Bismarck: Der Monolith - Reflexionen am Beginn des 21. Jahrhunderts. Tilman Mayer

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Название Bismarck: Der Monolith - Reflexionen am Beginn des 21. Jahrhunderts
Автор произведения Tilman Mayer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788711446935



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beitrug, bleibt unbestritten. Mit dem Gründungsakt war ja innenpolitisch die nationale Integrationsaufgabe nicht erledigt, die Bismarck schließlich auch im deutschen Fürstenstaat zu konzertieren hatte. Dem Eigensinn der deutschen Fürsten musste begegnet werden und Bismarck gelang es, Staatskrisen aufgrund dynastischer Separatismen zu vermeiden.

      Dass in Bismarcks Kanzlerschaft die Sozialgesetzgebung europaweit beispielhaft war, wird niemand bestreiten19 und dass sie diese Kanzlerschaft aus der Masse der europäischen Regierungschefs heraushob wohl ebenso wenig. Die Kehrseite dieser sozialpolitischen Errungenschaften, nämlich dass sie einer innenpolitischen Funktionalität entsprechen musste, die Bismarck durch die Sozialistengesetze verursacht hatte, bleibt aber auch unbestritten, auch wenn diese Deutung überstrapaziert wird.

      Wir haben es mit einem Paradoxon zu tun. Man kann über die Ära Bismarcks von einer Zeit der Festigung und Stabilisierung des Reiches sprechen und festhalten, dass das Reich gar fortschrittliche Momente umfasste, die weit über das 19. Jahrhundert hinaus wirkten. Aber die Frage – respice finem –, ob das ausreicht, ist nicht ketzerisch. Worin also hätte die Nachhaltigkeit der von Bismarck geschaffenen Strukturen liegen müssen?

      Bismarcks Kanzlerschaft imponiert auch deswegen sehr, weil er sozusagen sein eigener Außenminister war und außenpolitische Glanzleistungen vollbracht hat, die im Rückblick als seine Staatskunst ganz besonders hervorzuheben sind. Es ist eben gerade auch die außenpolitische Leistung Bismarcks, die geschichtsträchtig wurde und bis heute enorme Beachtung und entsprechende Würdigungen erfährt. Gerhard Ritter hat der Staatskunst große Aufmerksamkeit gezollt,20 so wie später auch Gordon A. Craig – um nur diese beiden Historiker stellvertretend zu nennen. Bismarcks Bündnissystemkonstruktionen und bilaterale Abkommen sind Legion. Eines der wichtigsten Bündnisse war das Drei-Kaiser-Bündnis von 1881, und natürlich überhaupt das Changieren zwischen Moskau und Wien, ohne London zu vergessen. Russland im Rücken und bei Laune zu halten, etwa durch Rückversicherungsverträge, die geheim gehalten wurden, war eine Selbstverständlichkeit, die nach seiner Ära in ihrer Bedeutung bekanntlich verkannt wurden. Aber letztlich war das außenpolitische Spiel Bismarcks fragil. Solange Bismarck auf der Brücke stand, ging die Fahrt flott voran, aber ohne seine Navigationskunst geriet das Staatsschiff in falsche Hände. »Das deutsche Staatsschiff selbst machte Kurs auf Gewässer, für deren Belastungen und Herausforderungen es von seinen Ingenieuren nicht konstruiert und gebaut war.«21 Auch hier erkennen wir, ungern, wie sehr Bismarcks Politik von seiner Person abhing. Darf man das als Schwäche bezeichnen?

      Eine außenpolitisch-diplomatische Glanzleistung war sicherlich der Berliner Kongress von 1878, auch wenn er in Moskau wenig Begeisterung auslöste. Bismarck in der Rolle des ehrlichen Maklers tat seinem Image besonders gut. Die diplomatische Kunst Bismarcks liegt ohne jeden Zweifel darin, dass er tatsächlich international bestens verankert war, über Erfahrungen aus erster Hand verfügte und ein Gespür dafür hatte, welche realpolitischen Interessen die Regierungen bestimmten.

      Aber Henry Kissinger hat Recht: »Nach dem Abgang Bismarcks hatte Deutschland kein globales Konzept mehr.«22 Später sagte Kissinger ergänzend: »for the greatest part of history until really the very recent time, world order was regional order«23, und das war eben Bismarcks Leistung, nämlich für eine derartige Ordnung zu stehen; und es war zugleich auch das Manko der Ära Bismarcks: »there were no universally accepted rules«24. Kissinger macht 2014 – im Jahr des Rückblicks auf 1914 – in »World Order« auf das Westfälische System von 1648 aufmerksam, ein »System unabhängiger Staaten, die davon Abstand nahmen, sich in die inneren Angelegenheiten der anderen einzumischen, und die die jeweiligen Bestrebungen der anderen durch ein allgemeines Gleichgewicht der Kräfte zu kontrollieren suchten.«25 Und weiter: »Das Gleichgewicht der Kräfte an sich kann nicht den Frieden sichern, aber wenn es überlegt etabliert und angewandt wird, kann es die Reichweite und Häufigkeit fundamentaler Konflikte begrenzen und, sollten sie denn auftreten, die Erfolgschancen einzelner Akteure verringern.«26 Otto von Bismarck ist diesem Konzept nahe gekommen, ein »globales Konzept« für Europa zu entwickeln, aber hat es dennoch nicht universalisierbar27 angelegt. Bismarck betrieb Realpolitik – wie später Kissinger im 20. Jahrhundert auch – und diese bleibt immer interpretationsbedürftig.

