Nur ein kleiner Verdacht. Sabine Howe

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Название Nur ein kleiner Verdacht
Автор произведения Sabine Howe
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783949298011



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zog sich an, gab ihr einen Kuss, damit sie ihn nicht vergaß, und lief im leichten Dauerlauf zurück ins Hotel.

      Als er verschwitzt in dem schäbigen Hotel ankam, stand sein Vorgesetzter bereits unten in der Lobby.

      „Wo kommen Sie her?“

      „Ich habe nur einen kleinen Dauerlauf gemacht.“ Karl schaute unschuldig in sein rotes Gesicht.

      „Die ganze Nacht?“

      „Nein.“

      „Sie wissen, dass es untersagt ist, sich von der Gruppe abzusetzen?“

      „Herr Presser“, Karl versuchte es auf die vertrauliche Art.

      „Verstehen Sie doch. Da war diese schöne Ewa. Sie hat mich geradezu aufgefordert, mitzugehen. Hätten Sie da an meiner Stelle Nein gesagt?“

      Das Gesicht von Professor Presser lief noch röter an.

      „Selbstverständlich hätte ich Nein gesagt. Erstens ist es untersagt, sich unerlaubt vom Kader zu entfernen, und zweitens bin ich verheiratet. Das wird ein Nachspiel haben.“

      Es hatte ein Nachspiel. Erst wurde Karl für alle Auslandsreisen gesperrt, dann im Betrieb aus der Forschung genommen und in den Vertrieb versetzt.

      Daraufhin beschloss er zu türmen.

      Das war 1958.

      Karl hatte sich von Anfang an mit dem Sozialismus und seinen Beschränkungen schwergetan. Anfangs glaubte er noch an die gute Idee. Er konnte umsonst studieren, bekam für sage und schreibe zehn Mark im Monat ein Zimmer, aber nach und nach wurde ihm bewusst, dass er in einer Falle saß. Hier wurde jeder Schritt kontrolliert, an freie Forschung war nicht zu denken, geschweige denn an Bewegungsfreiheit. Er wollte etwas von der Welt sehen, etwas erleben.

      Also lud er Maggie auf einen Ausflug aufs Land ein. Dort unterbreitete er ihr seinen Vorschlag. Sie würden getrennt abfahren. Maggie sollte einen Antrag auf Besuch bei ihrer kranken Mutter in Augsburg stellen. Wenn der genehmigt war, würde sie den Zug nach München nehmen und dort auf ihn warten. Er selbst würde mit dem Motorrad über die Grenze fahren. Man musste vorsichtig sein, die Mauer war zwar noch nicht gebaut, aber sobald ein Grenzsoldat Republikflucht vermutete, war man verloren.

      Sechs Wochen dauerte es, bis Maggies Mutter das Attest schickte, in dem ein Arzt eine Herzschwäche diagnostizierte. Bis zur Genehmigung des Besuchsantrags dauerte es weitere drei Wochen. Dann brachte Karl Maggie zum Zug. Sie hatte Gepäck für drei Tage dabei, alles andere musste sie zurücklassen. Beim Abschied schwammen ihre Augen.

      „Nicht weinen, Kleines. Sonst werden die misstrauisch.“ Karl sah sich besorgt um, ein paar Soldaten patrouillierten auf dem Bahnsteig.

      „Es sind nur ein paar Tage, dann sind wir wieder beieinander.“

      „Sei vorsichtig“, flüsterte Maggie ihm ins Ohr. „Ich brauche dich, das weißt du.“ Karl nahm ihren Kopf in beide Hände, sah ihr fest in die Augen und küsste sie auf den Mund. Dann löste er ein paar Haarsträhnen, die sie sich hinter das Ohr gesteckt hatte, und strich sie sanft ins Gesicht. „So sieht es weicher aus“, sagte er. Er drückte sie an sich und hielt sie einen Moment lang fest umschlossen.

      „Na, sie wird doch nicht für immer weggehen“, tönte der Schaffner hinter ihnen. „Natürlich nicht“, murmelte Karl und schob Maggie in den Zug, denn er sah, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg.

      „Denn reißen Sie sich ma’ los.“

      Karl winkte. Maggie winkte.

      Danach lief alles wie geplant, bis zu dem Tag seiner Abreise. Er wollte zusammen mit seinem Kollegen Peter Reisfeld abhauen. Dessen Frau wartete bereits mit den beiden Kindern in München. Peter hatte eine EMW – das Ganze sollte nach einem Tagesausflug aussehen. An der Grenze wurden sie von Soldaten angehalten. Ausweise, Motorrad-Papiere.

