktion weiterhin aufrecht – in den 1960er Jahren eher noch unauffällig, seit den 1970er Jahren jedoch ganz offen. Eine Professorin der Universität Tel Aviv hat 1980 geschrieben: »In den Siebzigerjahren wurden viele neue Arbeiten auf dem Gebiet der anthropologischen Genetik der Juden veröffentlicht, Arbeiten, die vor allem Fragen stellen wie ›Was ist die Herkunft des jüdischen Volkes?‹ und ›Existiert eine jüdische Rasse?‹ (…) Eines der klaren Ergebnisse ist die genetische Nähe von nordafrikanischen, irakischen und aschkenasischen Juden. In den meisten Vergleichsstudien stellen sie eine Einheit dar, während die Nichtjuden (Araber, Armenier, Samaritaner und Europäer) ihnen fernstehen.«165 An den Hochschulen kam es zur Gründung einer neuen Disziplin, der »Genetik der Juden«, und Israel wurde führend in der biologischen Erforschung der Herkunft von Bevölkerungsgruppen. Die Suche nach dem »jüdischen Gen« wurde forciert und das öffentliche Interesse daran nahm ständig zu. »Zum Ende des 20. Jahrhunderts hin wusste jeder Durchschnittsisraeli, dass er zu einer einheitlichen Blutsgemeinschaft gehörte, die einen mehr oder weniger homogenen, tief in der Vergangenheit liegenden Ursprung hat.«166 Warum entlarvt die israelische Wissenschaft, jedenfalls ein dominierender Teil von ihr, nicht mit Entschiedenheit diese »Idee«, die ja in der arabischen Umwelt tatsächlich eine gewisse Rolle spielt, sondern pflegt sie selber? Folgt die Wissenschaft damit dem zionistischen Schema, das wir schon kennengelernt haben und demzufolge der Antisemitismus nicht bekämpft, sondern als Herausforderung angenommen wird? Braucht Israel eine echte Bedrohung, um daraus seine Helden-Identität zu gewinnen? Oder glaubt man umgekehrt tatsächlich daran, derart biologisch »auserwählt« zu sein und fühlt sich von den Nichterwählten bedroht? Wir wissen es nicht. Wir wissen nur, dass Frieden so nicht zustande kommt.

      Auch in den USA führte die Begeisterung für das heldenhafte Israel zu einer Verschmelzung von Solidaritätsbekundung und religiösem Bekenntnis.167 Aufgrund der puritanischen Tradition und des wachsenden Fundamentalismus konnten sich auch die Christen dieser Koppelung leicht anschließen. So wurde »der Holocaust« zum festen Bestandteil der amerikanischen Zivilreligion und bald ausgeweitet zum Symbol für das Böse schlechthin, dem die guten USA mit Israel an ihrer Seite bekanntlich immer entgegentreten.168 Seitdem muss jeder in der Welt aufpassen, dass er nicht als Neonazi oder Antisemit entlarvt wird. Nach einer Umfrage aus dem Jahre 1995 scheinen die US-Amerikaner auch weit besser über den Holocaust Bescheid zu wissen als über Pearl Harbour oder die Atombombenabwürfe auf Japan.169 Man spricht inzwischen sogar von einer ganzen Holocaust-»Kultur« und Holocaust-»Industrie«, so Norman Finkelstein in einem Interview aus dem Jahr 2002, denn mit der Präsentation dieses »sensationellen« Verbrechens lässt sich natürlich – wie mit harten Krimis – auch viel Geld verdienen.

      In Deutschland schließlich hatte es zwar schon die Auschwitz-Prozesse von 1963–65 und das darauf bezogene Theaterstück Die Ermittlung von Peter Weiss gegeben (1965), aber im Gegensatz zu derart anspruchsvollen oder wissenschaftlichen Veröffentlichungen zum Thema170 erreichte erst die in Deutschland 1979 ausgestrahlte Fernsehserie Holocaust eine breite Wirkung in der Bevölkerung. 1968 besuchten nur 471 Schulgruppen die Gedenkstätte des KZ Dachau, Ende der 1970er Jahre waren es dagegen mehr als 5 000.171 Die Serie war allerdings ein typisches Produkt des kommerziellen US-Fernsehens bzw. eben jener »Holocaust-Kultur«. Namhafte deutsche Regisseure wie Hans-Jürgen Syberberg und Edgar Reitz erhoben daher Einspruch gegen diese Art der Beeinflussung der Deutschen. Hier würden sie ihrer Geschichte beraubt, anstatt sich mit ihr auseinandersetzen zu können.172 Der Vorgang wiederholte sich in gewisser Hinsicht in den 1990er Jahren mit Daniel Goldhagens Buch Hitlers willige Vollstrecker (1996). Es wurde schnell zum Bestseller, aber die Fachhistoriker distanzierten sich weithin. Gegen Ende der Debatte um das Buch stellte Hans Mommsen zugespitzt fest: »Mir ist jetzt klarer, warum die Deutschen Hitler gewählt haben«, die Zustimmung zu Goldhagen sei als »Zeichen eines neuen Irrationalismus« zu werten, als »verdrehtes Nationalgefühl, das sich über Schuldbekenntnisse artikuliert«.173

      15. Funktionen des Symbols »Holocaust« seit dem Umbruch der 1970er Jahre

      Was sind nun die Gründe dafür, dass der Holocaust erst nach etwa 30 Jahren zum öffentlichen Thema wurde und seine Thematisierung hauptsächlich von den USA ausging? Eine naheliegende Erklärung ist, dass die Deutschen ihre Schuld zunächst gar nicht erkannt, sie bagatellisiert oder geleugnet haben, weil sie noch in der nationalsozialistischen Ideologie befangen waren oder weil sie sich so verhielten, wie die meisten Menschen, denen es ja auch nicht leichtfällt, eine Schuld einzugestehen. Diese Erklärung trifft sicher zu, sie reicht jedoch nicht aus! Denn wir sahen ja, dass die Amerikaner ebenfalls kein Interesse zeigten, die besondere Bedeutung der Judenvernichtung zu betonen, und dass die Juden selbst den Holocaust als peinliche Niederlage empfanden. Etwas abgewandelt lautet die Erklärung, dass die Schuld zunächst »verdrängt« wurde, weil sie zu groß und ungeheuerlich war. Demnach müsste sie aber im Unbewussten weitergewirkt haben, sich in psychischen Erkrankungen gewaltsam Ausdruck verschafft haben, bis schließlich die USA gleichsam als Psychiater sich der geplagten Deutschen annahmen und eine analytische Behandlung einleiteten! Doch dies nur als wenig überzeugende Karikatur.

      Eine weitere These besagt, dass es sich in der Nachkriegszeit um ein sozusagen normales, gesundes Vergessen der Schuld handelte, weil man nach dieser Katastrophe