Название | Nur ein kleiner Verdacht |
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Автор произведения | Sabine Howe |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783949298011 |
Sie spielte auf der Straße mit einem Ball, den sie aus alten Zeitungen zusammengeschnürt hatte. Sie warf das Bündel gegen eine Hauswand und fing es wieder auf. Einmal sprang der Ball hinter sie. Sie drehte sich um, und ein großer, hagerer Mann hielt ihn ihr hin.
„Hier, fang!“, rief er und warf ihr den Ball zu. Erst da erkannte sie seine Stimme. Er sah anders aus mit seinem dunklen Vollbart. Sein Gesicht war schmal geworden und die Augen viel größer. Mit einem Freudenschrei warf sie sich in seine Arme.
„Auf den Arm kann ich dich nicht mehr nehmen, du bist ganz schön gewachsen.“ Er streichelte ihr über das Haar.
„Wo ist deine Mutter?“
„Beim Arbeitsdienst.“
Sie erklärte ihm, wo das war, und er machte sich auf den Weg. Maggie wartete mit ihrem Bruder den ganzen Nachmittag vor der Haustür. Endlich sahen sie ihre Eltern Arm in Arm die Straße entlangkommen. Der Vater lachte. Die Mutter blieb ausdruckslos. Am frühen Abend ging er mit der ganzen Familie hinter das Haus. Dort machten sie ein Feuer, ein schönes, großes, warmes Feuer aus Ästen und Herbstlaub. Der Vater hielt jedem eine Kartoffel am Stock hin. Er hatte einen ganzen Sack organisiert, was in diesen Zeiten den Himmel auf Erden bedeutete. Maggie lehnte sich an ihn, während sie in die Flammen träumte. Sie bemerkte nicht, wie sich ihr Stock entzündete. Plötzlich machte es ‚knacks’, und ihre Kartoffel landete im Feuer. Sie heulte auf und stürzte sich in die Flammen, um ihre Knolle zu retten, und dabei fing einer ihrer Zöpfe Feuer. Als Nächstes spürte sie eiskaltes Wasser auf ihrem Kopf. Dann blickte sie in die Augen ihrer Mutter, die sie tadelnd ansahen.
„Mein Mädchen.“ Die sanfte Stimme ihres Vaters holte sie zurück ins Leben.
„Keine Kartoffel der Welt ist es wert, dafür seine Zöpfe zu lassen.“
Vier Tage später fuhr der Vater zurück an die Front. Am selben Abend schnitt die Mutter ihr die Zöpfe ab. Eine Maßnahme, die Maggies Leben verändern sollte und die sie ihrer Mutter nie verziehen hatte.
Es war nicht einfach, sich in dem Wirrwarr der Stadt zurechtzufinden. Maggie brauchte fünfundvierzig Minuten für den Heimweg. Als sie zuhause ankam, war Karl noch nicht zurück.
Karl 1
Karl öffnete lautlos die Schlafzimmertür. An Maggies unregelmäßiger Atmung hörte er, dass sie nicht schlief.
Ein schmaler Lichtstrahl fiel aus dem Flur auf den Sessel neben dem Kleiderschrank. Seine Krawatten hingen über der Lehne. Maggie hatte sie nicht in den Schrank gehängt. Er zog die Tür zurück ins Schloss und ging ins Badezimmer, wo er sich die Socken von den Füßen streifte und sie in den Wäschekorb warf. Jackett, Krawatte, Hemd und Hose hängte er ausnahmsweise über den Handtuchhalter. Sein stummer Diener stand im Schlafzimmer. Die Unterwäsche landete ebenfalls im Wäschekorb. Bevor er seinen Pyjama überzog, stellte er sich auf die Waage. 82 Kilo bei 1,85 Meter Körpergröße, kein Gramm zu viel. Er betrachtete sich im Spiegel. Das Rückentraining, das er wegen seines Bandscheibenvorfalls aufgenommen hatte, hatte ihm ein paar zusätzliche Bauchmuskeln beschert, seine Arme waren ohnehin gut bestückt. Auch sein Po war für einen Anfang Sechzigjährigen einwandfrei in Form, das viele Radfahren. Er stellte sich vor die Toilette, klappte die Brille nach oben und ließ seinen kräftigen Strahl in das Wasserbecken rauschen. Danach ging er leicht in die Knie, in der Hoffnung auf einen erlösenden Furz, aber sein Darm ließ ihn im Stich.
Bevor er ins Schlafzimmer schlich, schaute er auf seine Armbanduhr: zwei Uhr morgens. Er bemühte sich, möglichst geräuschlos unter die Decke zu schlüpfen. Das Bett war frisch bezogen. Wie jeden Donnerstag. Das mochte er an Maggie. Auf sie war Verlass. Wann immer er den Kleiderschrank öffnete, stets lagen frische Unterwäsche, Socken und Hemden griffbereit. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass er das jemals beanstanden musste.
Er rollte sich auf die rechte Seite, von seiner Frau abgewandt, in seine Schlafstellung. Er konnte nicht einschlafen, wenn er jemandem zugewandt lag. Heute fand er allerdings auch auf der rechten Seite keine Ruhe.