      „Wo wollen Sie denn hin?“

      „Och, nur eine kleine Tour nach Westberlin.“

      „Einkaufen?“

      „Nö, Kaffee trinken und Mädels gucken.“

      „Machen Sie mal die Seitentasche auf.“

      Peter Reisfeld zuckte leicht zusammen. Er bückte sich und öffnete den Riemen der Ledertasche, die seitlich an dem Sozius hing. Er nahm eine Tageszeitung heraus.

      „Sonst nichts?“, wollte der Beamte wissen.

      „Nein, nichts“, stammelte Peter Reisfeld. In diesem Moment wusste Karl, dass Peter einen Fehler gemacht hatte. Der Beamte beugte sich hinunter und ließ seine Hand in die Tasche gleiten. Nichts. Karl wollte erleichtert aufatmen, als der Beamte anfing, ihn und Peter Reisfeld abzuklopfen. In Peters Jacke knisterte es. „Ziehen Sie mal die Jacke aus“, forderte der Beamte Peter Reisfeld auf.

      „Warum denn?“

      „Fragen Sie nicht blöd, machen Sie, was ich Ihnen sage.“

      Peter Reisfeld zog seine Jacke aus, und der Beamte tastete das Futter ab. Dann rief er einen Kollegen:

      „Hans, bring mal ne Schere raus.“ Hans kam mit einer Schere, und der Beamte zerschnitt das Futter. Peter Reisfeld protestierte, aber da zog der Beamte auch schon einen dünnen Stapel Papiere aus dem Jackeninneren hervor.

      „Und was ist das?“

      „Keine Ahnung“, log Peter Reisfeld, aber Karl erkannte auf den ersten Blick, dass es sich um Laborauswertungen handelte. Er stöhnte innerlich auf und überlegte blitzschnell, was zu tun sei.

      „Dann kommen Sie mal beide mit“, raunzte der Beamte sie an. Peter sah Karl verzweifelt an, aber der zuckte nur mit den Schultern. Die drei Männer wandten sich zum Gehen, da sprang Karl auf das Motorrad, der Schlüssel steckte noch, trat das Gaspedal los und raste wie ein Blitz davon. Es war seine einzige Chance, hier noch wegzukommen. Er musste das Überraschungsmoment nutzen.

      „Stehenbleiben, oder ich schieße!“, hörte er noch hinter sich. Aber er war schon zu weit weg. Sie konnten ihn nicht mehr erwischen.

      Peter Reisfeld musste für vier Jahre in den Bau. Seine Frau ließ sich in der Zwischenzeit von ihm scheiden und heiratete einen Arzt in München. 1963 wurde er aus der DDR abgeschoben. Soweit Karl gehört hatte, war er nach Spanien ausgewandert.

      Für Karl ging alles gut. Nach sieben Stunden Fahrt durch Sturm und Regen kam er in München an. In einem Auffanglager am Stadtrand fand er seine Maggie. Er brauste mit dem neuen Motorrad in den Hof der ehemaligen Kasernen und rief: „Maggie Marchwicz – komm heraus und heirate mich!“

      Fenster gingen auf, Gesichter starrten auf ihn hinab, einige lächelten. Dann tauchte Maggies kleines Gesichtchen hinter einer dicken, teigigen Frau auf. Sie winkte ihm zu, verschwand von der Bildfläche und war in weniger als einer Minute unten in der Tür. Karl breitete seine Arme aus, und Maggie flog ihm entgegen. Sie hatten so viel Hoffnung in ihre Zukunft.

      Das Drücken in seinem Oberbauch war schlimmer geworden. Karl schenkte sich einen weiteren Magenbitter ein und ging nach oben ins Badezimmer. Er hatte sich gerade bettfertig gemacht, als das Telefon durch die Stille des Hauses schrillte. Um diese Zeit? Das konnte nur Susanne sein! Jeden anderen hätte er durch den Hörer angebrüllt, aber Susanne konnte er nicht böse sein.

      „Na, mein Schatz?“, sagte er, nachdem er den Hörer abgenommen hatte.

      „Hallo Papa, ich hab dich doch nicht geweckt, oder?“

      „Nein, nein. Ich bin doch kein Opa, der um zehn schlafen geht.“

      „Wie geht’s?“

      „Gut, und selbst? Was liegt dir auf der Seele? Du rufst doch nicht einfach so an, um deinen alten Vater zu fragen, wie es ihm geht, oder?“

      „Schläft Mama schon?“

      „Ja, die schläft schon.“

      „Okay, dann rufe ich morgen noch mal an – du bist sicher auch