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Gesetzgebung und Sozialistenverfolgung stelle eine oberflächliche Betrachtung dar. Bismarck sei es tatsächlich um einen umfassenderen Schutz vor Erwerbsunfähigkeit gegangen. Denn die sozialen Nöte seien sehr dringlich, die Kommunen mit den sozialen Problemen unmittelbar konfrontiert gewesen. Der Staat aber habe sich aus den Fragen der sozialen Sicherung herausgehalten, was nicht länger durchhaltbar gewesen sei. Insofern, so Plumpe, folgten die Maßnahmen der Sozialpolitik einer objektiven Logik und nicht einem Reflex an die sozialdemokratische Adresse. Es hat diesen Zusammenhang gegeben, aber er war viel loser. Bismarcks Intention war, dass sich jeder arbeitende Mensch durch Arbeit selbst erhalten können sollte und seine materiellen Interessen befriedigt werden sollten, was auch zur Stabilisierung der sozialen Ordnung beitragen würde. Bismarck wollte die Kosten der Sozialversicherung staatlicherseits aufbringen, während seine Gegner, insbesondere die der Sozialdemokratie, ihre politischen Vorfeldorganisationen (Hilfskassen) mit diesen Aufgaben befasst sehen wollten. Gegner der Gesetzgebung hatten also ihrerseits ein Interesse, zu behaupten, dass die Sozialgesetzgebung nur der Bekämpfung der Sozialdemokratie diente.

      Dem Phänomen Junker widmet sich Heinz Reif in einer Rekonstruktion. Das Bild erfahre von Jahrzehnt zu Jahrzehnt eine immer aggressiver werdende Zuschreibung von Negativmerkmalen. Gerade der äußere Habitus dieses ostelbischen Ritterguts- und Militäradels trug zur Feindbildwerdung bei. Schon der Freiherr vom Stein hatte die Klasse als herzlos, hölzern und halbgebildet bezeichnet. Mit dem Junker wird seit dem 19. Jahrhundert das Bild verbunden: ein wenig bevölkertes Land, riesige stagnierende Gutswirtschaften, Kulturlosigkeit eines Koloniallandes. Als problematisch gilt, dass dieser Adelsstand im Militär und Beamtentum zeitweise überhand nahm. Hugo Preuß habe in den Junkern eine Gefährdung des Bürgertums gesehen, weil die Demokratisierung des Bürgertums aufgehalten wurde, ja es sich in Richtung einer Feudalisierung entwickelt habe. Bei Werner Sombart werde diese Feudalisierung des Bürgertums ebenfalls erwartet, als Selbstfeudalisierung. Bei Max Weber behindere diese sinkende Klasse durch ihre reaktionäre Politik die Dynamisierung der Gesellschaft. Franz Mehring spreche gar von einer monarchisch verschleierten Junkerrepublik in der man existiere. Wilhelm Röpke sehe in dem Junker einen Bauern mit Monokel, der charakterlich defizitär sei und dazu beitrage, das Preußen-Bild in Deutschland verhasster zu machen. Ein Reflex dieser Feindbildbestimmung finde sich in jeder Propaganda der Alliierten in beiden Kriegen, vor allen Dingen aber im zweiten, nach dem Preußen verboten wurde.

      Der verfolgten Sozialdemokratie in der Ära Bismarck setzt Brigitte Seebacher ein eindrucksvolles Denkmal. Zunächst würdigt sie Lassalle, mit dem Bismarck sich zu arrangieren begonnen hatte. Im Kern geht es dann aber um August Bebel, um dessen Kampf- und Leidensgeschichte im zweiten Reich. Er hat die Annexion Elsass-Lothringens abgelehnt und einen ehrenvollen Frieden mit Frankreich verlangt. Bebel hat die Reichsgründung nur aus der Haft miterleben können und war wegen der Kritik an der Annexion im Dezember 1870 verhaftet worden – wegen »Vorbereitung zum Hochverrat«! Noch 1889 standen in Elberfeld-Barmen 128 Sozialdemokraten vor Gericht und 400 Zeugen wurden geladen. Das Ausmaß an Diskreditierung und Verfolgung hat die politische Kultur des zweiten Reiches vergiftet. Wenn Willy Brandt 1967 Walther Rathenau zitiert: die Bismarck ’sche Zeit sei für alle Zeiten vorüber, dann ist dies nachvollziehbar.

      Ulrich Lappenküper skizziert ein eindrucksvolles und einfühlsames Porträt einer Einrichtung, die sich dem Erinnern an Bismarck widmen kann, ohne einem Mythos frönen zu müssen. Der Autor zeichnet ein Bild einer Memorialkultur, die im Sachsenwald, parteiübergreifend und wissenschaftlich besten Ansprüchen genügend, eine historische Leistung erbringt. Lappenküper spiegelt aber auch die Geschichte des Bismarck-Bildes in den unterschiedlichen deutschen Gesellschaften. Vor allem wird der sehr lange Weg bis zur Einrichtung der Otto-von-Bismarck-Stiftung aufgezeigt, der belegt, wie schwierig es in Deutschland ist, ein Erbe anzutreten, das die Geschichte hinterlassen hat – und dem man sich stellen können muss, denn, so zitiert Lappenküper, »jede Kultur beruht auf Erinnerung« (Norbert Lammert).