      Realpolitik darf ohnehin als Hauptkennzeichen der Politik Bismarcks angesehen werden. Realpolitik heißt, mit den Kräften zu rechnen, die real existieren und sie anzuerkennen, wenn man sie nicht beseitigen kann.28 Nicht Ideologien, Freundschaften oder Feindschaften folgte seine Politik – das hat der Staatswissenschaftler Gustav Schmoller sehr gut herausgearbeitet,29 sondern nüchterne Lageanalyse, die für Deutschland besonders wichtig war, weil das Land in der Mitte Europas geopolitisch über Jahrhunderte Objekt der Begierde seiner geografischen Umgebung wurde.

      Mit Blick auf die Verfolgung der Sozialdemokratie kann innenpolitisch allerdings die Realpolitik nicht beeindrucken. Auch die Katholiken dürften an Bismarcks Realismus – um das Mindeste zu sagen – gezweifelt haben.

      Die politische Kultur des Bismarck-Reiches war sicherlich ein Teil des Problems:30 Was Parlamentarisierungsprozesse anging, hatte sich das wilhelminische Reich nach 1890 und im Ersten Weltkrieg isoliert. Das Ansehen der Parteien in der Monarchie könnte beinahe schon als Antiparteienaffekt bezeichnet werden. Die Existenz der viel beachteten sogenannten Junker-Klasse trug dazu bei, dass sich in Deutschland beziehungsweise im sogenannten Ostelbien eine Untertanengesinnung verbreitete – eine modernitätsfeindliche Stimmung, die den Fortschritt der Nation verzögerte und den frühnationalistischen Zusammenhang von Patriotismus und Demokratie vernebelte.

      Die erwähnte – junkerliche? – Verfolgung der Sozialdemokraten aus einer alarmistischen Haltung heraus hatte weitreichende persönliche Folgen für die Betroffenen und kann nicht anders als eine Fehlentwicklung der politischen Kultur des Kaiserreichs gedeutet werden; ebenso wie auch die Manie, die Katholiken als ultramontane Gruppierung auszugrenzen anstatt sie zu integrieren.

      Auch wenn man nicht von einem preußischen Militarismus sprechen möchte und ihn in der alliierten Diktion von 1945 als absolut überbewertet ansieht – schon gar als Begründung für das absurde Verbieten Preußens: Man muss dennoch sagen, dass das Übermaß an militärischer Präsenz in der Gesellschaft des zweiten Reiches auffällig blieb und bleibt.31 Bismarcks Attitüde, oft in Militäruniform aufzutreten, darf aber gerade nicht darüber hinwegtäuschen, dass er in entscheidenden Momenten seiner Politik das Militär und seine Führung in die Schranken wies, auch gegen deren Widerstand. Das Primat der Politik war eine zentrale Lehre der praktischen Politik Bismarcks.32 Aber wiederum: nur seiner Politik! Das, wenn auch europäisch gesehen zeittypische, gesellschaftliche Ansehen alles Militärischen hat nicht zur Weiterentwicklung Deutschlands in dieser Zeit beigetragen. Allerdings wäre die Stellung Deutschlands / Preußens ohne das erfolgreiche Militär in den dynastischen Kriegen und Konflikten kaum erreicht worden. Ein starkes Militär, aber unter strikter Kontrolle der Politik, davon kann unter Bismarck vielleicht noch die Rede sein, aber spätestens im beziehungsweise mit dem Ersten Weltkrieg nicht mehr.33 Namen wie die des Generalstabschefs Alfred Graf von Schlieffen oder des Admirals Alfred Tirpitz könnten zusammen mit Wilhelm II. eine ganze hall of shame Deutschlands bestücken.

      Es fällt auf – wir hatten dieses Unbehagen schon angesprochen –, dass sich Bismarck immer nur seinem Monarchen gegenüber rechenschaftsschuldig fühlte, hierin seine verfassungspolitische Integrität zu sehen schien, aber es damit versäumte, einer modernen parlamentarischen Basis die entsprechende Unterstützung auf Dauer zu geben, die ihm umgekehrt auch innerhalb der Monarchie beziehungsweise der Staatskonstruktion des Reiches eine entscheidende Machtabsicherung geliefert hätte. So blieb Bismarck dem Hohenzollern gegenüber einseitig abhängig, was während seiner langen Regierungszeit gut ging, aber mit der usurpatorischen, neoabsolutistischen Attitüde des letzten Throninhabers, Wilhelm II., scheiterte, der nun selbst das Heft in die Hand nehmen wollte.34 Der weiße Revolutionär (Henry Kissinger) war hier nicht revolutionär oder vorausschauend genug beziehungsweise: Es vertrug sich diese Rolle nicht mit seinem monarchischen Selbstverständnis. Die Loyalität des großen Staatsmannes Bismarck, der Europa lange Zeit durch seine grandiose Politik bestimmte, galt dem Kaiser. Diese Loyalität mag preußisch gesinnt gewesen sein,