Nur ein kleiner Verdacht. Sabine Howe

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Название Nur ein kleiner Verdacht
Автор произведения Sabine Howe
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783949298011



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Vorwurf in der Stimme.

      „Die kann ich ja heute Abend essen“, antwortete er.

      „Hauptsache, ich habe mir die Mühe nicht umsonst gemacht.“

      Königsberger Klopse waren sein Leibgericht. Hatte sie die extra für ihn zubereitet?

      „Tiefgefroren?“, fragte er.

      „Nein, ich habe sie gestern gekocht, als du im Fitnessstudio warst. Zumindest hast du gesagt, du warst im Fitnessstudio.“

      „Ich war im Fitnessstudio“, sagte Karl.

      „Du kannst gerne dort anrufen und es überprüfen!“ Wütend warf er seine Zeitung auf den Tisch und stand auf.

      „Die Nummer findest du im Telefonbuch. Body-Care.“

      Er stapfte aus dem Zimmer.

      Sein Weg führte ihn durch das kleine Ortszentrum. Einem plötzlichen Impuls folgend, machte er einen Schlenker an dem Reihenhaus vorbei, in dem sie 14 Jahre lang gewohnt hatten. Wie schmal ihm der Weg zu dem Grundstück heute vorkam. Er lehnte sein Fahrrad an den Zaun und ging außen um den Garten herum. Die meisten Bäume, die er einst gepflanzt hatte, waren noch da. Sogar die Birke, die inzwischen über zehn Meter hoch war und dem Garten viel Sonnenlicht nahm, stand an ihrem Platz. Wahrscheinlich war es ihr gut bekommen, dass er all die Jahre an ihr Wurzelwerk gepinkelt hatte. Die Beete waren mit Unkraut überwuchert. Wie viele Stunden hatte er hier mit Gartenarbeit verbracht? Als sie einzogen waren, waren die Häuser gerade neu gebaut worden. Mit einem kleinen Schmiergeld an die „Aufbau West“ hatte er den Zuschlag für das Endreihenhaus bekommen. In den darauffolgenden Jahren, also 1964, 1965 und 1966, hatte er regelmäßig den ersten Platz im Gartenwettbewerb gewonnen. Die Urkunden hatte er aufgehoben. 1967 hatte Familie Wendtnitz von gegenüber gewonnen, aber das machte ihm nichts aus, denn im selben Jahr kaufte er sich einen Opel. Sie hatten schöne Jahre hier verbracht, und Karl hing an seinem ersten eigenen Haus. Aber Maggie hatte darauf gedrängt, sich zu vergrößern. Der Umzug in die schickere Villa erfolgte Ende der Siebziger, kurz nachdem er Jutta kennengelernt hatte. Und kurz nachdem seine Mutter gestorben war. Frau Hübel von nebenan hatte damals das Telegramm in Empfang genommen.

      „Ihre Mutter ist heute morgen gegen 9.00 Uhr im Krankenhaus Rostock verstorben. Gezeichnet: A. v. Büchel.“

      Viel konnte er nicht über ihren Tod herausfinden. Sie hatte die letzten Jahre an schwerem Asthma gelitten und war an einer Lungeninsuffizienz gestorben. Mit siebenundsechzig Jahren. Er hatte zuletzt vor über einem Jahr von ihr gehört. Sie schrieb, die Lebensmittel drüben seien knapp. Er möge ihr Kaffee und Schokolade schicken. So ein Brief kam einmal im Jahr. Karl meldete sich nie zurück. Maggie übernahm diese Aufgabe.

      Die Königsberger Klopse schmeckten auch am Abend noch köstlich.

      „Ausgezeichnet, Maggie“, lobte er seine Frau. „Niemand macht sie besser als du.“

      „Danke“, lautete die einsilbige Antwort.

      Im Hintergrund lief eine Reportage über den Osten.

      „Unglaublich, wie die das alles haben runterkommen lassen“, sagte er. „Die reinste Schande. So schlimm sah es dort nicht aus, als wir weg sind, oder, Kleines?“

      „Bitte nenn’ mich nicht mehr Kleines.“

      „Das kann doch nicht nur an dem System gelegen haben, dass da alles brachliegt.“

      „Wie in Russland“, sagte Maggie. „Da ist auch alles verfallen.“

      „Woher willst du das wissen, du warst doch noch nie dort?“

      „Hat mir eine aus meinem Italienischkurs erzählt. Die war dort auf Rundreise.

