Название | Für ein Ende der Halbwahrheiten |
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Автор произведения | Edelbert Richter |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783948075811 |
Umso mehr ist man dann allerdings erschüttert, in diesem Buch auch ganz andere Dinge zu lesen, nicht nur die Darstellung geschehener Grausamkeiten und anderer den Geboten widersprechender Taten, sondern die ausdrückliche Aufforderung dazu an das Volk Israel! Dies ist dem Umstand geschuldet, dass wir es hier mit dem Dokument einer Volksreligion, nicht einer Weltreligion zu tun haben. Dieser fundamentale Unterschied wird heute gern bagatellisiert, und zwar nicht nur, weil das Alte Testament so befruchtend auf Christentum und Islam gewirkt hat, sondern auch wegen der Leidensgeschichte der Juden, schon unter christlicher, insbesondere aber unter nationalsozialistischer Herrschaft. Die Verwischung des Charakters als Volks- bzw. Weltreligion ist zwar als Reaktion nachvollziehbar, ändert aber nichts an jenem fundamentalen Unterschied, der ja gerade heute, da es um die Einheit der Menschheit geht, an Bedeutung gewinnt. »Hier gilt nicht Jude noch Grieche, nicht Sklave noch Freier, nicht männlich noch weiblich, sondern ihr seid alle einer in Christus Jesus.«26 So lautet die Losung einer Weltreligion. Wo aber ein Volk sich exklusiv als von Gott erwählt versteht, da müssen die anderen als zweitrangig oder gar verworfen gelten, das besagt die schlichte Logik. Diese Logik bleibt auch dann bestehen, wenn die Erwählung nicht bloß als Auszeichnung, sondern zumal als schwere Aufgabe verstanden wird; oder wenn sie als Trost für ein politisch gescheitertes und unterdrücktes Volk erscheint.
Das Erwählungsbewusstsein hat natürlich praktische Konsequenzen. So können noch im heutigen Israel, das als säkularer Staat konzipiert war, Religion und Politik nicht klar getrennt werden, weil eben der Grund der Trennung, ein universaler Anspruch der Religion gegenüber dem partikularen Staat, nicht vorhanden ist. Entsprechend werden die äußeren Konflikte, die der Staat auszutragen hat, sehr schnell die Form von heiligen Kriegen annehmen. Denn es geht dabei nicht nüchtern um das Zusammenleben auf dieser Erde, sondern immer zugleich um letzte Fragen.
2. Was wir heute Völkermord nennen
Damit sind wir schon bei einer ersten Forderung, die im Alten Testament erhoben wird und die den Geboten des Dekalogs vollkommen widerspricht: »Aber in den Städten dieser Völker hier, die dir der HERR, dein Gott, zum Erbe geben wird, sollst du nichts leben lassen, was Odem hat, sondern sollst an ihnen den Bann vollstrecken, nämlich an den Hetitern, Amoritern, Kanaanitern, Perisitern, Hiwitern und Jebusitern, wie dir der HERR, dein Gott, geboten hat (…).«27 An anderer Stelle heißt es: »Du wirst alle Völker vertilgen, die der HERR, dein Gott, dir geben wird.«28 Oder: »Dazu wird der HERR, dein Gott, Angst und Schrecken unter sie senden, bis umgebracht sein wird, was übrig ist und sich verbirgt vor dir. Lass dir nicht grauen vor ihnen; denn der HERR, dein Gott, ist in deiner Mitte, der große und schreckliche Gott. Er, der Herr, dein Gott, wird diese Leute ausrotten vor dir, einzeln nacheinander.«29 Oder: »So zieh nun hin und schlag Amalek und vollstrecke den Bann an ihm und an allem, was es hat: verschone sie nicht, sondern töte Mann und Frau, Kinder und Säuglinge, Rinder und Schafe, Kamele und Esel.«30
Es ist gar keine Frage – was Jahwe hier als »Bann« (Aussonderung) gebietet, würde man heute als Völkermord bezeichnen. Freilich dürfen wir unsere Begriffe und Vorstellungen, etwa des Völkerrechts, nicht auf diese weit zurückliegende Vergangenheit übertragen, stattdessen müssen wir zunächst verstehen, wie damals gedacht wurde. Die Massaker wurden nämlich als kultische Opferhandlungen aufgefasst. Dem Gott, der den Sieg gebracht hatte, wurden die Besiegten samt Frauen, Kindern und Besitz dankbar geopfert und damit übereignet. Dies geschah offenbar, um den Gott günstig zu stimmen, damit er weitere Siege ermöglichte. Denn von ihm war nach damaliger Auffassung letztlich der Kriegsverlauf abhängig. Eigentlich war er es, der primär kämpfte, während das Volk nur sein Werkzeug und dessen Kampf nur sekundär war. Dies erklärt auch das aus ökonomischer Sicht Sinnlose dieses Abschlachtens, der Verzicht auf Beute und auf Versklavung der Unterworfenen, was mit einiger moralischer Anstrengung als die positive Seite der Sache betrachtet werden kann. Sinnlos erscheint uns aber ebenso, dass Leben – wie auch bei anderen Opfergaben – vernichtet werden musste, wenn es dem Gott übereignet werden sollte. Ist denn nicht ohnehin alles Gottes Eigentum? Bedarf Gott der Tötung von Mensch und Tier und hat sogar Freude daran, während er andererseits doch den Schutz alles Lebendigen fordert?!