Der Abend war wie immer ausgeklungen. Nach dem Essen bei ‚Da Pasquale’ waren sie noch in ihre Wohnung gefahren. Eine schöne Flasche Wein, ein nettes Schäferstündchen und zum Abschied einen doppelten Cognac und einen Espresso. Nein, Maggies Agententätigkeit hatte nichts an seiner Liebesfähigkeit geändert. Aber wie war sie ihm nur auf die Schliche gekommen? Woher hatte sie Namen und Adresse des Restaurants? Hatte er einen Fehler gemacht? Was hatte sie überhaupt dazu gebracht, ihm nachzuspionieren? Seiner Meinung nach hatte sie kein Recht, in seine Intimsphäre einzudringen.
Schließlich war er seiner Verantwortung als Familienoberhaupt immer nachgekommen. Hatte Maggie nicht ein schönes Zuhause? Kümmerte er sich nicht um die Finanzen? Was wollte sie mehr? Sollte er so ein Alters-Stoffel werden, der bei Regen einen karierten Hut aufsetzte? Dem seine Frau die Schuppen von den Schultern klopfte und der zum Rauchen vor die Tür ging? Er lag inzwischen auf dem Rücken, und seine Gedanken kreisten und kreisten. Mit jeder neuen Runde wurde er innerlich zorniger.
Stunden später, hinter den Vorhängen schimmerte bereits die Sonne, stand Maggie auf. Erleichtert drehte er sich auf die rechte Seite und versank in einen verschwitzen Morgenschlaf, aus dem er erst zwei Stunden später erwachte. Schon elf Uhr! Karl sprang aus dem Bett, öffnete das Fenster, atmete zehnmal tief durch und begann mit seinem Frühprogramm: fünfzig Kniebeugen und zwanzig Liegestütze, nein dreiundzwanzig. Die letzten drei waren die reinste Qual, aber es nützte nur etwas, wenn es schmerzte. Anschließend ging er unter die Dusche: Heiß, kalt, wieder heiß und zum Schluss noch einmal eiskalt.
Er rasierte sich elektrisch, cremte sein Gesicht mit einer Feuchtigkeitscreme und legte sein Rasierwasser auf. Er benutzte seit zwanzig Jahren dasselbe, ein leichter, würziger Duft, männlich und nicht aufdringlich. Im Schlafzimmer zog er eine beigefarbene Cordhose, ein braunes Hemd und einen leichten braunen Kaschmirpullover über.
Es war kühl geworden, der Winter kündigte sich an. Leichtfüßig sprang er die Treppe hinunter, offenbar etwas zu leichtfüßig, denn auf der vorletzten Stufe rutschte er aus und knallte mit voller Wucht auf seinen Steiß. Zwischen dem Bewusstwerden über das, was passiert war und dem einsetzenden Schmerz lagen zwei Sekunden, in denen ihm komplett die Luft wegblieb. Danach raste ihm ein Stich vom Rücken ins Gehirn. Ausgerechnet auf die Bandscheibe!
„Hilft mir vielleicht mal jemand?“, rief er in die Diele.
Nichts.
„Maggie!“
Keine Antwort.
Er wurde wütend.
„Maggie?!“
Mit äußerster Anstrengung zog Karl sich am Treppengeländer hoch. Gebeugt schlich er ins Wohnzimmer.
Der Frühstückstisch war gedeckt. Auf dem Stövchen stand die Glaskanne mit Tee, der schon ziemlich dunkel geworden war. Die Zeitung lag auf seinem Platz und obendrauf ein Zettel. Er bemühte sich, das leichte Beben seiner Hand zu ignorieren, als er das Papier nahm, um die Nachricht zu lesen. Die Schrift verschwamm vor seinen Augen. Mit der rechten Hand setzte er seine Brille auf. In der linken hielt er Maggies Zettel:
„Bin auf dem Markt. Komme zum Mittag zurück. Maggie“
Alles eigentlich normal, obwohl – das obligatorische Herzchen fehlte unter Maggies verschnörkelter Mädchenschrift. Er nahm Platz. Langsam ließen die Schmerzen nach, und die Spannung kehrte in seinen Körper zurück. Der Tee schmeckte bitter, und in der Zeitung stand nichts Neues. Es wurde kein langes Frühstück, und als er fertig war, konnte er sich nicht entscheiden, ob er abräumen oder alles stehen lassen sollte. Dies war eine Ausnahmesituation. In den letzten dreißig Jahren hatte Maggie bei keinem Frühstück gefehlt. Er entschied sich schließlich, die Lebensmittel wegzuräumen, aber was kam wo hinein? Er öffnete die verschiedene Tupperware, um sich zu orientieren. Maggie hatte ihre eigene Ordnung, Frauen waren in diesem Punkt empfindlich. Seine Mutter konnte es auch nicht leiden, wenn jemand ihr etwas durcheinanderbrachte. Sie war, wie Maggie, eine perfekte Hausfrau