      ‚Alles kaputt’, sagt sie.“

      „Also, mit Russland hat das hier aber nichts zu tun. Die DDR war ganz allein für sich verantwortlich.“

      „Ich sage ja nur, dass die Russen auch schlampig sind. Ich hab’ doch selbst gesehen, wie die in unseren Wohnungen gehaust haben, nachdem sie uns dort rausgeschmissen haben. Wie wilde Tiere. Alles voll mit Wodkaflaschen. Echtes Meissener Porzellan stand stapelweise ungespült in der Küche, unzählige Stücke sind zu Bruch gegangen. Und alles voll mit Zigarettenstummeln.“

      „Du bist einfach zu emotional in diesen Dingen. Deine persönlichen Erfahrungen mit den Russen tun doch überhaupt nichts zur Sache.“

      Er war fertig und stand auf. Sein Magen drückte heute Abend noch heftiger als am Morgen. In seinem Bauch grummelte es, und in der Hoffnung auf einen anständigen Furz ging er ein paar Schritte vor das Haus. Die Luft war angenehm kalt und klar. Er hasste es, wenn Maggie diese alten Geschichten hervorkramte. Hatten sie nicht alle schreckliche Kriegserlebnisse hinter sich? Er hatte seinen Bruder verloren. Oder die Geschichte, als ihm der Kopf des Oberkommandierenden Schneider direkt vor die Füße gerollt war. Dabei hatte er noch Sekunden vorher mit ihm gesprochen.

      „Bring heute erst den anderen Kaffee“, hatte Schneider ihm von seinem Kontrollturm zugerufen. Karl sattelte wieder auf und radelte zum zweiten Stützpunkt. Nach wenigen Metern hörte er die Bomber. Er warf sich mit seinem Fahrrad in den Straßengraben und schlug die Arme über dem Kopf zusammen. So kauerte er eine Ewigkeit, bis das Donnern wieder in der Ferne verschwand. Um ihn herum herrschte Stille. Langsam erhob er sich und lugte aus dem Graben. Nichts. Vor ihm nur plattes Land. Die beiden Kontrolltürme waren verschwunden, als hätte es sie nie gegeben. In der Dunkelheit hörte er hier und dort ein leises Wimmern. Hilfe holen, war sein erster Gedanke. Er kletterte aus dem Graben, zog sein Fahrrad nach sich, sattelte auf und trat in die Pedale. Aber er kam nicht voran. Ein Hindernis lag vor seinem Vorderreifen. Karl wurde nervös, er wollte nur weg. Er drückte das Rad mit Gewalt nach vorn, aber das Hindernis war zu groß. Also stieg er ab, um es mit dem Fuß zur Seite zu kicken. Er konnte den großen Klumpen nicht genau erkennen und bückte sich. Als er seinen Kopf über den dunklen Schatten am Boden senkte, blickte er direkt in die aufgerissenen Augen des Oberkommandierenden Schneider. Sein Schädel war durch die Wucht der Bombe über hundert Meter weit geschleudert worden. Karl würgte, aber er riss sich zusammen.

      Auf dem Heimweg murmelte er ununterbrochen die sieben Schwertworte des Jungvolks: „Jungvolkjungen sind hart. Jungvolkjungen sind tapfer. Jungvolkjungen sind gehorsam. Jungvolkjungen sind gerade und treu. Jungvolkjungen sind schweigsam und wahr. Jungvolkjungen sind Kameraden. Jungvolkjungen Höchstes ist die Ehre.“ Das machte ihn ruhiger.

      Jeder hatte seine Erinnerungen, aber damit musste man allein fertigwerden. Es half nichts, anderen in den Ohren zu liegen. Im Gegenteil, oft trat man mit solchen Geschichten ganze Lawinen von Kriegserinnerungen los, die man sich lieber nicht antun wollte. Eine grausamer als die andere. Auf Trost war nicht zu hoffen.

      Wieder im Wohnzimmer streckte er sich auf dem Sofa vor dem Fernseher aus. Nach einer Weile kam Maggie. Sonst nahm sie meist an seinem Fußende Platz. Diesmal setzte sie sich in einen Sessel.

      „Sag mal, Maggie. Gibt es eigentlich irgendetwas, das du für den Winter brauchst?

      „Nicht, dass ich wüsste.“

      „Etwas für die Küche oder für das Haus?“

      „Nein.“

      „Na komm, irgendetwas wird dir doch einfallen. Eine neue Kaffeemaschine vielleicht. Da gibt es jetzt welche, die machen sogar Espresso.“

      „Na, der wird den beim Italiener wohl kaum ersetzen können.“

      „Oder etwas für das Bad – neue Matten vielleicht. Du wolltest doch mal auf Rot umstellen, oder?“

      „Ich habe neulich im Ausverkauf rote Matten gekauft. Ich muss sie nur waschen, dann lege ich sie aus.“

      „Nun mach es mir doch nicht so schwer. Sag mir einfach, womit man dir eine Freude machen kann.“

      Maggie schwieg eine Weile. Dann sagte sie: „Ich möchte einen Nerzmantel.“ Karl zog die Brauen hoch.

      „Wie bitte?“

      „Einen Nerzmantel“, sagte Maggie