Aber dieser Widerspruch erklärt sich daraus, dass wir es eben mit dem einen Gott eines Volkes zu tun haben, nicht mit dem Gott der gesamten Menschheit. Sein Schutz gilt nur dem Volk seines Eigentums, fremde Völker können, eben weil sie fremd sind, nur durch Auslöschung sein Eigentum werden.
Es gibt nun verschiedene Möglichkeiten, mit diesen mehr als anstößigen biblischen Aussagen zurechtzukommen. Eine Möglichkeit, an ihnen vorbei- oder um sie herumzukommen, besteht allerdings nicht. Denn sie finden sich gerade im Deuteronomium, der unbestrittenen Mitte des Alten Testaments, und darüber hinaus recht zahlreich in anderen Büchern (Numeri, Josua, Samuel), insgesamt an rund 70 Stellen.31
Ein verbreitetes und notwendiges hermeneutisches Verfahren besteht darin, inhaltlich zwischen Zentrum und Peripherie der biblischen Botschaft zu unterscheiden und jene Aussagen dann der Peripherie zuzuweisen. Notwendig ist dieses Verfahren, weil gerade die Texte über die Landnahme der Israeliten in der neuzeitlichen Geschichte eine unheilvolle Wirkung entfaltet haben,32 indem man gerade sie als zentral ansah oder indem man es in fundamentalistischer Weise überhaupt ablehnte, zwischen Zentrum und Peripherie zu unterscheiden und alle Aussagen der Bibel als gleichwertige Offenbarung nahm.
Dennoch halte ich jenes Verfahren in diesem Fall für fragwürdig, und zwar aus einem einfachen logischen Grund: Kann denn etwas Peripheres im strikten Widerspruch zu seinem Zentrum stehen? Offensichtlich nicht, denn das Periphere ist zwar das weniger Wichtige, aber doch positiv aufs Zentrum bezogen. Ähnlich verhält es sich, wenn man davon ausgeht, dass es eine geschichtliche Entwicklung im Gottes- wie auch im Rechtsverständnis gegeben hat. Dann zählt man die anstößigen Aussagen zur Vorgeschichte und lässt die eigentliche, uns betreffende Geschichte etwa erst mit den großen Propheten beginnen. Nur gerät man dabei in die Schwierigkeit, doch eine Kontinuität zwischen beiden annehmen zu müssen. Was hat aber der Gott, der von uns Feindesliebe verlangt, noch mit jenem Volks- und Kriegsgott gemein?
Eine weitere Möglichkeit, mit den unsäglichen Texten umzugehen, besteht darin, dass man nach gründlicher Forschung zu dem Schluss kommt, dass nichts so heiß gegessen wird, wie es gekocht wurde. Erstens geben antike Berichte die historische Realität meist ohnehin nicht getreu wieder, sondern übertreiben gewaltig. Zweitens kann man sich die Landnahme der Israeliten schon aufgrund der Kräfteverhältnisse zwischen ihnen und den entwickelten kanaanäischen Städten nur als einen allmählichen und im Wesentlichen doch friedlichen Prozess vorstellen.33
Gegen diese These spricht freilich, dass am Ende des angeblich friedlichen Prozesses doch das Davidische Großreich stand. Es gibt aber wohl kein Beispiel in der Geschichte, wo ein ähnliches Reich ohne massive Gewalt zustande gekommen wäre. Andrerseits kennen wir viele Beispiele dafür, dass »barbarische« Völker in eine entwickelte, aber kriegsmüde gewordene Zivilisation eingefallen sind, sie trotz ihrer geringeren technischen Rüstung aufgrund ihrer größeren Opferbereitschaft bezwungen und dann überschichtet haben. So ist denn auch die Theorie, dass es sich sehr wohl um eine Eroberung gehandelt habe (allerdings durch verschiedene