      Henry Kissinger verweist gleich zu Beginn seiner berühmten, 1968 zuerst erschienen Studie über den weißen Revolutionär auf den Anstoß, warum man sich mit Bismarck beschäftigen sollte, auch im 21. Jahrhundert. Bismarck habe die Landkarte Europas neu gestaltet, aber sein Erbe sei von nicht zu bewältigender Größe gewesen. Kissinger geht methodisch so vor, dass er schon in der biografischen Entwicklung Bismarcks dessen Naturell herausarbeiten möchte. Weiterführender ist vielleicht seine Bemerkung, die auch den späteren Außenminister Kissinger bestimmt haben dürfte: »Friedliche Veränderung ist nur dann möglich, wenn die Mitglieder eines internationalen Staatensystems den Wert ihrer Ordnung über jede zwischen ihnen auftretende Uneinigkeit hinaus anerkennen.« Diese Erkenntnis schließt fast zum jüngsten Buch Kissingers, World Order (2014), auf, in dem das Westfälische System von 1648 gewürdigt wird. Dass die Zustände, die in Deutschland herrschten, der Schlüssel für das europäische Gleichgewicht waren, führt zu Bismarcks Leistung hin. Bismarck versuchte die Realität nach seinen Zielen hin zu gestalten und war insofern revolutionär. Eine Politik, die die Ereignisse nur abwartet, würde leicht von ihnen bestimmt werden. Eine von Kissingers Thesen lautet, dass die von der Revolution, der deutschen Einheit, entfesselten Kräfte einer eigenen Logik folgen, die mit den ursprünglichen Zielvorstellungen ihrer Initiatoren nichts mehr gemein haben, sondern machtbezogen sich verselbständigen. Nur solange Bismarck regierte, konnte seine tour de force in der Geschichte des 19. Jahrhunderts, auf der Grundlage eines um Deutschland zentrierten komplizierten Bündnissystems, die Engpässe beziehungsweise Starrheit des internationalen Systems überspielen. Der hier wiederaufgelegte Aufsatz von Henry Kissinger besticht, weil er Bismarck wegführt vom stereotypen Bild eines Konservativen, eines junkeraffinen Politikers und ihm ganz im Gegenteil die nötige Anerkennung für seine realpolitischen Leistungen zollt und damit einen Politikertyp goutiert – übrigens 1968 ihn mit de Gaulle! vergleicht –, den man später vielleicht als großen Reformer wiederfindet, in Gestalt Bismarcks aber als Gründerfigur (Deutsches Reich) und als Anstifter von neuen, sozialstaatlichen Politikfeldern ausgewiesen findet.

      Der große Bismarck-Kenner Michael Stürmer nimmt sich vor, die alten Erzählungen zu überprüfen. An sich sei das Bismarck-Reich, insbesondere im Bewusstsein der Westdeutschen bis 1989, kein Gegenstand ernsthafter Betrachtungen mehr gewesen. Doch wenn die Weltgeschichte mit der Tür ins Haus falle, so Stürmer, könne das Haus nicht unverändert bleiben. Auch Stürmer fällt es nicht schwer, von einer Staatskunst zu sprechen, die sich 1989 / 90 nach innen ebenso wie nach außen behauptet hat und Sinn für Geschichte und Geografie und speziell Geopolitik entwickelt habe. Stürmer spricht von den Lehren der Geschichte, die man im Verhältnis zu Russland etwa ziehen könne – bis in unsere Tage!

      Vergleichen was vergleichbar ist, heißt ja nicht, dass man etwas gleichsetzt – in diesem Sinne nimmt sich Hans-Peter Schwarz mit einer gewissen Courage die Einigungsbewegungen von 1871 und 1989 / 90 einmal vor. Dabei wecken sowohl die Unterschiede als auch die aufgezeigte Vergleichbarkeit gleichermaßen Erstaunen. Beide Male gelang es, einen deutschen Nationalstaat zu errichten, von dem angesichts der Widerstände im In- und Ausland weder Bismarck noch Kohl es vernünftig fanden, unmittelbar zu sprechen. Genauso wie im 19. Jahrhundert schon geschehen, hatten sich in Westdeutschland viele Widerstände gegen eine Nationalbewegung etabliert. Dass ein späterer deutscher Außenminister noch eine Woche nach dem Fall der Mauer die Wiederherstellung des deutschen Nationalstaates mindestens 25 Jahre lang verhindert wissen wollte, steht für sich. Willy Brandt war diese Metternich ’sche Ängstlichkeit nicht zu eigen. Weder Bismarck noch Kohl hatten per se einen größeren Bezug zur jeweiligen Nationalbewegung, an deren Spitze sie sich aber rasch zu stellen wussten. Beide Staatsmänner wussten ausländische Mächte für ihr Vorhaben zu gewinnen. Innenpolitisch galt es für beide, Anti-Preußentum oder antinationales Denken aufzufangen. Der faszinierende Vergleich, der dem Biografen Adenauers wie Kohls hier gelungen ist, steht für sich.

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      Ich danke allen Autoren, dem Verlag, meinen Mitarbeitern, beratenden Kollegen und der Jakob-Kaiser-Stiftung für die Möglichkeit, eine derart wertvolle Sammlung von Betrachtungen im Bismarck-Jahr zusammenstellen zu dürfen.

      »Genie« im Kanzleramt?

      Otto von Bismarck als erster deutscher Kanzler und als preußischer Regierungschef

      Peter